Ihre Aufgaben werden dadurch unspezifischer. Der einzelne Sozialarbeiter muss nun, als Fachmann für Alles, ‚mehr können’ als die Spezialisten von gestern, denn er wird sich von Fall zu Fall umstellen müssen. Ebenso unspezifisch müssen die Institutionen der sozialen Arbeit werden. Sind die Maßstäbe für normal und unnormal einmal verloren, werden auch die Differentialdiagnosen über ‚Störungsart’ und ‚Abweichungsgrad’ hinfällig. Die Einrichtungen können sich nicht mehr selber typologisieren und klassifizieren, indem sie ihre Klientel nach ‚Merkmalen’ sortieren; sondern die Nutzer selbst definieren den Charakter des Angebots durch die Art und Weise, wie sie davon Gebrauch machen. Das heißt: Welches die ‚geeignete Behandlung’ ist, muss sich im Prozess helfender Beratung selbst erweisen können. Das reduziert die Fehlgriffe und ist vom menschlichen wie vom fiskalischen Standpunkt aus sparsamer.
Namentlich die Unterscheidung zwischen ‚weicher’ Jugendhilfe (Prävention, ‚Förderung’) und ‚harter’ Jugendhilfe (Intervention, ‚Hilfe zur Erziehung’) muss überwunden werden durch allgemeine, d.h. umfassende Angebote, die grundsätzlich allen möglichen Nutzern und Bedarfslagen offen stehen. ‚Hohe Schwellen’, die das Eingeständnis eigner Schadhaftigkeit zur Bedingung für die Gewährung von Hilfe machen, schrecken ab und müssen zur (je zu begründenden) Ausnahme werden: Hilfe ist umso wirksamer, je zeitiger sie in Anspruch genommen wird. Aus haushälterischer Sicht müssen niedrige Schwellen und kurze Wege zur Regel der neuen Sozialarbeit werden.
Wer helfende Beratung in Anspruch nimmt, definiert sich nicht ipso facto als defizitär. Das moderne Leben hat bis in die privatesten Winkel seine Selbstverständlichkeit verloren und fordert immer wieder scharfe Wendungen. Krisen sind nicht Symptome von Devianz, sondern Bestandteil des Normalen. Nicht der Ratsuchende ist proble- matisch, sondern der, der keine Hilfe mehr zu finden hofft. Ihm muss die soziale Arbeit sich anbieten, indem sie im sozialen Feld Zeichen setzt.[2]
Mit andern Worten, Sozialarbeit ist nunmehr in erster Linie präventiv. Denn sie zielt nicht mehr zuerst nach den Defiziten im einzelnen ‚Fall’, um sie durch ihre Leistungen zu kompensieren, sondern sie sucht im sozialen Raum nach den dort – noch?! – vorhandenen Ressourcen, um sie zu aktivieren und zu stabilisieren. Denn nicht die Kraft und Bereitschaft der Menschen, sich selbst und einander zu helfen, sind durch Individualisierung-Differen- zierung-Pluralisierung verloren gegangen; sondern die Auflösung der traditionellen Bindungen familialer, kom- munitärer und konfessioneller Art haben die Individuen vereinzelt, so dass sie in der Neuen Unübersichtlichkeit des Alltagslebens die verstreut da- und brachliegenden Hilfsquellen nicht mehr wahrnehmen. Die Sozialarbeit ersetzt nicht die traditionellen Bindungen durch ihre Maßnahmen, sondern sie erschließt Kräfte, die im Moder- nisierungsprozess nicht versiegt, sondern lediglich verwaist sind. Sie ist präventiv, indem sie das soziale Feld stabilisiert und auf seine Stärken baut – und nicht erst ‚interveniert’, wenn Einzelne auffällig wurden, und ihre Schwächen bedient. Ihre Leitideen heißen nicht länger Defizit und Leistung, sondern Ressource und Vermittlung.
„Vom Fall zum Feld: Der moderne Sozialarbeiter ist zuerst Vermittler von ‚Beziehungen’, also Unterstützungs- und Dialogmanager. Soziale Arbeit zielt zuerst auf die Ressourcen im Feld (Netzwerke), danach vermittelt sie im gegebenen Fall die Individuen mit den dort vorhandenen Helfern, und erst in dritter Instanz bemüht sie professionelle Hilfe (Experten) für den Einzelfall.“ (W. Hinte)[3]
Kompensatorische Intervention im je spezifischen Fall kalkuliert linear und punktuell und mit Ursachen und Wirkungen. Die moderne Sozialarbeit blickt systemisch und tastet sich durch Bedingungen und Wahrscheinlich- keiten. Der Kunst steht sie näher als dem Verwaltungsvorgang. Weil sie ihrem Wesen nach informell ist, lässt sie sich nicht formalisieren. So wenig man ihre Praxis in Formeln voraus berechnen kann, so wenig lassen sich ihre Resultate messen und quantifizieren. Aber weil sie aus öffentlichen Mitteln bezahlt wird, muss sie ihre Leistungen kontrollieren, d.h. bewerten lassen. Doch das kann nur qualitativ geschehen. Und weil sie nicht punktuell vorgeht, sind immer ganze Situationen zu beurteilen – im Quer- und Längsschnitt, und das braucht seine Zeit.
Vom Sozialarbeiter verlangt das… nein, nicht ein neues, aber ein geschärftes Profil. Mehr denn je ist Intuition eher am Platze als Kalkül, das Erfassen ganzer Gestalten eher als das geschickte Kombinieren einzelner Elemen- te. Je unspezifischer die Praxis des Sozialarbeiters wird, umso belastender wird für ihn das Fehlen objektivierbarer Maßstäbe. Und umso nötiger werden strenge Verfahrensregeln; nicht sowohl positive – etwa, um seiner Arbeit den Erfolg zu garantieren -, als vielmehr negative: als Mittel der Selbstkontrolle (wobei auch hier gelegentlich eine Ausnahme die Regeln bestätigen muss). Kurz gesagt, die neue Form der Sozialarbeit stellt höhere Forderungen an die Professionellen, nicht geringere. Aber sie sind unbestimmter, haben mit Kunst mehr zu tun als mit Tech- nik, und es ist nicht einmal sicher, ob es professionelle Eigenschaften sind, um die es geht, oder um persönli- che.[4]
Wenn dies alles für die Sozialarbeit im Allgemeinen gilt, gibt es keinen Grund, weshalb es nicht mehr gelten sollte, sobald sie es mit Kindern zu tun bekommt. Dennoch wird stillschweigend vorausgesetzt, dass der Aus- gangspunkt der Sozialpädagogik nicht die ‚Situation’ der Kinder ist, sondern weiterhin die ‚Maßnahme’ des Professionellen.
[2] s. J. Ebmeier, „Vom Ordnungsdienst zur Vermittlungsagentur“ in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 4/1994
[3] Wolfgang Hinte in Gutachterliche Stellungnahme zum Kinderhaus in Berlin-Friedrichshain (unver-öffentlicht; 1992)
[4] s. J. Ebmeier, „Ein gewagtes Unternehmen“ in: Soziale Arbeit, 12/1993
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