Spreepiraten im Kinderring Berlin
Als über Nacht die DDR entward, fragte ich mich arglos, was wohl aus der Pionierorganisation werden würde. Fast jedes Kind, das wusste ich ja, hatte ihr angehört, ob freiwillig oder nicht. Und es gab hunderttausende Pionierleiter- (innen). Da musste doch auch eine Menge mit ehrenhaften Motiven und anständigen Absichten drunter gewesen sein, die nicht einfach aufhören wollten, nur weil der institutionelle Rahmen abhanden gekommen war; denn wenn sie wirklich gut waren, konnte ihnen das nur willkommen sein.
Ich schaute mich in Ostberlin um. Da war die Kindervereinigung der DDR entstanden. Das waren Funktionäre, die vom institutionellen Rahmen retten wollten, was zu retten war. Das war gottlob nichts, und so verschwand die KV DDR, ohne Spuren zu hinterlassen.
Und da gab es den Kinderring Berlin e. V., der eine "freie Bewegung" von Erwachsenen und Kindern "von unten" sein wollte - im Gegensatz zur Pionierorganisation von oben. Von ihnen lernte ich, dass ich mit meiner Vorstellun- gen von den Jungen Pionieren in der Ära Ulbricht steckengeblieben war. "Staatspfadfinder mit paramilitärischem Auftrag" hieß es in meiner Erinnerung.
Aber damit war es spätestens zu Honeckers Zeit vorbei! Die Pionierorganisation war lediglich das Tentakel, das Margot Honeckers Volksbildung ins außerschulische Leben der Kinder ausstreckte. Pionierleiter waren Lehrer, und zwar an jeder Schule die jüngsten und noch unvernetzten, die von den Etablierteren dazu verdonnert worden waren: Bildung von 'allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit' über die reguläre Dienstzeit hinaus. Und die waren froh, dass damit nun Schluss war.
Es war wirklich nur eine Handvoll, die "was Neues anfangen" wollten; vornehmlich Leute, die sich aus der FDJ kannten, wo sie als Gorbatschowisten in Ungnade gefallen waren. Was und wie - das war völlig offen: völlig.
Ich selber war ein westlicher Sozialpädagoge, der aber Erfahrung hatte in der bei uns so genannten freien Jugend- arbeit, nämlich bei der sozialistischen Jugend Die Falken, die aus den sozialdemokratischen Kinderfreunden der Weimarer Republik hervorgegangen waren. Bevor ich noch Zeit hatte, nach passenden Begriffen zu suchen, sprang mir schon ins Auge, dass Sozialpädagogik und Jugendbewegung zwei verschiedene Welten sind. In der Bundesrepublik waren alle Überbleibsel von Wandervogel, Bündischer Jugend & Co. abgewürgt worden vom Bundesjugendplan, der unter der Losung Professionalisierung den Verbänden "Planungssicherheit" verschaffte und als erstes in den Verwaltungen Vollzeitarbeitsplätze kreierte. Folgten die bislang freischwebenden Jugendleiter, aus denen dann die ersten Sozialarbeiter wurden. Es entstanden Fachhochschulen, und es gab Diplome. Das war das kümmerliche Ende der Deutschen Jugendbewgung.
Nach der Wende kam die Wiedervereinigung. Die öffentlichen Gelder standen auch für die neuen Länder zur Verfügung. Aber an wen sie geben?! An offenen Händen fehlte es nicht und allzu wählerisch waren die Jugend- behörden im Westen ja auch nicht. Doch in Ostberlin gab es den Kinderring Berlin, wo einige Erfahrung kumuliert war und wo vor allem mit doppelter Buchführung gearbeitet wurde. Da konnte man sogar nachschauen, wofür das Geld ausgegeben wurde!
Mein heißes Bemühen, ihm die Unschuld zu bewahren, wurde zwar geachtet, aber nicht belohnt. Denn nicht nur waren Lehrer Pionierleiter gewesen. Pionierleiter waren auch Lehrer. Nämlich bis zum dritten Schuljahr durfte man mit nix als einem Pionierleiterschein an der Grundschule unterrichten. Bis zur Wiedervereinigung, dann nicht mehr. Beim Kinderring konnte man unterkommen, mit Hilfe des ABM-Programms konnte man Projekte entwickeln, und es ist wahr: So unseriös wie anderswo üblich waren sie beim Kinderring nicht. Und das waren Leute, die man persönlich schon länger kannte und an deren persönlicher Integrität kann Zweifel war. "Nur dieses eine Mal noch!"
Natürlich hörte ich den Satz öfter... Die Geschäftsführerin fand sich plötzlich als Vorgesetzte von einem Dutzend Angestellten wieder. Das Bedürfnis nach einer verbindlichen programmatischen Grundlage ist in der Geschäftsstelle entstanden, die sich vor der Bürokratisierung am meisten fürchtete!
Der Entwurf der im Folgenden wiedergegebenen Plattform für den Kinderring Berlin e. V. fand viel Lob. Na ja, an drei, vier Stellen müsse man es vielleicht nicht so krass formulieren. Kleinigkeit: der Satz "wir wollen niemand erziehen" etwa. Und so zog sich das in die Länge wie ein Kaugummi. Schließlich beschloss eine Mitgliederver- sammlung, den Beschluss über den Text zu "vertagen".
Das war im März 1993. Ein Beschluss über die Plattform wurde bis heute nicht gefasst. Er hat sich einfach erübrigt.
Plattform für den Kinderring Berlin e. V.
Das Grundgesetz der modernen, der bürgerlichen Gesellschaft ist: die restlose Verwertung von Raum und Zeit. Alles muß sich lohnen. Immer weniger Orte gibt es, an denen nicht-wertschaffende – oder Geschaffenes verwer- tende – Lebensformen eine Statt finden.
Kindheit ist aber eine solche Lebensform.
Nicht die frühe Kindheit: Behüten kann man zum Beruf machen, in dem eine zunehmende Anzahl von Erwachsenen ihr Auskommen findet.
Auch nicht “fürs Leben lernen”: Die Schule ist eine der größten Dienstleistungsindustrien unserer Zeit.
Also überall da, wo Kindern gesagt wird, was gut und recht ist, wie wir miteinander umgehen sollen, was ihre wahren Bedürfnisse sind und was für sie das Beste ist – überall da läßt sich die Kindheit verwerten.
Und in der Freizeitindustrie auch.
Wo Kinder Erwachsenen nützen, da wird ihnen Platz gemacht – im Raum und in der Zeit. Oder richtiger: da wird ihnen ihr Platz angewiesen.
Flegeljahre
Doch alle Kinder kommen, heute wie vordem, einmal in das Alter, wo ihnen die angewiesenen Plätze zu eng, wo ihnen das Vertraute fad und wo ihnen das Gewisse öd und langweilig wird. Wo es ihnen nicht mehr reicht, zu lernen, was sie gelehrt werden, und wo sie erleben wollen, was fremd und aufregend ist; wo ihnen das Ungewisse und Unerhörte mehr bedeutet als die Annehmlichkeiten des Lebens und die Befriedigung wohlanständiger Bedürfnisse; wo sie der Unfug mehr begeistert als das Summen der Biene Maja. Und was verboten ist, das macht sie gerade scharf.
Das sind die Flegeljahre, die sich durch die erwerbsmäßigen Kinderkümmerer nicht “erfassen” und nicht verwerten lassen, und die darum als “Lücke-Alter” bemäkelt werden.
In
der wissenschaftlichen Literatur wird diese Altersstufe als ‚Pubertät’
bezeichnet, weil sich das seriöser anhört. Aber damit wird nur dem
Irrtum Vorschub geleistet, dabei handle es sich um eine rein hormonale Angelegen- heit.
In Wahrheit handelt es sich um eine große kulturelle Leistung, die die Kinder hier erbringen und die die Gesellschaft ihnen abverlangt, weil sie darauf angewiesen ist – wenn sie nicht verblöden will. Es ist nämlich das Alter, in dem sich Kinder jenen Vorrat an Tatendrang und Unternehmungsgeist zulegen, mit dem sie dann ein ganzes erwachsenes Leben auskommen müssen. Eine Zivilisation, die auf die Eigeninitiative, die Zivilcourage und die Einbildungskraft der Einzelnen baut, ist darauf angewiesen, Räume freizuhalten, in denen Lausbuben- geschichten stattfinden können. Es ist ein Kapitel praktischer Staatsbürgerkunde, weil sich die Kinder hier zum erstenmal eine politische Existenzform schaffen: Sie hören auf, in erster Linie für Erwachsene da zu sein. Sie sind jetzt nicht mehr Mamas Herzblatt und Papas Liebling, und sie legen auf die Achtung ihrer Freunde mehr Wert als auf das Lob des Lehrers. Sie hören auf, nur fremdbestimmte Schul- und Familienkinder zu sein, und beginnen, neben ihrem privaten, nun ein eigenes öffentliches Leben zu führen: das Leben in der Kindergesell- schaft.
Die Kindergesellschaft, das ist ein öffentlicher Raum, der sich unterhalb und im Schatten der offiziellen Gesellschaft gebildet hat und aus den allenthalben verpönten Banden, Cliquen und Horden besteht, in denen die Erwerbskinderkümmerer zu Recht ihren geschworenen Feind erkennen. Es ist eine Gesellschaft, in der – anders als später! – auch für Einzelgänger ein Platz ist: nämlich als die oftmals umworbenen fliegenden Boten zwischen den konstituierten Gruppen!
Es ist das eigene Interesse der Erwachsenen, jener Kindergesellschaft ihren Platz zu bewahren. Damit tun sie in erster Linie sich selbst einen Gefallen – weil sie die Gesellschaft lebendig erhält.
Die Bewahrung und Ausweitung der Räume, in denen die Kindergesellschaft sich entfalten kann, ist eine kulturpolitische Aufgabe, die der Kinderring Berlin e. V. zu der seinen gemacht hat.
Der Kinderring Berlin will niemanden erziehen. Das tun schon viele andere. Er will Kindern behilflich sein, die noch nicht verwerteten Räume unserer Welt für sich zu entdecken, sie auszukundschaften und sie, wandernd und umherstreunend, zu erfahren.
Wir wollen niemandem die Welt erklären (wie denn?); es reicht uns, jungen Menschen die Welt zu zeigen. Die Erwachsenen, die dabei mit ihnen gehen, werden ihnen, wie sich das für Ältere gehört, mit ihrem Rat zur Seite stehen, ihnen Mut machen und auch tröstend zureden, wenn sie mal doch nicht schaffen, was sie sich vorgenom- men hatten. Und wenn sie dabei auch mal vor einer Gefahr warnen, hat das mit Pädagogik gar nichts zu tun, sondern mit normalem menschlichen Anstand.
Wenn wir uns mit Kindern abgeben, so nicht, weil wir damit ein besonders gutes Werk zu tun glauben, sondern weil wir daran Freude haben. Leute, die einen Teil ihrer Freizeit mit Kinder zubringen, sind keine besseren Menschen als die andern. Sie sind lediglich noch nicht veraltet.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen