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Mittwoch, 11. April 2018
Sich-selbst heraus-finden.
Es muß nun jeder sehen, wo er bleibt. Die gesellschaftlichen Institutionen entlasten ihn weiterhin – beim Gehen, aber nicht mehr von der Wahl seines Weges. Wohin er soll, muß jeder selbst herausfinden. Dabei ist die Lage, in der er steckt, unübersichtlicher denn je. Mit den ehrwürdigen Ordnungen sind auch die Orientierungsmarken geschwunden. Anything goes – woran soll man sich da noch halten? Was wichtig ist und was nebensächlich, ver- schwimmt in Gleich-Gültigkeit. Die Situation, in der sich einer befindet, mag ihm da leicht als ein Knoten vor- kommen, in den er so fest verstrickt ist, daß er sich nicht mehr von Andern unterscheiden kann.
Daß einer allein nicht mehr zurechtkommt, ist in einer solchen Welt kein Defizit mehr, sondern gehört selber zur Norm. Helfende Beratung ist eine reguläre Dienstleistung geworden, die jeder früher oder später mal in An- spruch nimmt – in diesem Lebensbereich oder in einem andern. Rechtsberatung, Steuerberatung, Schönheitsbe- ratung, Gesundheitsberatung, Anlageberatung – und Beratung in Fragen der privaten Lebensführung.
Damit ist der gesellschaftliche Platz der Sozialarbeit radikal neu definiert. Nicht mehr Fürsorge, Anleitung und Versorgung im defizitären Ausnahmefall; nicht Wiederanpassung an eine materiale Norm: So und so sollst du es machen. Sondern helfende Beratung als reguläre Dienstleistung, denn die Norm ist heute nur noch formal: daß sich jeder selbst zurechtfindet.
Die “schweren” Fälle unterscheiden sich in solcher Perspektive von den banalen nur noch graduell, nicht kate- gorial. Die Übergänge sind gleitend, klassifikatorische Rubriken verlieren ihren praktischen Sinn, denn jeder ‘Fall’ ist nunmehr singulär: Welches sein rechter Weg ist, kann keiner wissen als der Ratsuchende selbst. Er muß sich-selbst heraus-finden aus dem mehr oder minder festen Knoten, in dem er steckt. Wo er lang soll, kann kein Weg- weiser ihm zeigen, er muß finden, indem er geht. Auch das schönste Ziel frommt nicht einem Jeden. “Eines schickt sich nicht für alle, schaue jeder, wie er’s treibe. Schaue jeder, wo er bleibe – und wer steht, daß er nicht falle”: denn nicht jeder ist dem Weg gewachsen, der zu seinem Ziel führt.
Der helfende Berater hat vor allem einen Vorteil: Er steckt nicht selber in dem Knoten drin, sondern kann ihn von außen betrachten. Er hat Abstand und Übersicht. Seine Fachausbildung hat seinen Blick geschärft und er nimmt Möglichkeiten wahr, die dem Ratsuchenden verborgen sind wie der Wald von Bäumen. Er kann ihm Ausgänge zeigen und ihm Mut machen, daß er finden wird, wenn er sucht. Sich selbst herausfinden in dem Doppelsinn, daß er einen Ausweg sieht – und daß er unterwegs sich selbst antrifft als einen, der seinem Knoten zwar ‘angehört’, der aber auch herauskann: weil er will.
Diagnostische Begriffe, die dazu dienen, Populationen nach Fallmerkmalen zu sortieren, haben keinen prakti- schen Zweck mehr. Die Streitfrage, wie weit sie theoretisch gerechtfertigt sind, erledigt sich damit. Selbst in der Medizin ist ja der Begriff der Gesundheit (alias Normalität) nur negativ gefaßt als Abwesenheit von Krankheit: wenn die Funktionen der physischen Organisation ungestört verlaufen. Plausibel ist er auch dem Nichtfachmann, als Leben ohne Beschwerden. Im Bereich des psychischen Befindens fehlen solche Selbstverständlichkeiten. In der bürgerlichen Welt ist das Leben zu einer Aufgabe geworden; also beschwerlich seinem Wesen nach (nicht nur, aber immer auch). Worin die Aufgabe besteht – was er ’soll’ -, muß indessen jeder selbst herausfinden, siehe oben.
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