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Mittwoch, 25. April 2018

Gestern Multikulti, heute identitär.

...Als Programmlosung war "Multikulti" eine Lüge, und zwar unabhängig von Stimmungen. Die europäische Zivilisation ist universalistisch, weil sie... abendländisch ist. Die normative Idee der Person - und, als ihre Rückansicht, die von einem geordneten öffentlichen Raum als dem Ort ihrer Anerkennung - ist der Grund der abendländischen Kultur. Es ist die Scheidung der Lebenswelt in einen öffentlichen und einen privaten Bereich, die bürgerliche Freiheit möglich macht - und damit die Pluralität der Lebensstile. Das setzt freilich voraus, daß im öffentlichen Raum die abendländische Prämisse gültig bleibt: der normative Rang der Person. Diese Prämis- se macht die westliche Kultur zwar einerseits universalistisch, aber unterscheidet sie andererseits von allen ande- ren. Sicher war sie immer wieder in Gefahr und muß verteidigt werden. Eben! Die Menschenrechte sind westli- che Kultur, und sie gelten entweder universell, und also in China, Chile oder Kurdistan, oder sie gelten gar nicht. Das heißt, neben ihnen kann nichts anderes gelten. Und wie im Großen, so im Kleinen. Der öffentliche Raum gehört allen zugleich, und nicht stückweise diesen oder jenen, und seien die Stücke noch so launig oder bunt.

Das Lügenwort von der multikulturellen Gesellschaft dient der Heuchelei. Das Problem in Deutschland sind gar nicht die Ausländer. Etwa Italiener, Spanier, Griechen? Oder Franzosen und Holländer? Man tut so, als handle es sich um Verfassungsfragen, die grundsätzlich und gesinnungshaft zu erörtern wären - um sich an konkreten Aufgaben vorbeizudrücken. Es geht um die Türken. Eine millionenköpfige nationale Minderheit, deren Einführung in die deutsche Kultur auch in der dritten Generation noch keine vorzeigbaren Fortschritte gemacht hat. " Multikulti " bedeutet nur: Man darf den Türken gar nicht zumuten, sich in die deutsche Kultur hinein zu begeben. (Daß das Schlagwort bei den meisten Repräsentanten der türkischen Gemeinden in Deutschland weniger populär ist als bei der rhetorischen Linken läßt aber hoffen.)

Richtig ist freilich dies: Für die Integration einer Minderheit in ein fremdes Wertgefüge wäre deren Selbstgewiß- heit sicher eine günstigere Voraussetzung als ihr Zweifel an der eigenen Identität. Mit ihrer Identität haben es die Türken allerdings schwerer als andere Völker. Eine türkische Nationalkultur gibt es eigentlich erst seit Kemal Pascha. Ihr Rahmen ist die zentralistische weltliche Republik, und ihr Gründungsakt war der Völker- mord an den Armeniern und die Vertreibung der griechischen Urbewohner von der ionischen Küste vor einem dreiviertel Jahrhundert. Der Versuch, diese dünne Basis historisch zu fundieren, führte entweder in die islami- stische oder in die rassistische, "panturanische" Richtung der Grauen Wölfe. In beiden Fällen rührte er an die Grundlage der modernen Türkei. Kein Wunder, daß Türken sich in fremder Umgebung unwohl fühlen. Und wenn dann noch die Kurden dazu kommen...

Auch sonst ist die türkische Volksgruppe in Deutschland ein Unikum. In keinem andern Land der Welt lebt eine nationale Minderheit, die mit ihrem Gastland historisch überhaupt nichts zu tun hat! Reden wir nicht von den Afrikanern in Amerika. Die Inder in Ostlondon und die Algerier in der Pariser Banlieue verbindet mit ihrem Gastland - im Bösen wie im Guten - eine gemeinsame koloniale Vergangenheit. Die kulturellen Eliten Indiens und Nordafrikas hatten in England und Frankreich studiert und fanden ihren Stolz darin, beide Kul- turen gegenüber der jeweils anderen Seite zu repräsentieren. Eine ähnlich vermittelnde Elite haben die deut- schen Türken noch nicht hervorgebracht. Nicht zuletzt wohl aus dem genannten Grund - aber umso nötiger wäre es.

Wer sagt den Kindern der dritten Generation, wie sie sich beneh- men sollen? Wie sie sich in der Türkei beneh- men müßten, wissen ihre Eltern auch nur aus Erzählungen; wie sie sich in Deutschland benehmen sollen, können sie ihnen überhaupt nicht sagen. Das müßten schon die Deutschen selber tun. Und das ist der sprin- gende Punkt. Die Deutschen, die, aller „geistig-moralischen Wende“ unerachtet, seit '68 den öffentlichen Ton angeben, können den Satz wie man sich in Deutschland benimmt ja gar nicht aussprechen, ohne zu stottern! Schon wenn sie "Deutschland" sagen sollen, müssen sie husten. Da konnte man im Sommer 1990 auf dem bröckeln- den Hausputz in Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzelberg die kecke Losung "Nie wieder Deutschland!" finden. Doch so anarchistisch radikal, wie es klang, war es nicht gemeint. Es sollte nur heißen: In unsern Nischen war's doch recht bequem. ...



Der Aufsatz, aus dem dieser Ausschnit stammt, erschien im Januar 1999 im Neuen Deutschland und hat mir damals giftige Schmähungen des gegenwärtigen Berliner Kultursenators eingetragen. Er ist heute akuter denn je und an entrüsteten Stimmen, die  nicht eine Silbe zu Klärung beitra- gen, wird es auch jetzt nicht fehlen. Doch immerhin: Den von mir vorhergesagten Wettstreit von Islamisten und Grauen Wölfen haben vorläufig die Islamisten gewonnen. Von eiinem Bemühen um Zugang zu unserer hiesigen Kultur kann man in der türkischen Minderheit indessen immer weniger verspüren. Früher stand Multikulti im Weg. Jetzt heißt es Indentität.

Vielleicht haben wir ja Glück und die von Erdogan aus dem Land gejagten freiheitlichen Intellek- tuellen machen Deutschland zu ihrer Basis und werden zu der historischen Brücke zwischen beiden Kulturen, die es noch immer nicht gibt.

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