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Montag, 2. April 2018

Das Kinderhaus II: Die Innenansicht

Das Kinderhaus II: Die Innenansicht
 
Als öffentliches Dienstleistungsangebot in einer pluralistischen Kultur kann das Kinderhaus nicht besondere Lebensent würfe als die ‚richtigen’ verbindlich machen wollen. Menschenbilder und Erziehungsziele gehören nicht zu seinem Pensum.
  
 

Erziehung ist, wo sie gelingt, eine Leistung der Heranwachsenden selbst, und besteht im wesentlichen darin, sich aus gegebenen Bedingungen selbst heraus zu finden. Berufsmäßige Pädagogik ist daher keine lineare Verkettung von Ursachen und Wirkungen, sondern lediglich die Gestaltung eines Bedingungsgefüges. „Erziehung meint hier nichts anderes als den alltäglichen Umgang.“ (Hans Hermann Groothoff) Das ‚pädagogische Verhältnis’ jedoch „im engeren und eigentlichen Sinn ereignet sich und ist möglich und nötig nur von Fall zu Fall“. Es ist kein Zustand, der sich herbeiführen läßt, sondern ein Glück, das sich manchmal einstellt, wenn günstige Bedingungen gegeben sind. Es ist personale Begegnung und darum nicht operationalisierbar. (Die Plethora des pädagogischen Personals zählt zu den einengenden Bedingungen.)

Wie jeder Haushalt, ist das Kinderhaus sowohl Versorgungsbetrieb als auch Stätte persönlichen Lebens. Es vereinigt unter seinem Dach eine sachliche (Leistungs-) Dimension mit einer leidenschaftlichen (Ausdrucks-) Dimension. Im Unterschied zu den weitgehend auf die Beziehungsebene geschrumpften familialen Kleinsthaushalten unserer Tage kann es aber, als großer Haushalt, beide Ebenen scheiden und gesondert darstellen. Es begründet damit einen Spiel-Raum, in dem seine Bewohner Nähe und Distanz jeweils neu ausbalancieren können. Es stellt insofern einen grundsätzlich heilsamen Ort dar, denn es ermöglicht ein Unterbrechen beginnender Chronizisierung und bietet die Chance zu einem Neuanfang. Die Wirksamkeit weitergehender therapeutischer Eingriffe beruht auf der Möglichkeit solch einstweiliger Abstandnahme von „den Andern“, von der bisherigen Lebensgeschichte und von sich selbst.

Der ‚äußeren’ Aufgabe eines jeden, Nähe und Distanz ins Verhältnis zu setzen, korrespondiert die ‚innere’ Aufgabe, die regressiven mit den progressiven Persönlichkeitsanteilen abzustimmen, wenn anders ‚Spaltung’ und ‚Rückzug aus der Welt’ vermieden werden sollen. Diese Abstimmung ist besonders durch die heftigen Progressions-Schübe der Pubertät gefährdet; zumal in einem Erziehungssystem, das kindlichen Unfug als pathologisches Symptom verfolgt.

Progression geschieht als Weltbezug, Leistung und Verkehr. Regression bedeutet Selbstbezug, ‚Ausdruck’ und Intimität. Der Raum der einen heißt Gesellschaft, der der anderen Gemeinschaft. Als leistungsbezogener großer Haushalt hat das Kinderhaus eine gesellschaftliche Dimension, die allen erlaubt, miteinander verkehren zu können, ohne einander nahetreten zu müssen. Als Stätte personalen Lebens bietet es Raum für die Bildung von Gemeinschaften, in denen die, die sich nahestehen, beieinander sein können.

Verordnete Nähe ist pathogen. Das Kinderhaus gibt seinen Bewohnern keine Gruppenstrukturen vor, in die sie sich fügen sollen. Kinder können die Gemeinschaften, deren Intimität sie suchen, alleine und ohne das Dazwischentreten eines erwachsenen Bezugsvirtuosen bilden. Ihre spontanen Gruppenbildungen tragen wahlverwandtschaftlichen, „bruderschaftlichen“ Charakter und sind, als personale Begegnung im freien Spiel von Trennen und Verbinden, wesentlich informell; sie überschneiden einander („Geflecht“, L. Krappmann) und lassen sich nicht sondern und ‚verfassen’. Ein zuständiger Betreuer kann ihnen daher nicht beigeordnet werden.

Das Kinderhaus erkennt erstmals die erzieherische Bedeutung der Kinderfreundschaften ausdrücklich an und macht sie zum Bestandteil seiner inneren Verfassung.

Soll Nähe gewählt werden können, muß zuerst Distanz möglich sein. Einem jeden muß sein persönliches Rückzugsgebiet garantiert sein. Wie jedes Kind ein „Recht auf sein Geheimnis“ hat (Janusz Korczak), so hat es ein Recht auf Alleinsein. Jedes Kind hat ein Recht auf seine eigenen vier Wände und auf die Tür, die es hinter sich zumachen kann.

Die Kinder werden im Kinderhaus in Einzelzimmern wohnen.

 

Soll Nähe gewählt werden können, muß eine Auswahl möglich sein. Es müssen genügend Menschen anwesend sein.

Soll Nähe gewählt werden können, muß man die andern kennen. Es dürfen nicht zu viele Menschen anwesend sein, weil sonst der Überblick verloren geht.

In jedem Kinderhaus soll Raum für etwa zwanzig Kinder sein.

Auch unter den erwachsenen Haushaltsangehörigen sollen die Kinder diejenigen auswählen können, deren Nähe sie wünschen; doch nicht nur unter jenen. Die Öffnung des Kinderhauses für pädagogische Laien dient auch diesem Ziel.

Im Übrigen wird es im Kinderhaus keine Unterscheidung zwischen pädagogischem und hauswirtschaftlichem Personal geben. Für ‚Beziehungen’ sind alle gleichermaßen zuständig.

Andere ‚Srukturen’ – Zeitpläne, Aufgabenverteilung, räumliche Gliederung – , als die sich aus den Erfordernissen des Haushaltes augenfällig von selbst ergeben, hat der Alltag des Kinderhauses nicht nötig. Sein Rahmen ist weit und fest, weil er einfach ist. Es bedarf daher keiner erklügelten Hausordnung. Die Regeln des täglichen Verkehrs können sich auf den ‚gesellschaftlichen’ Leistungsbereich beschränken und in ständiger Übung „von selbst ergeben“.

Der selbstregulierenden Dynamik freier Geselligkeit wird zuerst eine Chance gegeben, damit normative Interventionen der erwachsenen Professionellen im Grenzfall als Ausnahmen die Regel bestätigen können. Dabei ist es notwendig, die private und die öffentliche Sphäre des Lebens im Kinderhaus so voneinander zu scheiden, daß Verkehrsstörungen und öffentliche Geltungsprobleme nicht die persönlichen Beziehungen ergreifen, und daß persönliche Konflikte nicht zum öffentlichen Thema werden müssen. Was öffentlich ist, wird nicht privatisiert, und was privat ist, nicht veröffentlicht. Jeder soll jederzeit aus dem einen Bereich in den andern ausweichen können. Die Informalisierung der Gruppenstrukturen führt in das Anstaltsleben eine Instanz „negativer Rückkoppelung“ (Norbert Wiener) ein und erlaubt, daß ein Großteil der Alltagskonflikte ‚sich von allein regeln’ können – ohne Eingriff einer überlegenen fachlichen Intelligenz.

Nicht dem Erreichen gesetzter Erziehungsziele und der ‚Arbeit am Kind’ gilt das Hauptaugenmerk der professionellen Pädagogen im Kinderhaus, sondern der Qualität des Zusammenlebens selbst. Letztere ist nicht die Resultante von soundsoviel individuellen ‚Behandlungsplänen’, sondern eine Realität sui generis. Als „Raumklima“ ist sie unmittelbarer Ausdruck des Lebensgefühls seiner Bewohner. Es bildet die Zuversicht der Kinder ab, daß sie sich-selbst herausfinden werden aus den Bedingungen, die ihnen dort gegeben sind. Finden sie diese Zuversicht, dann wird es ihnen auch gelingen. Die Bedingungen so anzuordnen, daß die Zuversicht wachsen kann, ist die eigentliche Leistung des Pädagogen.

Dadurch ändert sich, verglichen mit herkömmlichen Erziehungsanstalten, seine Stellung im Alltag des Kinderhauses. Er ist hier nicht in erster Linie Funktionär einer gefaßten pädagogischen Absicht, sondern unmittelbar: Teilnehmer. Er unterscheidet sich von anderen durch seine persönlichen Eigenschaften, von denen er jeweils ‚mehr’ oder ‚weniger’ hat als jene, und daß er in allen Bereichen – auf der sachlichen Versorgungs-, wie auf der persönlichen Beziehungsebene und im Austausch mit dem gesellschaftlichen Umfeld – größere Verantwortung übernimmt als die Kinder, verdankt sich dem biographischen Umstand, daß er erwachsen ist; nicht aber einer besonderen professionellen Fertigkeit. Von den Kindern unterscheidet er sich nur noch graduell, nicht mehr funktional.




Die spezifisch professionelle, weil absichtsvolle Seite seiner Tätigkeit (=„Arbeit“) findet nicht im alltäglichen Umgang statt; dieser ist vielmehr unmittelbar und persönlich. Sondern findet statt in den dienstlichen Sitzungen außerhalb des Alltags. Deren fachliche Aufgabe besteht nicht in der (positiven) Ausarbeitung pädagogischer Handlungsstrategien, sondern in der (kritischen) Reflexion auf die pädagogischen Haltungen einerseits, und in der – stets neuen – Einsicht in die Sozio- und Psychodynamik des geselligen Prozesses andererseits. Dort werden nicht praktische Anweisungen formuliert, sondern werden die Maßstäbe der Pragmatik prüfend gesichert. Die Dienstbesprechung ist ihrem Sinn nach Instanz der Selbstkontrolle. Sie ist nicht Teil des Alltags, sondern sein Spiegel.

Denn der Auftrag des Pädagogen ist paradoxal. Er soll sein Erwerbsleben so führen, ‚als ob’ es sein Privatleben sei. Zugleich soll er die Trennbarkeit von Öffentlichem und Privatem garantieren, damit Nähe und Distanz wählbar bleiben. Er soll über die Scheidung von ‚Objektebene’ und ‚Beziehungsebene’ wachen, aber sein ‚Objekt’ ist selber eine ‚Beziehung’. Sein Berufsalltag ist ein Drahtseilakt zwischen Authentizität und Simulation und hat wesentlich artistischen Charakter. Wie jeder Künstler bedarf er der fachmännischen Kritik; deren Forum ist die Dienstbesprechung. Und darum soll er in der Regel nicht allein ‚Dienst tun’, sondern stets einen Mitartisten zur Seite haben, der ihm bei seiner Darbietung zusieht.

Da er von berufswegen ein Doppelleben führt, bedarf er selber helfender Beratung. Die regelmäßige Präsenz externer Fachbeobachter – Psychiater, Soziologen, Systemberater… – dient der Supervision, nicht der Praxisanleitung. Was er ‚tun soll’, muß (und kann nur) der Pädagoge in jedem Moment selber wissen. Dazu braucht er einen freien Kopf, und den verschafft ihm allein regelmäßige ‚Reinigung’ durch Selbstreflexion – außerhalb des Berufsalltags.

Maßstab der Selbstreflexion ist, für die Einzelnen wie für die ‚Institution’, vorliegende Konzeption sowie die „Kleine Erziehlehre“. Einmal jährlich wird eine Gesamtbilanz gezogen. Der Leiter der Einrichtung verantwortet die Gültigkeit vorliegender Konzeption nach innen und außen. Im Übrigen schafft der Verbund eine dauerhafte, fachlich qualifizierte Öffentlichkeit, die die Verbindlichkeit der Maßstäbe garantiert.

 


Die im Kinderhaus angestellten Erwachsenen teilen und verantworten gleichrangig das Leben der ihnen anvertrauten Kinder in allen seinen Bereichen. Haushaltsführung, ‚Beziehungsarbeit’ und Austausch mit dem Umfeld (Nachbarschaft, Schule, Behörden) sind dabei gleichermaßen ‚wichtig’ und gleichermaßen ‚pädagogisch’. (Sie teilen und verantworten nicht allein. Doch das Wirken anderer Interventen im ‚Feld’ geht ein in die Bedingungen ihres Handelns und verkürzt nicht ihre Verantwortung; Verantwortung ist kein teilbarer Kuchen.)

In der Haushaltsführung lassen sich zwei Aufgaben spezifizieren, die ein besonderes handwerkliches Können verlangen: Die Gestaltung der gemeinsamen Mahlzeiten und die Ausgestaltung des Wohnraums. Beide gehen unmittelbar ein in die Qualität des Zusammenlebens. Küchenchef und Hausmeister sind kein technisches Hilfspersonal, sondern zusätzlich qualifizierte Professionelle.

Auch die angestellten Erwachsenen – und gerade sie – sollen den ihnen zuträglichen Grad von Nähe und Distanz jeweils selbst wählen können; vor allem zu ihren Kollegen. Aus berufshygienischen Gründen ist es daher im allgemeinen nicht ratsam, daß die Angestellten ebenfalls, wie die Kinder, im Kinderhaus wohnen; wenn es auch ‚eigentlich’ logisch erschiene… Es muß genügen, wenn lediglich der Leiter dort seine Wohnung nimmt.

Im Rahmen des Verbundes wird es möglich sein, daß die pädagogischen Mitarbeiter aus dem Kinderhaus in die Feld-Arbeit überwechseln.


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