Während der “Wende” war in der DDR eine einzigartige Lage entstanden. Zwar nicht tabula rasa. Aber immerhin schien eine Umwertung aller Werte angezeigt. Zeit, neue – oder gute, aber verges- sene alte – Ideen zu erproben. So entstand im Sommer 1990 der Kinderring Berlin e.V. als eine “freie Bewegung”, die Erwachsene und Kinder “von unten” zusamenbringen wollte. Mit der Auswei- tung der Tätigkeit wuchs der Wunsch nach einer verbindlichen gemeinsamen Grundlage. So ent- stand der Entwurf einer Plattform für den Kinderring Berlin. Zwar fand er mehrheitlich Zustimmung, aber einige hatten Bedenken. Und als sich die ersehnte Einmütigkeit nicht einstellen wollte, be- schloß man schließlich, die Sache zu “vertagen”.
Es wurde noch die unten wiedergegebene Stellungnahmen zu dem vom Berliner Senat vorgelegt Landesjugendplan abgeschickt. Doch bald darauf nahm alles wieder seinen gewohnten... Gang. Immer mehr verwaiste Pionierleiter*innen fanden Unterschlupf im Kinderring, und nur wenig später war er ein Freier Träger der Jugendhilfe geworden wie irgendein anderer.
Na ja, nicht ganz wie irgendein anderer. Der Kinderring fand eine gewisse Vorzugsbehandlung in der Senatsjugendverwaltung, das soll nicht verschwiegen werden, wegen seiner preußisch-kor- rekten Abrechnungen! Das hatten sie höheren Orts noch nie erlebt. Ob der Kinderring damit allerdings Schule gemacht hat, wage ich nicht zu fragen.
JE
Dem Unfug Raum geben
Memorandum zum Landesjugendplan für Berlin
Der Kinderring Berlin e.V. befürwortet eine gründliche Umorientierung der Kinder- und Jugendpolitik in Berlin und in Deutschland. Erforderlich ist ein radikaler Perspektivenwechsel.
Es muss gebrochen werden
mit der Gewohnheit, Kindheit immer in erster Linie unterm Gesichtspunkt notwendiger Betreuung zu sehen – so als ob Kinder besonders zerbrechlich und dem Leben besonders schutzlos ausgeliefert wären. Diese Einstellung entspricht nicht den Bedürfnissen der Kinder, sondern denen der Pädagogen.
Es muss gebrochen werden
mit der Gewohnheit, Kinder immer unterm Gesichtspunkt notweniger Erziehung zu sehen – so als ob Kindheit nur eine unvollständige, mangelhafte und verkehrte Version des Erwachsenseins wäre, die man gar nicht schnell genug „überwinden“ kann. Diese Einstellung entspricht weder den Interessen der Kinder noch denen der Erwachsenen, die sie einmal sein werden; sondern wieder nur denen der Pädagogen.
Es muss gebrochen werden
mit der Gewohnheit, ‚Sozialisation’ immer so aufzufassen, als bedürfte sie besonderer (professioneller) Sozialisationstechniker, und als hätte Kinder nicht ihre eigenen Wege und ihren eigenen Wunsch, sich mit einander zu vergesellschaften. Diese Einstellung hat dazu geführt, dass die erwerbsmäßigen Pädagogen Jahrzehnte lang die eigenen Sozialisationsformen der Kinder nicht nur ignoriert und missachtet, sondern die real immer wieder neu erwachsene Kindergesellschaft überall dort, wo sie sich behaupten konnte, für sich ausgeschlachtet oder bekämpft haben.
mit der Gewohnheit, ‚Sozialisation’ immer so aufzufassen, als bedürfte sie besonderer (professioneller) Sozialisationstechniker, und als hätte Kinder nicht ihre eigenen Wege und ihren eigenen Wunsch, sich mit einander zu vergesellschaften. Diese Einstellung hat dazu geführt, dass die erwerbsmäßigen Pädagogen Jahrzehnte lang die eigenen Sozialisationsformen der Kinder nicht nur ignoriert und missachtet, sondern die real immer wieder neu erwachsene Kindergesellschaft überall dort, wo sie sich behaupten konnte, für sich ausgeschlachtet oder bekämpft haben.
Wir meinen, dass
Kindheit ein eigener Lebensabschnitt ist mit eigener Würde und mit eigenem Verdienst, der sich vor den andern Lebensaltern nicht erst rechtfertigen muss, indem er sich ihnen als Verdienstquelle darbietet.
Kindheit
ist nicht ‚gefährdete Existenz’, die von den Fährnissen einer
schlechten Welt abgeschirmt und ferngehalten werden muss, sondern – als
erstes Kapitel im Lebensroman eines jeden – eine besonders lebendige
Existenz, die mitten hinein gehört in die Welt, um sie vorm Einschlafen
zu bewahren: Wir alle haben als Erwachsene unvergleichlich mehr von dem,
was wir als Kinder erlebt, als von dem, was wir als Kinder gelernt
haben.
Kindheit ist die Zeit,
wo sich ein jeder der Vorrat an Unternehmungsgeist, Tatendrang und Zivilcourage zulegen muss, von dem er dann ein ganzes erwachsenes Leben lang zehrt. Aufgabe der Politik in einem Gemeinwesen, das auf selbständige Staatsbürger angewiesen ist, muss es darum sein, die Räume zu verteidigen und auszuweiten, in denen die Kindergesellschaft sich entfalten kann. Es gilt Raum zu schaffen, wo öffentlich Unfug geschehen kann, nämlich solche Dinge, die sich in die in unserer Erwerbsgesellschaft gültige Logik von Nutzen und Verwertung nicht einfügen, weil sie – „noch“ – einer anderen Logik folgen: einer Logik, wo die Sachen um ihrer selbst willen da sind.
Diese Logik ist, wohl bemerkt,
nicht ‚richtiger’ als die der Erwachsenen; aber eben auch nicht
‚falscher’.
Das bedeutet sicher nicht, dass die inzwischen eingerichteten Kinder-Nischen
alle wieder dicht gemacht werden müssten; denn solange es gewiss nicht
all zu viele davon gibt, sind sie immer noch besser als gar nichts. Nur
muss auch hier die Perspektive eine radikal andere werden: nicht
geschützte Sozialisier-Werk- statt, sondern Treffpunkt und Drehscheibe;
Kristallisationspunkt der Kindergesellschaft und Sprungbrett in die
Welt. Es geht auch nicht darum, dass an den öffentlichen Plätzen dieser
Stadt weitere Kindermöbel aufgestellt werden. Es geht darum, dass Kinder
sich in der Einen Welt, in der es Kleinere und Größere schon immer
gegeben hat, wieder frei bewegen können, ohne sich allerorten
„begleiten“ lassen zu müssen. Es geht nicht darum, „die Kinder von der
Straße zu holen“, sondern im Gegenteil darum, die Straßen wieder so
einzurichten, dass dort für Alle Platz ist.
Denn wenn eines Tages
der Punkt erreicht wäre, dass Lausbubengeschichten nur noch in der Literatur vorkommen, dann wäre die Gesellschaft alt geworden. Wenn die Erwachsenen Sorge tragen, dass Verwerter und Betreuer ihren Kindern nicht noch den letzten Platz und den letzen Rest ihrer… Zeit wegnehmen, dann tun sie vor allen Dingen sich selbst einen Gefallen: weil sie sich damit gegen das Verblöden rüsten. Kurz und gut, Kinder- und Jugendpolitik ist Kulturpolitik, nicht Wohlfahrtspflege.
Insbesondere erwartet der Kinderring Berlin e.V. daher folgende Schwerpunkte in der Kinder- und Jugendpolitik des Senats von Berlin:
1) Verkehrsberuhigung (nicht Verkehrsverhinderung) in den Wohngebieten
2) Ausbau des öffentlichen Nah- und Regionalverkehrs
3) Freie Fahrt für Kinder bis dreizehn im ÖPNV und drastische Ermäßigungen im Regionalverkehr
4) Erhalt des schulfreien Nachmittags
5) Sicherung
wohlfeiler (wenn auch schlichter) Zeltlagerplätze in Berlin und der
Mark Brandenburg (Sichtung der Berliner Stadtgüter in diesem Sinn!)
6) Erhalt und Ausbau des Netzes von Jugendherbergen im Osten Deutschlands
7) Erhalt
des kostenlosen Zugangs zu den Berliner Museen bis dreizehn Jahre;
generelle Einführung besonderer Kindergruppentarife (ab drei Kinder) in
allen öffentlich geförderten Freizeit- und Bildungseinrichtungen
8) Steuerliche u. a. Anreize für Hausbesitzer in Altbaugebieten, die Hinterhöfe für den Durchgang zu öffnen
9) Öffnung der Laubenkolonien für die Öffentlichkeit
10) Förderung von Fahrraddepots und –ausleihen an den Endpunkten der S-Bahn
11) konsequente Sanierung aller Badeseen und Freibäder an den Flussufern
12) Öffnung aller See- und Flussufer für die Allgemeinheit, rigorose Entseilschaftung!
Generell
fordern wir von der Verwaltung eine Abkehr von der Jahrzehnte langen
falschen Priorität in der Kinder- und Jugendpolitik, wonach
Personalkosten „wichtig“ und Sachkosten „nachrangig“ sind. Auch hier ist
ein radikaler Perspektivenwechsel fällig. In allererster Linie muss es
darum gehen, jungen Menschen Sachliches verfügbar zu machen, damit sie
es sich aneignen. Erst in Hinblick darauf wird – u. U.! – Personal
erforderlich, das sie in die angemessenen Aneignungstechniken einweist.
Es soll nämlich niemand fachgerecht bedient werden, sondern junge Leute
sollen die Gelegenheit finden, ihre eigene Welt zu erweitern. Da ist es allemal wichtiger, dass die Sachen zur Hand sind, als dass ein Betreuer im Nacken sitzt.
Berlin, den 16. 2. 1992
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aus: Sozialmagazin 5/92 (Mai)
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aus: Sozialmagazin 5/92 (Mai)
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