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Dienstag, 3. April 2018

Das Kinderhaus III: Feld-Arbeit.

Millet, Laboureur,
 
Feld-Arbeit

Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung wird nach § 27 KJHG durch die Tatsache begründet, daß „eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist“. Zu einer Ergründung von Ursachen („Ätiologie“) und zu einer diagnostischen Wertung (etwa: „gefährdet oder geschädigt“) ist nach Geist und Buchstab des neuen Gesetzes niemand mehr aufgerufen. Ist jene Tatsache einmal festgestellt, überprüft das Jugendamt im Hinblick auf eine mögliche Übernahme der Kosten, ob eine angebotene Hilfe „geeignet und notwendig“ ist.
 
 

Wenn ein Kind und seine Familie entschlossen sind, sich voneinander zu trennen, so ist in der Regel davon auszugehen, daß eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung zum gegebenen Zeitpunkt nicht (mehr) gewährleistet ist. Das Kinderhaus bietet Hilfe in grundsätzlich allen Fällen an, wo ein Kind aus dem einen oder andern Grunde nicht mehr im Haushalt seiner Eltern wohnen kann oder will und nicht wesentlich jünger als zehn, aber auch nicht älter als vierzehn Jahre ist. Diese pragmatische Indikation reicht als Aufnahmebedingung aus. Ob und welche zusätzlichen Hilfsangebote angezeigt sind, wird sich im Verlauf des Aufenthalts im Kinderhaus selbst erweisen.

Ob eine Unterbringung in einem fremden Haushalt notwendig wird (i. S. v. § 34 KJHG), hängt davon ab, „wie ernst“ es dem Kind und der Familie mit ihrem Trennungswunsch ist. Diese Frage ist jedoch nicht durch gutachtlichen Sachverstand zu entscheiden, sondern wiederum nur pragmatisch: durch Erprobung. Ausreißen und Verstoßung sind Gesten, die oft ihr Gegenteil bedeuten sollen. Darüber können sich die Beteiligten nicht durch Introspektion Gewißheit verschaffen, sondern indem sie zur Tat schreiten. Dann steht eine Trennung nicht am Schluß, sondern am Beginn eines Prozesses von helfender Beratung (und kann entsprechend kurz gehalten werden). Das Kinderhaus übernimmt so die Aufgaben eines Kindernotdienstes und leistet einen Beitrag zur Zivilisierung der ‚Ausreißerkultur’ (Stierlin).

Wenigstens vier von je zwanzig Zimmern sollen daher für kurzfristige und Notaufnahmen bereitstehen.

Die Frage, ob ein Hilfsangebot im gegebenen Fall „geeignet“ ist oder nicht, wird von den beteiligten helfenden Beratern je nach ihrer eigenen beruflichen Perspektive oft unterschiedlich beantwortet. ‚Objektive’ Antworten sind in diesem Bereich nicht möglich; man kann nur versuchen, bekannte Fehlerquellen auszuschließen. Die mittlerweile üblichen Fallkonferenzen dienen diesem Zweck.

Fallkonferenzen, bei denen nur Vertreter von helfenden und verwaltenden Institutionen das Wort haben, laufen Gefahr, deren eigene Interessen stärker zu gewichten, als dem je individuellen ‚Fall’ zuträglich ist. (Das gilt für das geldgebende Jugendamt ebenso wie für ein unterm Belegungsdruck ächzendes Kinderheim und eine überforderte Schule.) Es ist nötig, in den Entscheidungsfindungsprozeß frühzeitig Fachleute einzuführen, die am Ausgang jenes Prozesses kein eigenes berufliches Interesse haben, weil ihre Arbeitsstelle nicht einzelnen ‚Fällen’ und deren ‚Lösung’ zugeordnet ist, sondern, dem ‚ganzen Feld’.
 
 

Direkt beim Träger des Kinderhausverbundes werden darum Sozialarbeiter angestellt, deren Tätigkeit nicht auf die einzelnen Kinderhäuser, sondern auf die jeweiligen Wohnquartiere bezogen ist und in sich Merkmale des Streetworkers, des Familienhelfers und der klassischen Familienfürsorge mit denen eines Heimberaters vereinigt. Sie sollen im Vorfeld des Kinderhauses informellen Kontakt zu den möglichen Nutzern aufnehmen und das Kind und seine Familie mit den vorhandenen Hilfs-Ressourcen bekannt machen. Es obliegt dabei ihrem eigenen fachlichen Urteil, zu welcher Hilfsmöglichkeit sie den Nachfragern raten – und, wenn sie dafür Gründe sehen, von der einen oder andern Möglichkeit abzuraten. Ihre Aufgabe gegenüber den Einrichtungen der Sozialarbeit ist nicht die des Zuträgers, sondern die eines Vermittlers zwischen Nutzern und Anbietern; insofern beraten sie beide Seiten.

Hat sich ein Kind zum Einzug in das Kinderhaus entschlossen, haben die polyvalenten ‚Feldarbeiter’ die Aufnahme vorzubereiten, den ‚Fall’ gegenüber dem Jugendamt zu vertreten und während des ganzen Aufenthalts des Kindes im Kinderhaus für dessen regelmäßigen Verkehr mit seiner Familie zu sorgen und, wenn sie es als nötig erachten, weitergehende therapeutische Eingriffe (Systemberatung o.ä.) in die Wege zu leiten. (Wo Eingriffe in die ‚Tiefen’ der kindlichen Persönlichkeit angezeigt sind, ist es die Trennung von der Familie in der Regel nicht, und umgekehrt.) Sie handeln den Kontrakt zwischen Kinderhaus und Familie aus (z.B. die voraussichtliche Aufenthaltsdauer betreffend, Familienkonferenzen usw.) und wachen – als Vertragspartner – über dessen Einhaltung. Sie sorgen für turnusmäßige Fallkonferenzen und regen, wenn es soweit ist, die Rückkehr des Kindes nach Hause an und beraten die Familie nach ihrer Wiedervereinigung.

Im Rahmen des Verbundes wird es möglich sein, daß Feld-Arbeiter in die Kinderhäuser überwechseln.
 
 

Bewohnern des Kinderhauses, die mit fünfzehn, sechzehn Jahren der Kindergesellschaft entwachsen sind, soll der Übergang in selbständigere Wohnformen – WGs, betreutes Wohnen u.a. – ermöglicht werden, sofern sie aus dem einen oder andern Grund nicht in den Haushalt ihrer Familie zurückkehren können oder wollen. Diese ‚Nachbetreuung’ zählt zu den vornehmsten Aufgaben der Feldarbeiter. Sie haben die erforderlichen Nachfolgeeinrichtungen gegebenenfalls selber zu initiieren.

In dem Maße, wie das Kinderhaus als reguläre Dienstleistung ins Bewußtsein der Öffentlichkeit dringt, wird der Erstkontakt zwischen Kinderhaus und Nutzern teils im Kinderhaus selbst, teils durch die Feldarbeiter hergestellt. Während der Aufbauphase des Verbundes, solange erst ein oder zwei Kinderhäuser isoliert im Raum stehen, wird dieser Kontakt, wie in einem herkömmlichen Kinderheim, durch die Jugendämter vermittelt werden müssen. Das Kinderhaus wird die Arbeit mit den Familien, die Fallkonferenzen und weiterführende therapeutische Leistungen in dieser Phase aus eignen Mitteln veranstalten. Dabei ist es sich der Versuchung bewußt, in die eigne Tasche zu wirtschaften, und ist von Anbeginn bestrebt, jene Aufgabe an Professionelle abzutreten, deren berufliche Existenz von der Belegungsrate des Kinderhauses unabhängig ist.

Diaphora. Gesellschaft für neue Erziehung mbH (gemeinnützig) 
Geschäftsführer Jochen Ebmeier


 
NB: Aufgrund der voranstehenden Konzeption erteilte die Berliner Senatsjugendverwaltung im Mai 1994 die Betriebsgenehmigung für das Kinderhaus Little space in der Boxhagener Straße in Friedrichshain.Leider mußte es schon im Winter wieder schließen.
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Sollte Ihnen übrigens irgendwer einreden, es sei nicht vorhersehbar gewesen, dass Friedrichshain nur zwei, drei Jahre später Kreuzberg den Rang als Szeneviertel ablaufen würde  -  glauben Sie ihm kein Wort; ich habe es vorhergesehen.

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