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Einführung in die Sozialarbeit.

Ein Vortrag in sechs Teilen

 

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Während der Vorbereitungszeit für ihr Kinderhaus in Berlin-Friedrichshain hat die Diaphora. Gesellschaft für neue Erziehung in den Jahren 1993-94 ein ambitioniertes Berufsbildungsprogramm durchgeführt, um Pädagogen aus der früheren DDR an das bundesdeutsche System der Kinder- und Sozialhilfe heran zu führen. Zugleich diente es als ein sog. ‘Brückenkurs’, der sie auf die erforderlichen Zusatzprüfungen vorbereiten sollte. Im Folgenden ist der Einleitungsbeitrag wiedergegeben, der den gesamten Kursus eröffnet hat. 

Es handelt sich wohlbemerkt wirklich nur um eine Einführung: Es werden zwar alle Problemkreise der sozialen Arbeit in ihren Zusammenhängen angesprochen; aber deren Ausführung dürfen Sie erst auf den folgenden Seiten dieses Weblogs erwarten..

Zunächst darf ich den Veranstalter vorstellen: die Diaphora-Gesellschaft für neue Erziehung mbH wurde 1990 gegründet zum Zweck, einen neuen Typus von sozialer Gemeinschaftseinrichtung in die Welt zusetzen, die wir Kinderhaus getauft haben.

Wir fassen das ‚Kinderhaus’ auf als Exempel, einer neuen Auffassung von Sinn, Zweck und Methoden der Sozialarbeit. ‘Neu’ aber bitte nicht in dem Sinne zu verstehen, daß wir sie uns selber ausgedacht und erfunden hätten! Sondern neu in dem Sinne, daß wir beanspruchen, die tatsächlichen Entwicklungen der Sozialarbeit in den letzten Jahrzehnten – sowohl in praktischer als in gedanklicher Hinsicht – “auf den Punkt gebracht” und (dies allerdings erstmalig, wie wir meinen) zur systematischen Grundlage eines praktischen Vorhabens gemacht zu haben. 
 
Was qualifiziert mich dazu, eine Einführung in diesen Fortbildungskurs – und damit in das Fach Sozialarbeit/Sozialpädagogik – zu geben?

Ich habe in dem Beruf fast genauso angefangen wie Sie jetzt: 1972 als “reiner Praktiker“, fast Amateur, mit einem zufälligen (oder wahlverwandtschaftlichen?) Augenmerk auf das in der Berliner Jugendverwaltung so genannte ”Lücke”-Alter. 
 
Damals wurde es zwar noch nicht so genannt, es ist mir aber schon aufgefallen, dass da was Besonderes dran sein muss: die Kollegen haben immer irgendwie miteinander darum konkurriert, wer bei den Kindern am meisten ins Gewicht fällt, aber mit mir konkurrierte kaum einer. Warum? Weil ich mich an einen “Typus” – und bald merkte ich: eine Altersgruppe hielt, mit der die meisten andern gar nicht so gern zu tun haben wollten: “die Großen” (sagten die einen); oder “sind ja noch Kinder” (sagten die andern)…

Ich habe schließlich, nach sechs Jahren Berufspraxis, ein ‚Externendiplom’ erworben – eine Extremvariante von “berufsbegleitend”. Ich bin also in meinem Fach ein reiner Praktiker.

Gegenüber “der Theorie” habe ich immer viele Vorbehalte gehabt (habe sie immer noch, aber nicht mehr ganz aus denselben Gründen). Damals bestand der Vorbehalt aus einer eigentümlichen Mischung aus Geringschätzung und Scheu:

Geringschätzung, weil ich den Eindruck hatte: viele pompöse Wörter werden mit wichtiger Miene vorgetragen, aber offenbar von dürftigem begrifflichen Gehalt, denn ihre Verwendung schien mir teils willkürlich, teils unsicher. 

Scheu insofern, als ich oft das Gefühl hatte, als einer vom Fach müsste ich eigentlich wissen, was jeweils damit gemeint ist. Es kam mir aber vor wie ein unsauberes Kuddelmuddel, und ich wusste oft ganz und gar nicht, wovon die Rede war.

Wenn man aber dann doch mal nachbohrte, kamen hinter den aufgeblasenen Vokabeln oft unerhörte Banalitäten zum Vorschein, so dass ich mir sagte: Die haben gar keine Theorie, die tun nur so, um sich neben den andern Fächern nicht schämen zu müssen. ‚In Wahrheit liegt in der Sozialarbeit alles flach auf der Hand: Worin die Aufgaben bestehen, “zeigt sich” unmittelbar und anschaulich; da ist alles aktuell und konkret, zu begrifflichen Verallgemeinerungen und abstrahierender Reflexion taugt das alles gar nicht, dafür ist es viel zu dünn.’

Außerdem hatte ich gar nicht den bescheidenen Ehrgeiz, mich als “Sozialarbeiter” verstehen zu wollen. Ich wollte – für ein, zwei Jahre – “mit Kindern was machen”, das war alles. Und mir schien, daß die berufsstolzen Kollegen, die sich so viel auf ihre Professionalität zugute hielten, es im Grunde gar nicht anders hielten als ich: Im Berufsalltag lebten sie von der Hand in den Mund, nur an Sonn- und Feiertagen, d.h. bei Tagungen, Kongressen, Seminaren, prahlten sie voreinander mit griechischen, lateinischen oder auch bloß englischen Fremdwörtern – je nachdem, was in der jeweiligen Saison gerade letzter Schrei war.

Warum erzähle ich Ihnen das alles?

Weil ich mir vorstellen könnte, daß es dem einen oder der andern unter Ihnen mit der Sozialarbeit heute nicht viel anders geht.

Auch ich bin immer noch der Meinung, daß mein damaliger Eindruck gar nicht so falsch war.

Nur meine ich inzwischen, er reicht nicht aus, um die Frage zu entscheiden, wie weit man für die Praxis der Sozialarbeit eine… wissenschaftliche Ausbildung braucht! Denn es ist nicht so sehr die Frage, ob die Praxis der Sozialarbeit eine Theorie begründen kann, d. h. ob sie selber bedeutend und allgemein genug ist, um begriffliche Verallgemeinerungen tragen und ertragen zu können, und das womöglich noch mit wissenschaftlichem Anspruch.

Sondern das Problem ist vielmehr: Welche persönlichen Qualitäten braucht der Sozialarbeiter, um seinem Beruf auf die Dauer gewachsen zu bleiben?

Nach über zwanzig Jahren meine ich heute: Dazu gehört eine strenge Disziplin der Selbstreflexion. 

Die aber setzt Begriffe voraus.
 

II: Theorie?


Und darum stehe ich heute auch der oft unsäglichen Banalität der sozialarbeiterlichen  Begriffsbildungen ganz anders gegenüber: Was da (zu recht) als Banalität begegnet, sind nichts anderes als die vielen, vielen Selbstverständlichkeiten, die stillschweigend dem Tun und Lassen und Reden und Schweigen der Sozialarbeiter zugrundeliegen. Das ganze Terrain der Sozialarbeit ist mit solchen Selbstverständlichkeiten vermint, und es gibt nichts Gefährlicheres als das! 

Die großen Diskrepanzen zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, die gewaltigen Illusionen über Auftrag und Möglichkeiten der Sozialarbeit beruhen darauf. Fast immer reicht es aus, diese Selbstverständlichkeiten auszusprechen und beim Namen zu nennen, um zu erkennen: Sie sind alles andere als selbstverständlich, und beruhen ihrerseits auf einer ganzen Reihe anderer Voraussetzungen, und diese wiederum… usw., in infinitum. Die unausgesprochenen Voraussetzungen eines Satzes aufdecken und auf ihre Berechtigung befragen – das nennt man Kritik.

Unsere Auffassung ist: Der wissenschaftliche oder, wenn Sie so wollen, theoretische Teil der Sozialarbeit ist kritisch: Er hat den Sinn, den Sozialarbeiter in Acht zu nehmen gegen all die Selbstverständlichkeiten, die ihm von allen erdenklichen (und oft ganz unerwarteten) Seiten angedient und zugemutet werden.
 
 

Damit schließe ich die erste Vorbemerkung.

Doch schließe ich die zweite Vorbemerkung gleich an.

III: Die Problemlage


Denn dies ist die Stelle, wo angesprochen werden muß, was unsern Kurs nun unterscheiden wird von dem, was Sie bei andern Veranstaltern erwarten können. Zuerst einmal: Wir sind tendenziös! 

Offiziellere Anbieter werden Ihnen einen “ausgewogenen”, “neutralen” Bildungsplan vorlegen, wo “alle Meinungen Berücksichtigung finden”.

Es könnte also das Bedenken aufkommen, daß Sie bei uns “einseitig” informiert, d.h.: indoktriniert werden.

Was aber heißt ‘tendenziös’ im Bereich der Sozialarbeit?

Eine gute Frage, um gleich “zur Sache selbst” zu kommen!
 
Es ist nicht so, daß die ‘Tendenzen’ in der Sozialarbeit – wenn es auch von interessierter Seite gern so dargestellt wird – zu vergleichen wären mit ‘Tendenzen’ im weltanschaulichen oder parteipolitischen Sinn. Ich sage: Die sogenannten Tendenzen in der Sozialarbeit ergeben sich aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Betrachter – und die wiederum resultieren aus den ver- schiedenen Stand orten. Verschiedene Standorte bedeuten meist: verschiedene Interessen. Dass die sich wiederum gerne als der Unterschied zwischen Gut und Böse präsentieren, liegt in der Natur des Interesses; braucht uns aber den Kopf nicht zu verwirren.

Was für “verschiedene Standorte”?

Sozialarbeit mag dieses oder jenes sein, und darüber lässt sich viel streiten. Aber eines ist sie auf jeden Fall, und wird nicht bestritten:

Sie ist eine Leistung. 

Dann gibt es einen, der die Leistung empfängt, und einen, der sie erbringt.

Der Standort des Nutzers, der eine Leistung der Sozialarbeit in Anspruch nimmt, ist ein anderer als der des Sozialarbeiters. Ein dritter Standort wäre derjenige dessen, der… sie bezahlt. Das ist nämlich eine Eigentümlichkeit der  Sozialarbeit, die uns immer wieder begegnen wird: dass hier der Nutznießer einer Leistung nicht selber dafür zahlen muß. Als Dienstleistungsangebot tritt Sozialarbeit (auch) auf einen Markt; aber dieser Markt hat eine Besonderheit: Die “Nachfrageseite” zerfällt in einen, der die Leistung erhält, und einen andern, der (den Sozialarbeiter!) dafür bezahlt.  

Diesen dritten im Bunde nennen wir vorläufig mal: das Gemeinwesen. Aber das Gemeinwesen ist keine Person, die sich selber äußert. Es wird “vertreten”. Im Alltag “zerfällt” das reale Gemeinwesen seinerseits in zwei Parteien: die Öffentliche Meinung und die Behörde. Und diese beiden sind der Geldgeber – der eine mittelbar, der andere unmittelbar.

(Die Frage, wer eigentlich der Auftraggeber des Sozialarbeiters ist – der individuelle Nutzer oder das durchs Jugendamt vertretene Gemeinwesen -, ist ein Dauerbrenner; er wird Ihnen auf Ihrer beruflichen Laufbahn unterm Stichwort “das doppelte Mandat” immer wieder begegnen…)

Wir haben also mindestens vier legitime Standorte, von denen aus man auf die Sozialarbeit blicken kann: 

1) der Nutzer  
2) der Sozialarbeiter 
3) die Öffentliche Meinung 
4) die Behörde.

Und prompt schießt Ihnen und mir der Gedanke durch den Kopf:

Wem von diesen vieren dient die Sozialarbeit eigentlich?

Die “Tendenzen”, die sich in der Sozialarbeit bekämpfen mögen, resultieren letzten Endes aus den vielen verschiedenen möglichen Antworten auf diese Frage, und ihren vielen möglichen Kombinationen untereinander!

Es ist für eine sachliche Verständigung über Aufgaben und Methoden der Sozialarbeit förderlich, wenn wir uns darüber im Klaren sind: Jeder dieser vier Standpunkte hat seine Berechtigung. Wie sie aber zu gewichten sind, das hängt von der jeweiligen Verfassung der Gesellschaft ab, in der Sozialarbeit geleistet wird – und davon, wie sie sich selber sehen will: die Frage nach dem Bezugssystem, in das die Sozialarbeit einzuordnen ist. 

(an der Tafel:) 

Die Sozialarbeit dient…

1) der Gesellschaft, indem………………………….      2) den Individuen, indem sie

sie den Individuen dient (wie sie…………….......……. der Gesellschaft dient (wie

sind? wie sie sein sollten?!! ) …………………………  . sie ist? wie sie sein  sollte?!! ) 

Darauf achten: Wird als Ausgangspunkt die Frage gewählt: Was ist? 

Oder die Frage: Was soll sein?

Pragmatisch?

Doktrinal? 
 



(Schluß der Zweiten Vorbemerkung, allgemeine Diskussion)

IV/V: Methodik



Der Titel dieser Einleitungsübung war ursprünglich: “Von der Fürsorge zur Dienstleistung”, und erzählt werden sollte die Geschichte der Sozialarbeit; es sollte berichtet werden von ihrem sogenannten “Paradigmenwechsel”. Allerdings dachten wir dabei nicht an jemanden, der Ihnen einen akademischen Vortrag hält; denn dem hätten Sie glauben können oder auch nicht. Sondern wir wollten jemanden erzählen lassen – jemand, der persönlich glaubwürdig ist, weil er selber dabei war. – Davon gibt es allerdings nicht allzuviele, und es ist uns jedenfalls nicht gelungen, beizeiten einen von den drei oder vier für heute zu verpflichten.

[stelle statt dessen C. Wolfgang Müllers Buch vor : "Wie Helfen zum Beruf wurde", 
2 Bde., Beltz-Verlg. 1988ff]

Durch diese praktische Schwierigkeit sind wir auf ein systematisches, oder methodisches Problem aufmerksam geworden, das wir ansonsten vielleicht übersehen hätten: die “historische Methode” ist gar nicht so didaktisch, wie man immer glaubt! Sie ist anschaulich, aber unter Umständen gerade dadurch irreführend! Denn von der Geschichte einer Sache kann nur der berichten, der schon weiß, was das überhaupt für eine Sache ist. Also welche Geschichte er da erzählt. Wessen Geschichte… Die Besonderheit unseres Fachs ist es aber gerade, dass… höchst umstritten ist, wo es anfängt und wo es aufhört. Umstritten, worin es überhaupt besteht.
 
Die Einführung in einen Kurs wie diesen muss mit der Frage beginnen: Was ist Sozialarbeit überhaupt?

Und ich denke, wenn wir den Kurs gemeinsam zu einem Erfolg machen können, dann wird dieser Erfolg aus der Einsicht bestehen, daß die Antwort… in der Frage selbst liegt.

Was Sozialarbeit ist, wird dadurch definiert, dass sie betrieben wird.

Das klingt paradox, ist es aber nicht. Es ist nur eben so, daß Sozialarbeit eine schlechterdings praktische Disziplin ist. Das festzustellen, macht übrigens ein bisschen auch die “Tendenz” dieses unseres Kurses aus, und ist nicht ’selbstverständlich’. Die “Lehr”-Methode muß dem Charakter des Fachs entsprechen.

Wir wollen darum diesen Kurs vorrangig in Form eines gemeinsamen Gesprächs, in Form von Colloquien durchführen, in denen Begriffe aus der Konfrontation der Gesichtspunkte entstehen können, statt dass die Begriffe fix und fertig vom Dozenten mitgeteilt werden.
 
Das wird Ihnen bekannt vorkommen, denn das hört man heute überall. Es ist nämlich zunächst einmal nur ein didaktischer Kunstgriff. Die Erfahrung lehrt ja, daß im sog. “Frontalunterricht” die Aufmerksamkeit nie ganz gefesselt wird und immer wieder mal abschweift – und mitunter ganz zerstreut wird. Das Gespräch, in das alle Anwesenden abwechselnd einbezogen werden, hält einfach das Interesse länger wach. Es ist, kurz gesagt, ein Mittel gegen die Langeweile. In einem streng theo- retischen Fach – Mathemathik z. B. – wäre der kolloquiale Stil ein bloßer Trick des Lehrers.

Aber wir haben es ja mit Sozialarbeit zu tun, und die ist, wie gesagt, eine praktische Disziplin. Da kommt es gar nicht so sehr darauf an, positives Wissen anzuschatzen, als vielmehr darauf, Problemlagen zu erkennen und zu verstehen. Dazu sind selbstverständlich allgemeine Begriffe brauchbar: denn sie sind die Prüfsteine, an denen Sie eine konkrete Situation analysieren (”erken- nen”) und beurteilen (”ver- stehen”) können.

Doch das Analysieren und das Beurteilen werden Sie stets selber machen müssen, das nimmt Ihnen der Begriff ja nicht ab!

Was der Begriff taugt – wozu er tüchtig ist -, hängt immer davon ab, welchen Gebrauch Sie davon machen.

Es kommt in unserm Fach also nicht so sehr auf die theoretische (”objektive”) Wahrheit der Begriffe an, sondern auf ihre operationelle, “praktische” Brauchbarkeit. Die Begriffe sind in unserer Disziplin lediglich Werkzeuge, “Denk-Zeuge”, und als solche sollte man sie zweckmäßigerweise aus dem Gebrauch selbst entstehen lassen.  

Daher der methodische Grundsatz unseres Kurses: die Begriffe aus dem gesprächsweisen Gebrauch selbst hervorbringen.

Dabei ist es dann immer wieder nützlich, sich berichten zu lassen, wie und unter welchen Umständen die Begriffe, die es auch in der Sozialarbeit ja schon gibt, seinerzeit einmal entstanden sind: das ist der “historische” Teil des Kurses; oder sich berichten zu lassen, was Begriffe, die wir aus andern Fächern übernommen haben, in ihrem Herkunftsgebiet “eigentlich” bedeuten. Die Sternstunden unseres kritischen Ansatzes sind dann immer die, wenn es uns gelungen ist, wiedermal einer jener heimlichen Selbstverständlichkeiten auf die Schliche zu kommen, die unsern Beruf für das seelische Gleichgewicht so gefährlich machen…

Das wäre nach meinem Verständnis die Aufgabe der Dozenten. Die Teilnehmer, also Sie, sollten sich dabei aber bewußt sein, daß das nicht die leichtere, sondern die schwerere Aufgabe für einen Referenten ist! Zuhaus ein wasserdichtes Referat niederschreiben, unter Zuhilfenahme gedruckter Bücher, dazu braucht man schlimmstenfalls nichts als Fleiß. Ein Rundgespräch zu einem Ergebnis führen, das ist viel schwerer. Es geht überhaupt nur, wenn der Dozent sich auf die aktive Teilnahme der Hörer verlassen kann.

Das war meine dritte Vorbemerkung.


V. Übung


Und hier soll nun – nicht gleich eine Diskussion, sondern erst einmal eine Übung anschließen, nämlich eine Übung in – der Kritik!

Aber nicht so, daß der eine den andern kritisiert, sondern so, dass wir uns mal ansehen, wie die Wörter so gebraucht werden – und ihren Gebrauch dann vergleichen und abwägen.

Ich sagte eingangs, mich hätte von Anfang an gegen die “theoretische” Seite der Sozialarbeit der undeutliche und willkürliche Wortgebrauch eingenommen. Es sollte mich wundern, wenn es der einen oder dem andern unter Ihnen nicht ebenso ginge.

Denken Sie nur mal an den Gebrauch der Ausdrücke “Sozialarbeit” und “Sozialpädagogik”:

Bedeuten beide dasselbe – mehr oder weniger?
- sind sie gleich=gültig?
- ist der einige richtig (”passend”), der andere falsch (”unpassend”)?
- ist der eine “hauptsächlich” (Oberbegriff ), der andere “nebensächlich” ( Unterbegriff ) ?
Diejenigen unter Ihnen, die es wurmt, dass sie den wahren Sinn dieser Wörter “immer noch nicht begriffen haben”, kann ich trösten: Das liegt daran, dass er tatsächlich umstritten ist.

{ Übungen :
Verteilung von Frage A
10 Minuten zur Ausfüllung des Fragebogens.
Einsammeln, direkt anschließend: Verteilung von Frage B

5-10 Minuten zum Ausfüllen.
Auswertung von Frage A.; anschließend
Auswertung von Frage B
zusammen eine Dreiviertelstunde ?!
Anschließend mündlich:}
 
Frage: Welche Tätigkeiten/Einrichtungen der Sozialarbeit sind uns “historisch” bekannt?
bzw.: was von dem, was uns historisch bekannt ist, könnten wir aus heutiger Sicht als “Sozialarbeit” bezeichnen?
Sammeln an der Tafel…


homeless

VI. Von der Fürsorge zur Dienstleistung

1) Arme, Kranke, Invalide, Witwen und Waisen, die zu schwach sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten, hat es immer gegeben. Hat es darum “Soziale Arbeit” auch “schon immer gegeben”?
Reden wir hier nur von Mitteleuropa. Hier bestand im Mittelalter eine Agrargesellschaft, die sich teils aus Einzelhöfen, teils aus Dörfern mit wenigen Haushalten zusammensetzte. Ob nun die einzelnen Haushalte das Leiden der Elenden mit ansehen oder sich zu helfen berufen fühlen, liegt an ihrer Abhärtung (durch eignes oder fremdes Leiden). Man kann die Armen auch aus dem Dorf jagen: dann muss man weder helfen, noch das Leid mitansehen. Die Kirche gebietet Nächstenliebe, aber erzwingen kann sie sie nicht. 

Armenpflege als öffentliche Aufgabe ist ein städtisches Problem! Wo viele Menschen in einem Gemeinwesen zu- sammenleben, d. h. so, dass sie sich in der einen oder andern Hinsicht auf einander ange- wiesen fühlen. Die ersten Städtegründungen des Mittelalters beruhten auf eidgenössischen Grundlagen: Schutz und Trutz gegen die Feudalen, und so können sie diejenigen unter ihnen, die in Not geraten, nicht ignorieren. (Aber die Notleidenden aus der Fremde, die Ehrlosen, die keinem Stand angehören und bei ihnen Unterschlupf suchen, können sie aus der Stadt treiben.) In diesen Gemeinwesen lebt keiner wirklich privat. Wer dazugehört, gehört ipso facto zu einer bestimmten Korporation; für die “Witwen und Waisen” zu sorgen, ist Sache der ‚familia’ = oikos; und wenn die ausfällt, ist es Sache der Zünfte und Gilden. Es ist eine Ständegesellschaft.
 
Das 13. und 14. Jahrhundert erlebten dann eine explosionsartige Zunahme der elenden Fremden in den mittelalterlichen Städten. Sie korrespondiert mit dem Ende der „Landnahme“, der Inbesitznahme und Urbarmachung, aber auch der Feudalisierung der noch freien Böden. Mönchs- u. v. a. Nonnenorden siedeln sich in den Städten an (Beginen am Rhein, im Zusammenhang mit der deutschen mystischen Volksbewegung). Es entstehen Spitäler (Hôtel-Dieu: ‚Gottes Herberge’). Markantestes Phänomen der sozialen Umwälzung ist das Bettlerkönigreich in Paris, la cour des miracles, während des Hundertjährigen Krieges 1340-1450. Es folgt die Schwarze Pest in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts, soziale Unruhen in den Städten und Bauernaufstände. (Eine noch nicht recht erforschte Rolle spielte der Klima-Wechsel  in Mitteleuropa.)
  
2) Das Ergebnis ist die Auflösung der Ständegesellschaft und Bildung eines ‘Proletariats’ aus den Zerfallsprodukten aller Stände. Nament- lich die vom Boden vertriebenen Bauern (vgl. “ursprüngliche Akkumulation”), strömen, brotlos geworden, in die Städte. Es entsteht die Klassengesellschaft. Nicht, zu wem und wo zu ich gehöre, zählt nun, sondern nur: was ich zu tauschen habe. An die Stelle der Spitäler treten nun die Armenhäuser: durchaus nicht, um die Siechen und Elenden “mit dem Nötigsten zu versorgen”, sondern im Gegenteil, um die Armen vom Müßiggang abzuschrecken und zur Arbeit zu zwingen. Die wachsende der Armen wurde zur Bedrohung für den Bestand der übrigen Gesellschaft. Man musste das Elend eindämmen und unter Kontrolle bringen. 

3) Im zwanzigsten Jahrhundert, namentlich nach dem Ersten Weltkrieg, setzt sich in Europa (nicht in Amerika!) die Vorstellung durch, dass das Gemeinwesen selbst aufgerufen sei, die Bedingungen zu schaffen, daß “seine schwächsten Glieder” instandgesetzt werden, für sich selbst zu sorgen. Es ist die Idee des Sozialstaats, der wohlbemerkt nicht nur eine Frucht der Arbeit- erbewegung ist, sondern ebenso ein Erzeugnis bür- gerlicher Reform- bewegungen, wie des Wandervogels und der ganzen ‚Jugendbewegung’, Lebensreform, Volksgemeinschaft, Rassenhygiene…

4) War der alte, obrigkeitliche Klassenstaat nur-repressiv, kann der der Sozialstaat  seinerseits totalitär werden!

Wenn wir rückblickend alle Einrichtungen und Tätigkeiten überblicken, die man irgendwie als Armenhilfe oder Wohlfahrtspflege bezeichnen könnte, können wir vier Paradigmen unterscheiden:

1) Sorge – um den Nächsten (Versorgung, Fürsorge): Caritas.  

2) unschädlich machen (dressieren, isolieren, betäuben, ausmerzen): “Polizey” (Solange Polizei mit y geschrieben wurde, verstand man darunter nicht nur ein gewisses uniformiertes Beamtenkorps, sondern alle auf Ordnung und innere Sicherheit des Gemeinwesens gerichteten Strebungen und Maßnahmen…)

3) ‚Re’-Habilitierung, Befähigung zur Teilnahme (Pädagogik!! Anleiten, umlernen, verändern, verbessern, führen, “Defizite kompensieren”): Sozialarbeit. (Ich Schlage vor, von “Sozialarbeit” immer erst dort zu sprechen, wo der Gesichtspunkt der Re-Habilitierung im Vordergrund steht.)

4) Weltverbesserung (die Menschen verändern, damit die Welt sich ändert): Gesellschaftsreform, Erziehungsdiktatur…

(Es gibt, übergreifend über die vier Paradigmen, eine ‘transversale’ persönliche Haltung, die man Philanthropismus nennen kann: “Gutes tun!” Dahinter steckt der nicht uneitle Gestus ‚Ich als Wohltäter’, und das ist ein Dauerproblem der Helfenden Berufe: die Konkurrenz von Sachbezug und Selbstbezug! {Philanthropismus als polizeyliche Methode, evtl. wider Willen: Mary Richmond, vgl. Müller, Bd. II, S. 88!}

Alle diese vier Paradigmen haben eine Grundannahme – “Selbstverständlichkeit”! – gemeinsam: daß “das Gemein- wesen” eine moralische Realität ist, nämlich ein willensfähiges Subjekt, das Normen setzt. Denn nur so kann man das Leiden als mehr verstehen denn eben als Leiden: nämlich als Mangel, als Defizit, als Nicht-Genügen, als Versagen vor einer Norm – die folglich wiederhergestellt werden muss! Armenhilfe, Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit verstehen sich als ausnahmsweise Notmaßregel, um einen gebotenen, aber beschädigten Soll-Zustand zu restaurieren; um die verletzte Regel neu geltend zu machen. Gesetzt ist: eine gültige Ordnung, in die die Menschen zu fügen sind. (Notabene: Wer Sozialarbeit betreibt, ‘um die Welt zu verändern’, will eine andere Ordnung geltend machen: Die Menschen sollen sich heute in die Ordnung von morgen… fügen.)

Ich glaube, dass die (rückblickende) Identifizierung und damit die Unterscheidung der vier Paradigmen erst heute möglich geworden ist, weil sie alle vier – obsolet geworden sind.  

Differenzierung, Individualisierung, Pluralisierung, Informalisierung: so lauten die besonderen Merkmale der bürgerlichen Gesellschaft am Ende des Jahrtausends. Was die Regel ist und was die Ausnahme, wo die Ordnung aufhört und die Unordnung anfängt… ist nicht mehr sicher und versteht sich nicht mehr von selbst: “Eines schickt sich nicht für alle; schaue jeder, wie er’s treibe. Schaue jeder, wo er bleibe – und wer steht, dass er nicht falle.” (Goethe) – Jeder lebt ‘auf eigne Faust’: Die neomoderne, neobürgerliche Gesellschaft hat die Menschen zur Freiheit verurteilt.

Helfende Beratung wird heute zu einer regulären Dienstleistung: Das Leben ist unübersichtlich geworden, und wer den Rat eines Experten in Anspruch nimmt, definiert sich dadurch nicht als “defizitär”, sondern als einer, der alle vorhandenen Ressourcen zu nutzen weiß. Er ist heute der Normale, und nicht mehr ‘Klient’* oder ‘Randgruppe’. Zu einem besonderen Problem der Sozialarbeit werden nunmehr die, die gar nicht merken, dass sie Hilfe brauchen, oder nicht mehr hoffen, Hilfe zu finden. Sie muß die Sozialarbeit auf ihre “Angebote” aufmerksam machen, indem sie markante ‚Zeichen setzt’.  

Es handelt sich um eine säkulare soziale Entwicklung: weg von den gemeinschaftsförmigen Angehörigkeits- und Sozialisations-Strukturen (in die man “hinein”-wächst und an die  man “heran”-wächst) hin zu öffentlichen Vermittlungs-Agenturen (die einem sagen, wo’s lang geht, sofern man weiß, wo man hin will.) Es ist der Weg vom Ordnungsdienst zur Helfenden Beratung.

Und das ist die “Tendenz” von Diaphora!


Jochen Ebmeier, 5. Mai 1993

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*) lat. cliens heißt: ‚der Liegende’
 




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