Das Kinderhaus II: Die Innenansicht
Als öffentliches Dienstleistungsangebot in einer pluralistischen Kultur kann das Kinderhaus nicht besondere Lebensent würfe als die ‚richtigen’ verbindlich machen wollen. Menschenbilder und Erziehungsziele gehören nicht zu seinem Pensum.
Erziehung ist, wo sie gelingt, eine Leistung der Heranwachsenden selbst, und besteht im wesentlichen darin, sich aus gegebenen Bedingungen selbst heraus zu finden. Berufsmäßige Pädagogik ist daher keine lineare Verkettung von Ursachen und Wirkungen, sondern lediglich die Gestaltung eines Bedingungsgefüges. „Erziehung meint hier nichts anderes als den alltäglichen Umgang.“ (Hans Hermann Groothoff) Das ‚pädagogische Verhältnis’ jedoch „im engeren und eigentlichen Sinn ereignet sich und ist möglich und nötig nur von Fall zu Fall“. Es ist kein Zustand, der sich herbeiführen läßt, sondern ein Glück, das sich manchmal einstellt, wenn günstige Bedingungen gegeben sind. Es ist personale Begegnung und darum nicht operationalisierbar. (Die Plethora des pädagogischen Personals zählt zu den einengenden Bedingungen.)
Wie
jeder Haushalt, ist das Kinderhaus sowohl Versorgungsbetrieb als auch
Stätte persönlichen Lebens. Es vereinigt unter seinem Dach eine
sachliche (Leistungs-) Dimension mit einer leidenschaftlichen
(Ausdrucks-) Dimension. Im Unterschied zu den weitgehend auf die
Beziehungsebene geschrumpften familialen Kleinsthaushalten unserer Tage
kann es aber, als großer Haushalt, beide Ebenen scheiden und gesondert
darstellen. Es begründet damit einen Spiel-Raum, in dem seine Bewohner
Nähe und Distanz jeweils neu ausbalancieren können. Es stellt insofern
einen grundsätzlich heilsamen Ort dar, denn es ermöglicht ein
Unterbrechen beginnender Chronizisierung und bietet die Chance zu einem
Neuanfang. Die Wirksamkeit weitergehender therapeutischer Eingriffe
beruht auf der Möglichkeit solch einstweiliger Abstandnahme von „den
Andern“, von der bisherigen Lebensgeschichte und von sich selbst.
Der
‚äußeren’ Aufgabe eines jeden, Nähe und Distanz ins Verhältnis zu
setzen, korrespondiert die ‚innere’ Aufgabe, die regressiven mit den
progressiven Persönlichkeitsanteilen abzustimmen, wenn anders ‚Spaltung’
und ‚Rückzug aus der Welt’ vermieden werden sollen. Diese Abstimmung
ist besonders durch die heftigen Progressions-Schübe der Pubertät
gefährdet; zumal in einem Erziehungssystem, das kindlichen Unfug als
pathologisches Symptom verfolgt.
Progression
geschieht als Weltbezug, Leistung und Verkehr. Regression bedeutet
Selbstbezug, ‚Ausdruck’ und Intimität. Der Raum der einen heißt
Gesellschaft, der der anderen Gemeinschaft. Als leistungsbezogener
großer Haushalt hat das Kinderhaus eine gesellschaftliche Dimension, die
allen erlaubt, miteinander verkehren zu können, ohne einander
nahetreten zu müssen. Als Stätte personalen Lebens bietet es Raum für
die Bildung von Gemeinschaften, in denen die, die sich nahestehen,
beieinander sein können.
Verordnete
Nähe ist pathogen. Das Kinderhaus gibt seinen Bewohnern keine
Gruppenstrukturen vor, in die sie sich fügen sollen. Kinder können die
Gemeinschaften, deren Intimität sie suchen, alleine und ohne das
Dazwischentreten eines erwachsenen Bezugsvirtuosen bilden. Ihre
spontanen Gruppenbildungen tragen wahlverwandtschaftlichen,
„bruderschaftlichen“ Charakter und sind, als personale Begegnung im
freien Spiel von Trennen und Verbinden, wesentlich informell; sie
überschneiden einander („Geflecht“, L. Krappmann) und lassen sich nicht
sondern und ‚verfassen’. Ein zuständiger Betreuer kann ihnen daher nicht
beigeordnet werden.
Das
Kinderhaus erkennt erstmals die erzieherische Bedeutung der
Kinderfreundschaften ausdrücklich an und macht sie zum Bestandteil
seiner inneren Verfassung.
Soll
Nähe gewählt werden können, muß zuerst Distanz möglich sein. Einem
jeden muß sein persönliches Rückzugsgebiet garantiert sein. Wie jedes
Kind ein „Recht auf sein Geheimnis“ hat (Janusz Korczak), so hat es ein
Recht auf Alleinsein. Jedes Kind hat ein Recht auf seine eigenen vier
Wände und auf die Tür, die es hinter sich zumachen kann.
Die Kinder werden im Kinderhaus in Einzelzimmern wohnen.
Soll Nähe gewählt werden können, muß eine Auswahl möglich sein. Es müssen genügend Menschen anwesend sein.
Soll
Nähe gewählt werden können, muß man die andern kennen. Es dürfen nicht
zu viele Menschen anwesend sein, weil sonst der Überblick verloren geht.
In jedem Kinderhaus soll Raum für etwa zwanzig Kinder sein.
Auch
unter den erwachsenen Haushaltsangehörigen sollen die Kinder diejenigen
auswählen können, deren Nähe sie wünschen; doch nicht nur unter jenen.
Die Öffnung des Kinderhauses für pädagogische Laien dient auch diesem
Ziel.
Im
Übrigen wird es im Kinderhaus keine Unterscheidung zwischen
pädagogischem und hauswirtschaftlichem Personal geben. Für ‚Beziehungen’
sind alle gleichermaßen zuständig.
Andere
‚Srukturen’ – Zeitpläne, Aufgabenverteilung, räumliche Gliederung – ,
als die sich aus den Erfordernissen des Haushaltes augenfällig von
selbst ergeben, hat der Alltag des Kinderhauses nicht nötig. Sein Rahmen
ist weit und fest, weil er einfach ist. Es bedarf daher keiner
erklügelten Hausordnung. Die Regeln des täglichen Verkehrs können sich
auf den ‚gesellschaftlichen’ Leistungsbereich beschränken und in
ständiger Übung „von selbst ergeben“.
Der
selbstregulierenden Dynamik freier Geselligkeit wird zuerst eine Chance
gegeben, damit normative Interventionen der erwachsenen Professionellen
im Grenzfall als Ausnahmen die Regel bestätigen können. Dabei ist es
notwendig, die private und die öffentliche Sphäre des Lebens im
Kinderhaus so voneinander zu scheiden, daß Verkehrsstörungen und
öffentliche Geltungsprobleme nicht die persönlichen Beziehungen
ergreifen, und daß persönliche Konflikte nicht zum öffentlichen Thema
werden müssen. Was öffentlich ist, wird nicht privatisiert, und was
privat ist, nicht veröffentlicht. Jeder soll jederzeit aus dem einen
Bereich in den andern ausweichen können. Die Informalisierung der
Gruppenstrukturen führt
in das Anstaltsleben eine Instanz „negativer Rückkoppelung“ (Norbert
Wiener) ein und erlaubt, daß ein Großteil der Alltagskonflikte ‚sich von
allein regeln’ können – ohne Eingriff einer überlegenen fachlichen
Intelligenz.
Nicht
dem Erreichen gesetzter Erziehungsziele und der ‚Arbeit am Kind’ gilt
das Hauptaugenmerk der professionellen Pädagogen im Kinderhaus, sondern
der Qualität des Zusammenlebens selbst. Letztere ist nicht die
Resultante von soundsoviel individuellen ‚Behandlungsplänen’, sondern
eine Realität sui generis. Als „Raumklima“ ist sie unmittelbarer
Ausdruck des Lebensgefühls seiner Bewohner. Es bildet die Zuversicht der
Kinder ab, daß sie sich-selbst herausfinden werden aus den Bedingungen,
die ihnen dort gegeben sind. Finden sie diese Zuversicht, dann wird es
ihnen auch gelingen. Die Bedingungen so anzuordnen, daß die Zuversicht
wachsen kann, ist die eigentliche Leistung des Pädagogen.
Dadurch
ändert sich, verglichen mit herkömmlichen Erziehungsanstalten, seine
Stellung im Alltag des Kinderhauses. Er ist hier nicht in erster Linie
Funktionär einer gefaßten pädagogischen Absicht, sondern unmittelbar:
Teilnehmer. Er unterscheidet sich von anderen durch seine persönlichen
Eigenschaften, von denen er jeweils ‚mehr’ oder ‚weniger’ hat als jene,
und daß er in allen Bereichen – auf der sachlichen Versorgungs-, wie auf
der persönlichen Beziehungsebene und im Austausch mit dem
gesellschaftlichen Umfeld – größere Verantwortung übernimmt als die
Kinder, verdankt sich dem biographischen Umstand, daß er erwachsen ist;
nicht aber einer besonderen professionellen Fertigkeit. Von den Kindern
unterscheidet er sich nur noch graduell, nicht mehr funktional.
Die spezifisch professionelle, weil absichtsvolle Seite seiner Tätigkeit (=„Arbeit“) findet nicht im alltäglichen Umgang statt; dieser ist vielmehr unmittelbar und persönlich. Sondern findet statt in den dienstlichen Sitzungen außerhalb des Alltags. Deren fachliche Aufgabe besteht nicht in der (positiven) Ausarbeitung pädagogischer Handlungsstrategien, sondern in der (kritischen) Reflexion auf die pädagogischen Haltungen einerseits, und in der – stets neuen – Einsicht in die Sozio- und Psychodynamik des geselligen Prozesses andererseits. Dort werden nicht praktische Anweisungen formuliert, sondern werden die Maßstäbe der Pragmatik prüfend gesichert. Die Dienstbesprechung ist ihrem Sinn nach Instanz der Selbstkontrolle. Sie ist nicht Teil des Alltags, sondern sein Spiegel.
Denn
der Auftrag des Pädagogen ist paradoxal. Er soll sein Erwerbsleben so
führen, ‚als ob’ es sein Privatleben sei. Zugleich soll er die
Trennbarkeit von Öffentlichem und Privatem garantieren, damit Nähe und
Distanz wählbar bleiben. Er soll über die Scheidung von ‚Objektebene’
und ‚Beziehungsebene’ wachen, aber sein ‚Objekt’ ist selber eine
‚Beziehung’. Sein Berufsalltag ist ein Drahtseilakt zwischen
Authentizität und Simulation und hat wesentlich artistischen Charakter.
Wie jeder Künstler bedarf er der fachmännischen Kritik; deren Forum ist
die Dienstbesprechung. Und darum soll er in der Regel nicht allein
‚Dienst tun’, sondern stets einen Mitartisten zur Seite haben, der ihm
bei seiner Darbietung zusieht.
Da
er von berufswegen ein Doppelleben führt, bedarf er selber helfender
Beratung. Die regelmäßige Präsenz externer Fachbeobachter – Psychiater,
Soziologen, Systemberater… – dient der Supervision, nicht der
Praxisanleitung. Was er ‚tun soll’, muß (und kann nur) der Pädagoge in
jedem Moment selber wissen. Dazu braucht er einen freien Kopf, und den
verschafft ihm allein regelmäßige ‚Reinigung’ durch Selbstreflexion –
außerhalb des Berufsalltags.
Maßstab
der Selbstreflexion ist, für die Einzelnen wie für die ‚Institution’,
vorliegende Konzeption sowie die „Kleine Erziehlehre“. Einmal jährlich
wird eine Gesamtbilanz gezogen. Der Leiter der Einrichtung verantwortet
die Gültigkeit vorliegender Konzeption nach innen und außen. Im Übrigen
schafft der Verbund eine dauerhafte, fachlich qualifizierte
Öffentlichkeit, die die Verbindlichkeit der Maßstäbe garantiert.
Die
im Kinderhaus angestellten Erwachsenen teilen und verantworten
gleichrangig das Leben der ihnen anvertrauten Kinder in allen seinen
Bereichen. Haushaltsführung, ‚Beziehungsarbeit’ und Austausch mit dem
Umfeld (Nachbarschaft, Schule, Behörden) sind dabei gleichermaßen
‚wichtig’ und gleichermaßen ‚pädagogisch’. (Sie teilen und verantworten
nicht allein. Doch das Wirken anderer Interventen im ‚Feld’ geht ein in
die Bedingungen ihres Handelns und verkürzt nicht ihre Verantwortung;
Verantwortung ist kein teilbarer Kuchen.)
In
der Haushaltsführung lassen sich zwei Aufgaben spezifizieren, die ein
besonderes handwerkliches Können verlangen: Die Gestaltung der
gemeinsamen Mahlzeiten und die Ausgestaltung des Wohnraums. Beide gehen
unmittelbar ein in die Qualität des Zusammenlebens. Küchenchef und
Hausmeister sind kein technisches Hilfspersonal, sondern zusätzlich qualifizierte Professionelle.
Auch
die angestellten Erwachsenen – und gerade sie – sollen den ihnen
zuträglichen Grad von Nähe und Distanz jeweils selbst wählen können; vor
allem zu ihren Kollegen. Aus berufshygienischen Gründen ist es daher im
allgemeinen nicht ratsam, daß die Angestellten ebenfalls, wie die
Kinder, im Kinderhaus wohnen; wenn es auch ‚eigentlich’ logisch
erschiene… Es muß genügen, wenn lediglich der Leiter dort seine Wohnung
nimmt.
Im
Rahmen des Verbundes wird es möglich sein, daß die pädagogischen
Mitarbeiter aus dem Kinderhaus in die Feld-Arbeit überwechseln.
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