Familienhelfer in der Zwickmühle
Der folgende Text verbindet das ‚Profil‘ auf meinem Pädagogik-Blog mit dieser Seite – thematisch und biographisch; und zwischen beiden besteht in meiner pädagogischen Berufsarbeit auch ein pragmatischer Zusammenhang. In Le Petit Sénart hatte ich mich ja nur mit der ‚Objektebene’ der pädagogischen Tätigkeit zu befassen – und evtl. mit deren institutionellen Komplikationen als ihrer Randbedingung. Doch als ich von 1984 bis 1989 in Berlin-W als sogenannter Familienhelfer tätig war, der gewissermaßen als Freischärler zwischen allen Stühlen sitzt, hat sich mir die ‚Meta-Ebe- ne’ unmittelbar aufgedrängt, als ein unfaßliches Gestrüpp.
Das Kernproblem von Pädagogik und Sozialarbeit liegt nicht in den Charakteren dieser oder jener Institution – die kommen nur nachträglich erschwerend hinzu -, sondern in ihrer Verfaßtheit als öffentliches System. Erst wenn man diesen ‚höchsten Punkt’ der fachlichen Anschauung einmal erklommen hat, kann man auf sicheren Wegen den Wiederabstieg in die Niederungen des päd- agogischen Alltags ins Auge fassen. Der nachstehende Text kann zeigen, wie aber auch jener ‚höchste Punkt’ nicht durch soziologische Analyse in den Seminaren, sondern auf pragmatischem Weg an den Fährnissen ebendieses Alltags gewonnen wurde.
Niedergeschrieben wurde er im Mai 1990 für eine Politikerin in der (gerade) noch bestehenden DDR; sie hat aber nichts damit anfangen können.
Es war die erste einer langen Reihe zunehmend grundsätzlicher Auseinandersetzungen mit den Zwecken und den Voraussetzungen der Sozialen Arbeit, die auf dieser Seite dokumentiert werden.
Sozialarbeit – und namentlich Jugend-Sozialarbeit – hat längst aufgehört, ein karitativer Gnadenakt im Ausnah- mefall zu sein. Sie ist zu einer regulären Gemeinschaftsaufgabe geworden. (Der Grund dafür ist der – als „Zer- fall“ beklagte – Funktionsverlust der /klein-/bürgerlichen Familien-Zelle. Den mag man bedauern; aber die Politik hat von ihm, als von einem Faktum, auszugehen.)
Als Gemeinschaftsaufgabe muß die Sozialarbeit öffentlich verfasst sein, und zwar nicht nur zwecks Kontrolle der öffentlichen Gelder, sondern vor allem auch, um der feudalen Landnahme durch den machtbewußten Berufsstand der „Helfer“ einen Riegel vorzulegen – und das ist ein fachlicher Grund.
Aber damit gerät die Sozialarbeit in ein Dilemma: Als Sozialarbeit hat sie den Charakter von „helfender Beratung“; aber als öffentliche ist sie ein Hoheitsakt des politischen Souveräns. Anders gesagt: Was „eigentlich“ als ein Privatverhältnis gemeint ist – ‚zwi- schenmenschliche Interaktion’ -, erscheint andererseits immer (auch) als unpersönliches Verwaltungshandeln einer Behörde. Die öffentliche Sozialarbeit erscheint darum immer (auch) als Bevormundung.
Das war so lange kein Problem, als die Sozialarbeit sich selber fürsorglich und vormundschaftlich aufgefaßt hat: als eine Art psychosoziale Gesundheitspolizei. So lange konnte sie sich nahtlos der Hoheit eines vormundschaft- lichen Staates einfügen. Aber seit sie aufgehört hat, bloß vereinzelte „Intervention“ im je individuellen Sonderfall zu sein, und vielmehr allgemeines und öffentliches Institut geworden ist, muß sie sich in ganz anderer Weise die Frage nach ihrer Effektivität stellen – und stellen lassen. Sie musste erkennen, dass eine vormundschaftliche „Be- treuung“ das Problem nicht löst, sondern nur verschiebt – in der Zeit: Die „Fürsorge“ schafft Anpassung zum Preis neuer Abhängigkeit, und wird so selber Ursache von Lebensuntüchtigkeit. Es ist eine Schraube ohne Ende und, vom Standpunkt der öffentlichen Finanzen, ein Faß ohne Boden.
Die Sozialarbeit mußte sich als aus fachlichen Gründen, wohl oder übel, dem (psychotherapeutischen) Modell „nicht-direktiver, klientenzentrierter“ Lebens-Beratung anbequemen: mit dem Ziel, den Klienten zu befähigen, seine Lebensprobleme selbst zu meistern, statt sie stellvertretend für ihn zu „regeln“.
Beziehungsfalle
Das brachte aber die öffentliche Sozialarbeit in eine Klemme – weil nämlich die „helfende“ und die „Hoheits“- Funktion vermengt erscheinen. Was immer der Sozialarbeiter „helfend“ gemeint haben mag – es wird immer (auch) „hoheitlich“ verstanden. In der Sprache der Kommunikations- wissenschaftler: Was immer auf der helfenden Objekt-Ebene ausgesprochen wird, wird auf einer hoheitliche Meta-Ebene dementiert – oder jedenfalls in Zweifel gezogen.
Das heißt natürlich noch nicht, daß nicht im einzelnen Fall dennoch eine effektive „helfende“ Beziehung ent- stehen kann; aber es wird wenig wahrscheinlich: Es heißt, daß auf lange Sicht und im statistischen Durchschnitt ein solches System staatlicher Sozialarbeit ineffektiv werden muß.
Die Lösung des Dilemmas kann nur in einer Entmischungvon „helfender“ Auf gabe und Hoheitsfunktion ge- funden werden. Die Auf- gabe lautet: ein System erfinden, in welchem einerseits die Sozialarbeit aus der Hierar- chie der öffentlichen Verwaltung ausgegliedert, aber zugleich die öffentliche Kontrolle der Sozialarbeiter gewährleistet ist.
Die Einführung der „Familienhelfer“ als Freie Mitarbeiter der Famili- enfürsorge in West-Berlin vor rund zehn Jahren konnte als ein Schritt in die richtige Richtung erscheinen. Der Gerechtigkeit halber muß aber gesagt werden, dass sie so nicht gemeint war: „Gemeint“ war eine schmalspurige, empiristische, opportunistische Entlastung der Sozial- arbeiter(innen) bei der FaFü, die vor lauter Verwaltungskram keine Zeit mehr für ihre Hausbesuche fanden – unter der (haushälterischen) Maßgabe, „Fremdunterbringung möglichst zu vermeiden“. – Man hätte ja auch, andersrum, auf die Idee kommen können, die Sozialarbeiter(innen) vielmehr von ihren hoheitlichen Aktenberge zu entlasten, sie aus den Rathäusern raus- und – als Streetworker – in die Wohngebiete hineinzu- schicken. Aber da kenn’se die preußische Verwaltung schlecht! Probleme mag’s überall geben: bloß nicht beim Dienstrecht.
Das ist auch noch der heutige Stand.* Das Institut des Familienhelfers hat sich in einem Jahrzehnt nicht ent- wickelt.
Staatsamateure
Denn leider ist der Status der Familienhelfer ein ganz prekärer. Der Zwiespalt Helfer/Hoheitsträger, den er vornherum in abstracto überwunden hat, schleicht sich hintenrum in concreto immer wieder ein, und zwar in mannigfacher Verkleidung.
Der Strick, mit dem er an der staatlichen Hoheit baumelt, ist, wer hätte das gedacht, das liebe Geld: die Honorar- frage. Denn anders als ein richtiger Freiberufler – Anwälte, Ärzte – wird er nicht von seinen „Klienten“ selbst (oder deren Versicherung) bezahlt, sondern vom Vater Staat.
Da ist zunächst das Statusproblem. Vom Standpunkt der Verwaltung ist er eine Art Hiwi minderer Ordnung: das fünfte Rad am Staatswagen. Selbst von den Sozialarbeitern in der FaFü wird er oft nicht als professioneller Fach- mann, sondern als gelegentlicher Amateur angesehen, der nicht sonderlich ernst zu nehmen ist. (Mit dem unver- meidlichen Ergebnis, daß nach einer Weile der Anteil unernster Amateure an den Familienhelfern unnötig hoch ist.) Sobald er auf seinen professionellen Rang pocht, läuft er Gefahr, in einen Konflikt um die Hackordnung zu schliddern, den er nicht gewinnen kann. Er ist hier nämlich restlos auf den – guten oder schlechten – Charakter der Personen angewiesen, mit denen er zufällig zu tun hat; denn einen institutionellen Einfluß hat er nicht. Wenn er Glück hat, hat er Glück. Wenn nicht, dann hat er Pech gehabt, punctum.
Und das sind in der Tat nicht-professionelle Arbeitsbedingungen, die ein Fachmann auf die Dauer nicht hinneh- men kann. Der Familienhelfer steht wirklich auf der Kippe zwischen Profi und Amateur! Und das kann auf die Rekrutierung nicht ohne Einfluß bleiben. (Wiederum: Hier ist nicht von den Einzelnen die Rede, sondern vom Institut – und das ist nicht nach den „Fällen“ zu beurteilen, sondern nach Querschnitten und Längsschnitten.)
Wie man’s macht…
Mit seinem Klienten geht es dem Familienhelfer aber auch nicht besser. Für den erscheint er entweder als Topf- gucker des Jugendamts; oder als „jobbende“ Haushaltshilfe und Babysitter; oder, wenn er Glück hat, als netter Kerl. Jedenfalls nicht als ernstzunehmender Fachmann. Ohne die Autorität (Achtung und Vertrauen) des Fach- manns wird er aber ein Verhältnis „helfender Beratung“ kaum herstellen können.
Die Katze beißt sich in den Schwanz: Hat er „Autorität“, so ist es die des Hoheitsträgers – als Spion der Behör- de. Und dann ist es mit dem „Helfen“ Essig. Findet er aber die „menschliche Ebene“, dann hat er keine Autori- tät. Und mit dem „Helfen“ ist es auch Essig.
…isses verkehrt
Mancher Familienhelfer mag sich im Alltag damit durchschummeln, daß er in Gegenwart seiner „Klienten“ viel auf „die Verwaltung“ schimpft – um sich als Fachmann für Hilfe und Beratung ins rechte Licht zu rücken; die Versuchung ist groß. Aber damit betrügt er immer nur sich selbst, selten den Klienten: Je mehr er – gegen die Be- hörde – „für den Klienten Partei ergreift“, je mehr er sich zum Kumpel macht, um so weniger findet er seine… Achtung; und wieder Essig!
Die Stellung des „freien“ Familienhelfers zwischen Behörde und Klient ist immer eine Zwickmühle, und sein Auftritt ist immer ein Eiertanz. Nicht, daß nicht manche – vielleicht die meisten? – Westberliner Familienhelfer die Kunst des Eiertanzens recht virtuos beherrschten. Wie aber wird es um die Zukunft eines Instituts bestellt sein, wo das Eiertanzen zum Berufscharakter gehört? Am Ende kommt nur noch ein bestimmter Menschen- schlag für diese Tätigkeit in Frage: Amateure.
Artisten in der Zirkuskuppel
Ach ja, das liebe Geld. Daß es nicht gut sein kann für das „helfende“ Bemühen des Sozialarbeiters, wenn er an seinem „Fall“ ein finanzielles Interesse hat, klingt so trivial, daß man es kaum aussprechen mag. Aber bloß, weil eine Wahrheit trivial ist, hört sie nicht auf, wahr zu sein. Daß es das Honorar ist, das dafür die Verantwortung trägt, wenn so manche Psychotherapie – vor allem die psychoanalytische – schier endlos dauert, ist allgemein bekannt; nämlich in Amerika, wo es private Versicherungen sind, die die Honorare auszahlen müssen. Und die haben mittlerweile zahlungskräftig dafür gesorgt, dass es ein breites „Angebot“ von Blitz-Therapien (brief thera- pies) gibt.
Sollte bei der „freien“ Sozialarbeit alles anders sein? Es ist anders: Weil ein anonymer Apparat das Geld der Steuerzahler ausgibt; und weil die „Erfolgs“-Maßstäbe in der Sozialarbeit womöglich noch weniger objektivierbar sind als in der Psychotherapie; und weil schließlich der Bürohengst der allerletzte ist, der über Erfolg oder Misser- folg des klinischen Sozialarbeiters urteilen kann. Und tatsächlich kontrolliert die Verwaltung die klinischen Sozial- arbeiter in Wahrheit auch gar nicht; anstelle effektiver Erfolgs-Kontrolle findet eine Art präventiver Schikane statt – in der Illusion, eventuellen Mißbrauch „abschrecken“ zu können.
– ratlos
Aber dass die Mittel zu einer effektiven Kontrolle fehlen, heißt ja nicht, dass das Problem nicht bestünde.
Das Problem besteht nicht bloß darin, dass unter Umständen Steuergelder vergeudet würden. (Man könnte zynisch sagen: Auf das bißchen kommts auch nicht mehr an!) Es ist vielmehr wiederum ein fachlich-pragmatisches Problem.
Ziel beim Einsatz eines Familienhelfers ist doch, den Klienten zur Bewältigung seiner Lebensprobleme beratend zu befähigen. Ihn also instand zu setzen, ohne Hilfe auszukommen. Soll die „Beratung“ in diesem Sinn erfolgreich sein, dann muß – früher oder später – zwi- schen „Berater“ und „Ratsuchendem“ eine Art dialogisches Verhältnis eintreten. Kommt es nicht zustande, ist der Einsatz abzubrechen.
Aber dazu müsste sich der Familienhelfer den Abbruch leisten können. Das kann er in Berlin derzeit nicht; denn er bricht ja zugleich seine Existenzgrundlage ab: Er hat ja keinerlei Anspruch auf einen erneuten Einsatz durch das Bezirksamt!
Man muß sich klarmachen, dass zwischen Familienhelfer und Bezirksamt keinerlei vertragliche Abmachung be- steht, die irgendeinen Anspruch begründen könnte.
Der Familienhelfer wird im Zweifelsfall immer dazu neigen, einen Einsatz in die Länge zu ziehen – auch ohne, und selbst gegen sachliche Gründe.[**]
Zu viel des Guten
Ein solcher grundloser Einsatz ist aber nicht einfach nur „überflüssig“. Das wäre dann bloß ein fiskalisches Problem(chen).
Ein unnützer Einsatz ist vielmehr in aller Regel schädlich.
Wenn nämlich die Aufgabe – Befähigung zu eigener Problembewältigung – erfüllt ist, kann ein fortgesetzter Einsatz eigentlich immer nur neue Abhängigkeit begründen.
Ist der Einsatz unnütz, weil ein dialogisches Verhältnis sich nicht einstellen will, dann liegt das entweder an dem „Helfer“: Er ist an dieser Stelle nicht der Richtige; dann muß ein andrer ran. Oder es liegt am „Klienten“: weil er in Wahrheit gar keinen Rat sucht; sondern vielleicht nur eine Haushaltshilfe gratis – aber das ist noch der harmlosere Fall; meistens eher, weil er die Gegenwart des „Helfers“ wie eine spanische Wand benutzt, die er zwischen sich und seine Lebensprobleme schiebt. Die Präsenz des „Helfers“ wirkt dann wie ein Rauchvorhang, der Untüchtigkeit verschleiert – und verfestigt; und das ist, fachlich gesprochen, schädlich.
Der Witz bei der Sache ist der, daß der Familienhelfer ja nicht nur mit dem Bezirksamt keinerlei Vertrag hat, sondern, nach Lage der Dinge, mit seinem Klienten erst recht nicht. Aber eine „helfende Beziehung“ kann ohne solche kontraktliche Grundlage, durch die sich beide gegeneinander verpflichten, höchstens mal durch einen glücklichen Zufall zustande kommen. Solange aber den Klienten der Einsatz des Familienhelfers buchstäblich nicht kostet, werden in der Regel seine eigenen Anstrengungen – eben das Suchen nach Rat – mäßig bleiben.
Das alles ließe sich endlos fortsetzen, hundertfach mit Anekdoten garnieren, ohne den Gegenstand zu erschöp- fen – wohl aber den Leser.
Ein gordischer Knoten
Also langer Rede kurzer Sinn: Die Idee, in die Sozialarbeit ein freiberufliches Element einzuführen, um sie aus der staatlichen Verwaltung herauszulösen, ist m. E. die einzige Zukunftschance dieses Berufs. Aber die besondere Westberliner Lösung der Aufgabe ist ein Holzweg: Sie treibt den Teufel mit Beelzebub aus.
Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, eine perfekte Formel zu finden, in der für alle Eventualitäten vorgesorgt ist. Im Gegenteil: Die Sozialar- beit lebt davon, dass sie immer wieder improvisiert – weil sie muß. Aber das kann sie eben nur, wenn sie einen festen Rahmen hat. Und er gibt nur dann Raum fürs Improvisieren, wenn er weit ist; aber je weiter er ist, umso fester muß er auch sein. Kurz und gut: Die Lösungsformel muß einfach sein.
Die Berliner „Lösung“ ist von alldem das Gegenteil.
[*] Inzwischen sind die Mittel knapp und die Familienhelfer wurden abgeschafft; recht so: denn das Institut hatte sich... nicht entwickelt.
[**] Ein kardinales technisches Problem für den Familienhelfer ist, daß er keinen hat, der ihm auf die Finger sieht: Er hat keine Instanz, die ihn zur Selbstbeobachtung zwingt! Er kann sich einreden, daß er selbstkritisch ist; aber er kann nicht wissen, ob es stimmt.
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Zuerst veröffentlicht in: Unsere Jugend 5/1991
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