Wo sie nicht schon zum Erliegen kam, ist die Kindergesellschaft bis heute eine der wichtigsten Ressourcen für das Heranwachsen in den Städten. In Amerika hat die kid society in der empirischen Sozialforschung wie in der Umgangssprache Anerkennung gefunden. Hingegen deutet der in Deutschland gebräuchliche Begriff ‚soziale Kinderwelt’ (L. Krappmann)[9] zwar auf die relative Autonomie und Geschlossenheit dieser Sozialbildung hin; aber nicht auf das Medium, das vorrangig seinen Zusammenhang stiftet.
Es handelt sich um eine Gesellschaft nicht nur in dem Sinn, dass sie ein ‚Netzwerk von Netzwerken’ darstellt, sondern mit der spezifischen Bedeutung, dass ihr eine Öffentlichkeit zu Grunde liegt.
Es ist eine rudimentäre, parzellierte Öffentlichkeit, in der Sensationen und Legenden leichter kursieren als Tatsachenmeldungen. Das liegt am großen Anteil, den die Phantasie an ihrem Zustandekommen hat. Die vorrangige Rolle, die in der Ausbildung der Kindergesellschaft der Einbildungskraft zukommt, markiert den Unterschied zur erwachsenen ‚wirklichen Welt’ von Vorteil und Wettbewerb, von deren Wertordnung sie noch kaum affiziert ist. Das macht aber nicht ihre Schwäche, sondern ihre Stärke aus.[10] Keiner wird bezweifeln, dass die Wertordnung der Kindergesellschaft, wenn sie sich frei entfalten könnte, große Ähnlichkeit mit den ritter- lichen Tugenden von Parzival und der Tafelrunde hätte. „Treu sind sie und verlässlich, wie zu keiner Zeit ihres späteren Lebens wieder. Kein Feigling zu sein, ist ihr höchstes Ziel. Denn jeder will etwas gelten, gerade weil die Erwachsenen sie nicht für voll nehmen.“ (H. H. Muchow)[11]
Doch die öffentlichen Zusammenhänge brauchen, um sich zu finden, Platz. Den haben sie nicht mehr. Laus- bubenalter und Flegeljahre sind in unsern Stadtlandschaften zusehends in zwielichtige Ecken abgedrängt, zer- fasert, beengt, verkrüppelt. Die eigne Sozialität der Kinder kann ihre Energien nicht länger konstruktiv im ‚Abenteuer’ freisetzen. Sie findet keine Spiel-Räume mehr und muss sich destruktiv Bahnen brechen: Was einst nur Dummejungenstreiche waren, wird heut schon als „Gewaltbereitschaft“ beschrieen; und früher oder später erfüllen die Prophezeiungen dann sich selbst.
Nämlich immer dort, wo es sich um die verstümmelten Rudimente der Kindergesellschaft in jenen Vierteln handelt, in denen sie überdurchschnittlichen Belastungen ausgesetzt ist. Dazu gehören inzwischen auch ethnische und sprachliche Grenzen, doch auch in den sozial noch stabilen Stadtvierteln geht der Kindergesellschaft, ange- sichts zusehends von Erwachsenen verwerteter Räume und Zeit, ihr Regulationsmedium verloren: Öffentlichkeit; denn die braucht Plätze, wo man sich trifft. In der erwachsnen, ‚richtigen’ Gesellschaft – das zwanzigste Jahrhun- dert hat es hinreichend bewiesen – ist der zuverlässigste Regulator, um dissoziale Kräfte zu neutralisieren, Öffentlichkeit. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass dies für die Kindergesellschaft weniger gälte. Bevor die Sozialpädagogik sich en détail den ‚Einzelfällen’ zuwendet, hat sie eine kulturpolitische Aufgabe en gros: der Kindergesellschaft Raum lassen. Sie ist präventiv in einem eminenten Sinn.
[9] Lothar Krappmann, „Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen“ in: Hurrelmann/Ulrich, Neues Hand-buch der Sozialforschung, Weinheim 41991; S. 355ff.
[11] Hans Heinrich Muchow, Flegeljahre, Ravensburg 1963, S. 23
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