Morning time
Die
bürgerliche Gesellschaft ist wesentlich öffentlicher Raum. Aber die
öffentliche Meinung ist "von Natur" gespalten. Wissenschaft vermag das
Feld des Meinungskampfs einzuengen, indem sie Einverständnis erzwingt;
sie ist öffentliches Wissen. Ihr Aufstieg im Zeitalter der
Moderne war das politische Ereignis par excellence. Je mehr Bereiche des
öffentlichen Lebens von Wissenschaft durchdrungen werden, umso weiter
reicht das Feld politi- schen Einverständnisses.
Nichts anderes bezeichnet
Max Webers Wort von der „Rationalisierung der Welt“, deren äußeres
Merkmal ihre Verrechtlichung ist.
*
Unser Alltag ist in keiner Weise
"verwissenschaftlicht". Wir sind zwar vom Aufwachen bis zum Einschlafen
von Technik begleitet, die uns mehr beherrrscht als wir sie, aber unser
Denken und Fühlen, unser Streiten und unsere Paarungen sind nicht mehr
von Vernunft und gar von Wissenschaft geleitet denn je. Wir haben
Neigungen und Leidenschaften, und im gesellschaftlichen Verkehr können
wir stolz sein, wenn wir wenigstens gesunden Men- schenverstand walten
lassen.
*
Die Vernunft ist ja gar nicht überall am Platz. Was sollen Logik, was Physik und Chemie in der Liebe und in der Freundschaft? Und wenn da nicht - was in Ehe und Familie?
Es
gibt reichlich, reichlich rechtliche Bestimmungen, die auch dort
hineinreichen. Das hat seinen Sinn, wenn regulär mit Missbräuchen zu
rechnen ist, die die Integrität der Personen verletzt, auf die nicht nur
sie selbst, sondern auf die das Gemeinwesen einen Anspruch hat. Der
Sinn ist negativ: Missbräuche einschränken, nicht positiv: Vernunft und
Wissenschaft zur Geltung bringen. Könnte man sich darauf verlassen, dass
allenthaben Anstand und gesunder Menschenverstand herrschen, bliebe dem
Recht nichts zu tun. Recht ist ein Notbehelf und nicht das Ideal.
Eigentlich geht es darum, Anstand und gesunden Menschenverstand
geltend zu machen. Dafür braucht es keine Hoheitsträger, das kann
jeder selbst besorgen; nur. Ein andrer nämlich nicht.
*
Im
politischen Bereich kann die Wissenschaft Kampf und Streit vermeiden,
indem sie Einverständnis erzwingt. Was die Wissenschaft erwiesen hat,
kann heute kein öffentlicher Machtträger in Abrede stellen. Aber bevor
sie so weit ist, solange sie den Streit in den eigenen vier Wänden noch
nicht zu einem Schluss gebracht hat, bleiben politische Entscheidungen politische Entscheidungen, können sich hinter wissenschaftlichen Meinungen nicht verstecken, und müssen die Risiken ganz alleine tragen.
Merke: Das Private ist so wenig politisch, wie das Politische privat ist.
14. 9. 14
Meine Blogs
Montag, 30. April 2018
Sonntag, 29. April 2018
Verwissenschaftlichung des Politischen?
Was im öffentlichen Bereich nicht durch Wissenschaft entschieden werden kann, muss durch qualitative Optionen entschieden werden; nach ästhetisch-moralischen Kriterien.
Das ist es, was vom Politischen immer politisch bleibt: All das, was die Wissenschaft nicht klären kann und dennoch allgemein gelten soll, muss durch wertsetzende Akte bestimmt werden.
Durch Hauen und Stechen?
aus e. Notizbuch, 29. 9. 08
Das gilt darum kategorisch, weil es wohlweislich problematisch formuliert ist. Denn es enthält nacheinander eine Reihe von Bedingungen. Erstens war zu entscheiden, was in den öffentlichen Bereich fällt und was nicht. Zweitens muss entschieden werden, ob 'die Wissenschaft' ihr Wort schon hinreichend klar gesprochen hat oder ob die Öffentlichkeit noch ein bisschen warten kann. Und erst dann muss geklärt werden, auf welche Weise die Öffentlichkeit selber zu einem Verdikt kommen kann und soll. Und ganz zum Schluss ist zu entscheiden: welches Verdikt?
Zu jeder einzelnen dieser Bedingungen hat die - oder doch diese oder jene - Wissenschaft dann auch wieder etwas zu sagen; bloß eben zum Schluss nicht mehr.
Mit andern Worten: Wie öffentlich ein öffentliches Wissen auch sein mag - es ist nicht eo ipso zwingend. Dazu braucht es immer und jederzeit einer zwingenden Instanz. Eine Verwissenschaftlichung des Politischen ist weit und breit nicht abzusehen. Ein Verstecken politischer Pläne - oder der Planlosigkeit - unter wissenschaftlichen Formeln war dagegen stets in Mode, daran ist nichts neu. Neuer ist die wachsende Skepsis der Öffentlichkeit, und das ist ja schonmal ein Anfang. Und wenn es dann der Wissenschaft auch noch auseinanderzulegen gelingt, unter welchen Prämissen welche Alternativen möglich sind, hat sie alles geliefert, was man von ihr verlangen kann.
29. 12. 14
Samstag, 28. April 2018
'Ressourcen im Feld'.
Segantini, Rückkehr ins Dorf
Ruth Müller
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
24.07.2014 08:54
In einer Studie hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2009 den demografischen und wirtschaftlichen Erfolg des westlichen Niedersachsens analysiert und sich dabei nicht nur auf Zahlen verlassen.
Im westlichen Niedersachsen entstehen Jobs. Das ist ungewöhnlich für eine ländliche Gegend. Und die Region um Vechta und Cloppenburg, das Oldenburger Münsterland, gewinnt sogar Einwohner hinzu. Das hat das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) in Zusammenarbeit mit der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers herausgefunden.
Bereits im Jahr 2009 analysierte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung die Gründe für den wirtschaftlichen und demografischen Erfolg dieser Region in seiner Studie „Land mit Aussicht“ – sowohl auf Basis wirtschaftlicher und demografischer Daten als auch in Interviews mit den Einheimischen.
Demnach zeichnen sich die Oldenburger Münsterländer durch starke familiäre Bande aus. Junge Paare bekommen früh Kinder und können sich darauf verlassen, dass sie von der Verwandtschaft unterstützt werden. „Anders als in vielen anderen Gegenden Deutschlands leben im Oldenburger Münsterland viele Familien in Mehrgenerationenhaushalten. Großeltern können sich dort deshalb noch um ihre Enkel kümmern und Kinder wiederum um ihre pflegebedürftigen Eltern“, so Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts.
Gleichzeitig seien über 80 Prozent der Oldenburger Münsterländer in Vereinen oder in der Kirche aktiv. Dadurch sei der gesellschaftliche Zusammenhalt besonders hoch. Das befördere auch den großen wirtschaftlichen Erfolg. „Im Oldenburger Münsterland besteht ein dichtes Netz mittelständischer Unternehmen. Sie alle arbeiten eng miteinander zusammen“, sagt Klingholz. „Die Oldenburger Münsterländer haben es zusammen geschafft, aus ihrer ländlichen Struktur Kapital zu schlagen.“
Das war möglich, indem sie eine geschlossene Wertschöpfungskette von der Futtermittelproduktion über Viehzucht, Fleischverarbeitung, Maschinenbau, Verpackungsindustrie, Düngemittelherstellung bis hin zum Pharmaunternehmen erschlossen. „Das schafft nicht nur Arbeitsplätze. Der wirtschaftliche Erfolg führt auch zu einem positiven Selbstbild und zu einer noch engeren Verbundenheit mit der Region. Für die demografische und wirtschaftliche Zukunft des Oldenburger Münsterlands kann das nur von Vorteil sein“, erklärt Reiner Klingholz.
Die Studie erreichen Sie kostenfrei unterhttp://www.berlin-institut.org/publikationen/studien/land-mit-aussicht.html
Nota. - Was sucht das hier auf diesem Blog? Soviel: Sozialarbeit oder Armenpflege oder wie man es auch nennt ist keine Naturkonstante. Es ist auch nicht so, dass ihre Einführung einem jahrtausendealten Übelstand endlich Abhilfe geschaffen hat. Vielmehr hat es sie nicht immer gegeben, weil es ihrer nicht immer bedurfte.
In einer agrarischen Gesellschaft - Gemeinschaft sollte man vielleicht sagen - sind die persönlichen Bindun- gen traditionell so eng geknüpft, dass es viel Energie bräuchte, dort zu vereinsamen. Jedes Individuum gehört irgendwo dazu und bleibt nie lange allein. Die bürgerliche, industrielle Gesellschaft, d. h. die allgemeine Warenproduktion hat die traditionellen Bande (die zugleich Fesseln für den Markt wie für die Individuen waren) aufgelöst und, indem sie die Gesellschaftsglieder zu Austauschenden machte, als Subjekte freige- setzt.
Die fortschreitende Zersetzung gemeinschaftlicher Zusammenhänge ist, so krisenhaft sie sich im einzelnen Fall darstellt, selber keine Krise, sondern ist der normale Gang der brügerlichen Gsellschaft. Darum ist Sozialarbeit nicht als Krisenintervention verstehen, sondern als alltägliche Dienstleistung.
JE
Land mit Aussicht
Ruth Müller
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
24.07.2014 08:54
In einer Studie hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2009 den demografischen und wirtschaftlichen Erfolg des westlichen Niedersachsens analysiert und sich dabei nicht nur auf Zahlen verlassen.
Im westlichen Niedersachsen entstehen Jobs. Das ist ungewöhnlich für eine ländliche Gegend. Und die Region um Vechta und Cloppenburg, das Oldenburger Münsterland, gewinnt sogar Einwohner hinzu. Das hat das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) in Zusammenarbeit mit der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers herausgefunden.
Bereits im Jahr 2009 analysierte das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung die Gründe für den wirtschaftlichen und demografischen Erfolg dieser Region in seiner Studie „Land mit Aussicht“ – sowohl auf Basis wirtschaftlicher und demografischer Daten als auch in Interviews mit den Einheimischen.
Demnach zeichnen sich die Oldenburger Münsterländer durch starke familiäre Bande aus. Junge Paare bekommen früh Kinder und können sich darauf verlassen, dass sie von der Verwandtschaft unterstützt werden. „Anders als in vielen anderen Gegenden Deutschlands leben im Oldenburger Münsterland viele Familien in Mehrgenerationenhaushalten. Großeltern können sich dort deshalb noch um ihre Enkel kümmern und Kinder wiederum um ihre pflegebedürftigen Eltern“, so Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts.
Gleichzeitig seien über 80 Prozent der Oldenburger Münsterländer in Vereinen oder in der Kirche aktiv. Dadurch sei der gesellschaftliche Zusammenhalt besonders hoch. Das befördere auch den großen wirtschaftlichen Erfolg. „Im Oldenburger Münsterland besteht ein dichtes Netz mittelständischer Unternehmen. Sie alle arbeiten eng miteinander zusammen“, sagt Klingholz. „Die Oldenburger Münsterländer haben es zusammen geschafft, aus ihrer ländlichen Struktur Kapital zu schlagen.“
Das war möglich, indem sie eine geschlossene Wertschöpfungskette von der Futtermittelproduktion über Viehzucht, Fleischverarbeitung, Maschinenbau, Verpackungsindustrie, Düngemittelherstellung bis hin zum Pharmaunternehmen erschlossen. „Das schafft nicht nur Arbeitsplätze. Der wirtschaftliche Erfolg führt auch zu einem positiven Selbstbild und zu einer noch engeren Verbundenheit mit der Region. Für die demografische und wirtschaftliche Zukunft des Oldenburger Münsterlands kann das nur von Vorteil sein“, erklärt Reiner Klingholz.
Die Studie erreichen Sie kostenfrei unterhttp://www.berlin-institut.org/publikationen/studien/land-mit-aussicht.html
Nota. - Was sucht das hier auf diesem Blog? Soviel: Sozialarbeit oder Armenpflege oder wie man es auch nennt ist keine Naturkonstante. Es ist auch nicht so, dass ihre Einführung einem jahrtausendealten Übelstand endlich Abhilfe geschaffen hat. Vielmehr hat es sie nicht immer gegeben, weil es ihrer nicht immer bedurfte.
In einer agrarischen Gesellschaft - Gemeinschaft sollte man vielleicht sagen - sind die persönlichen Bindun- gen traditionell so eng geknüpft, dass es viel Energie bräuchte, dort zu vereinsamen. Jedes Individuum gehört irgendwo dazu und bleibt nie lange allein. Die bürgerliche, industrielle Gesellschaft, d. h. die allgemeine Warenproduktion hat die traditionellen Bande (die zugleich Fesseln für den Markt wie für die Individuen waren) aufgelöst und, indem sie die Gesellschaftsglieder zu Austauschenden machte, als Subjekte freige- setzt.
Die fortschreitende Zersetzung gemeinschaftlicher Zusammenhänge ist, so krisenhaft sie sich im einzelnen Fall darstellt, selber keine Krise, sondern ist der normale Gang der brügerlichen Gsellschaft. Darum ist Sozialarbeit nicht als Krisenintervention verstehen, sondern als alltägliche Dienstleistung.
JE
Donnerstag, 26. April 2018
Der Kinderring Berlin e. V.
Spreepiraten im Kinderring Berlin
Als über Nacht die DDR entward, fragte ich mich arglos, was wohl aus der Pionierorganisation werden würde. Fast jedes Kind, das wusste ich ja, hatte ihr angehört, ob freiwillig oder nicht. Und es gab hunderttausende Pionierleiter- (innen). Da musste doch auch eine Menge mit ehrenhaften Motiven und anständigen Absichten drunter gewesen sein, die nicht einfach aufhören wollten, nur weil der institutionelle Rahmen abhanden gekommen war; denn wenn sie wirklich gut waren, konnte ihnen das nur willkommen sein.
Ich schaute mich in Ostberlin um. Da war die Kindervereinigung der DDR entstanden. Das waren Funktionäre, die vom institutionellen Rahmen retten wollten, was zu retten war. Das war gottlob nichts, und so verschwand die KV DDR, ohne Spuren zu hinterlassen.
Und da gab es den Kinderring Berlin e. V., der eine "freie Bewegung" von Erwachsenen und Kindern "von unten" sein wollte - im Gegensatz zur Pionierorganisation von oben. Von ihnen lernte ich, dass ich mit meiner Vorstellun- gen von den Jungen Pionieren in der Ära Ulbricht steckengeblieben war. "Staatspfadfinder mit paramilitärischem Auftrag" hieß es in meiner Erinnerung.
Aber damit war es spätestens zu Honeckers Zeit vorbei! Die Pionierorganisation war lediglich das Tentakel, das Margot Honeckers Volksbildung ins außerschulische Leben der Kinder ausstreckte. Pionierleiter waren Lehrer, und zwar an jeder Schule die jüngsten und noch unvernetzten, die von den Etablierteren dazu verdonnert worden waren: Bildung von 'allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit' über die reguläre Dienstzeit hinaus. Und die waren froh, dass damit nun Schluss war.
Es war wirklich nur eine Handvoll, die "was Neues anfangen" wollten; vornehmlich Leute, die sich aus der FDJ kannten, wo sie als Gorbatschowisten in Ungnade gefallen waren. Was und wie - das war völlig offen: völlig.
Ich selber war ein westlicher Sozialpädagoge, der aber Erfahrung hatte in der bei uns so genannten freien Jugend- arbeit, nämlich bei der sozialistischen Jugend Die Falken, die aus den sozialdemokratischen Kinderfreunden der Weimarer Republik hervorgegangen waren. Bevor ich noch Zeit hatte, nach passenden Begriffen zu suchen, sprang mir schon ins Auge, dass Sozialpädagogik und Jugendbewegung zwei verschiedene Welten sind. In der Bundesrepublik waren alle Überbleibsel von Wandervogel, Bündischer Jugend & Co. abgewürgt worden vom Bundesjugendplan, der unter der Losung Professionalisierung den Verbänden "Planungssicherheit" verschaffte und als erstes in den Verwaltungen Vollzeitarbeitsplätze kreierte. Folgten die bislang freischwebenden Jugendleiter, aus denen dann die ersten Sozialarbeiter wurden. Es entstanden Fachhochschulen, und es gab Diplome. Das war das kümmerliche Ende der Deutschen Jugendbewgung.
Nach der Wende kam die Wiedervereinigung. Die öffentlichen Gelder standen auch für die neuen Länder zur Verfügung. Aber an wen sie geben?! An offenen Händen fehlte es nicht und allzu wählerisch waren die Jugend- behörden im Westen ja auch nicht. Doch in Ostberlin gab es den Kinderring Berlin, wo einige Erfahrung kumuliert war und wo vor allem mit doppelter Buchführung gearbeitet wurde. Da konnte man sogar nachschauen, wofür das Geld ausgegeben wurde!
Mein heißes Bemühen, ihm die Unschuld zu bewahren, wurde zwar geachtet, aber nicht belohnt. Denn nicht nur waren Lehrer Pionierleiter gewesen. Pionierleiter waren auch Lehrer. Nämlich bis zum dritten Schuljahr durfte man mit nix als einem Pionierleiterschein an der Grundschule unterrichten. Bis zur Wiedervereinigung, dann nicht mehr. Beim Kinderring konnte man unterkommen, mit Hilfe des ABM-Programms konnte man Projekte entwickeln, und es ist wahr: So unseriös wie anderswo üblich waren sie beim Kinderring nicht. Und das waren Leute, die man persönlich schon länger kannte und an deren persönlicher Integrität kann Zweifel war. "Nur dieses eine Mal noch!"
Natürlich hörte ich den Satz öfter... Die Geschäftsführerin fand sich plötzlich als Vorgesetzte von einem Dutzend Angestellten wieder. Das Bedürfnis nach einer verbindlichen programmatischen Grundlage ist in der Geschäftsstelle entstanden, die sich vor der Bürokratisierung am meisten fürchtete!
Der Entwurf der im Folgenden wiedergegebenen Plattform für den Kinderring Berlin e. V. fand viel Lob. Na ja, an drei, vier Stellen müsse man es vielleicht nicht so krass formulieren. Kleinigkeit: der Satz "wir wollen niemand erziehen" etwa. Und so zog sich das in die Länge wie ein Kaugummi. Schließlich beschloss eine Mitgliederver- sammlung, den Beschluss über den Text zu "vertagen".
Das war im März 1993. Ein Beschluss über die Plattform wurde bis heute nicht gefasst. Er hat sich einfach erübrigt.
Plattform für den Kinderring Berlin e. V.
Das Grundgesetz der modernen, der bürgerlichen Gesellschaft ist: die restlose Verwertung von Raum und Zeit. Alles muß sich lohnen. Immer weniger Orte gibt es, an denen nicht-wertschaffende – oder Geschaffenes verwer- tende – Lebensformen eine Statt finden.
Kindheit ist aber eine solche Lebensform.
Nicht die frühe Kindheit: Behüten kann man zum Beruf machen, in dem eine zunehmende Anzahl von Erwachsenen ihr Auskommen findet.
Auch nicht “fürs Leben lernen”: Die Schule ist eine der größten Dienstleistungsindustrien unserer Zeit.
Also überall da, wo Kindern gesagt wird, was gut und recht ist, wie wir miteinander umgehen sollen, was ihre wahren Bedürfnisse sind und was für sie das Beste ist – überall da läßt sich die Kindheit verwerten.
Und in der Freizeitindustrie auch.
Wo Kinder Erwachsenen nützen, da wird ihnen Platz gemacht – im Raum und in der Zeit. Oder richtiger: da wird ihnen ihr Platz angewiesen.
Flegeljahre
Doch alle Kinder kommen, heute wie vordem, einmal in das Alter, wo ihnen die angewiesenen Plätze zu eng, wo ihnen das Vertraute fad und wo ihnen das Gewisse öd und langweilig wird. Wo es ihnen nicht mehr reicht, zu lernen, was sie gelehrt werden, und wo sie erleben wollen, was fremd und aufregend ist; wo ihnen das Ungewisse und Unerhörte mehr bedeutet als die Annehmlichkeiten des Lebens und die Befriedigung wohlanständiger Bedürfnisse; wo sie der Unfug mehr begeistert als das Summen der Biene Maja. Und was verboten ist, das macht sie gerade scharf.
Das sind die Flegeljahre, die sich durch die erwerbsmäßigen Kinderkümmerer nicht “erfassen” und nicht verwerten lassen, und die darum als “Lücke-Alter” bemäkelt werden.
In
der wissenschaftlichen Literatur wird diese Altersstufe als ‚Pubertät’
bezeichnet, weil sich das seriöser anhört. Aber damit wird nur dem
Irrtum Vorschub geleistet, dabei handle es sich um eine rein hormonale Angelegen- heit.
In Wahrheit handelt es sich um eine große kulturelle Leistung, die die Kinder hier erbringen und die die Gesellschaft ihnen abverlangt, weil sie darauf angewiesen ist – wenn sie nicht verblöden will. Es ist nämlich das Alter, in dem sich Kinder jenen Vorrat an Tatendrang und Unternehmungsgeist zulegen, mit dem sie dann ein ganzes erwachsenes Leben auskommen müssen. Eine Zivilisation, die auf die Eigeninitiative, die Zivilcourage und die Einbildungskraft der Einzelnen baut, ist darauf angewiesen, Räume freizuhalten, in denen Lausbuben- geschichten stattfinden können. Es ist ein Kapitel praktischer Staatsbürgerkunde, weil sich die Kinder hier zum erstenmal eine politische Existenzform schaffen: Sie hören auf, in erster Linie für Erwachsene da zu sein. Sie sind jetzt nicht mehr Mamas Herzblatt und Papas Liebling, und sie legen auf die Achtung ihrer Freunde mehr Wert als auf das Lob des Lehrers. Sie hören auf, nur fremdbestimmte Schul- und Familienkinder zu sein, und beginnen, neben ihrem privaten, nun ein eigenes öffentliches Leben zu führen: das Leben in der Kindergesell- schaft.
Die Kindergesellschaft, das ist ein öffentlicher Raum, der sich unterhalb und im Schatten der offiziellen Gesellschaft gebildet hat und aus den allenthalben verpönten Banden, Cliquen und Horden besteht, in denen die Erwerbskinderkümmerer zu Recht ihren geschworenen Feind erkennen. Es ist eine Gesellschaft, in der – anders als später! – auch für Einzelgänger ein Platz ist: nämlich als die oftmals umworbenen fliegenden Boten zwischen den konstituierten Gruppen!
Es ist das eigene Interesse der Erwachsenen, jener Kindergesellschaft ihren Platz zu bewahren. Damit tun sie in erster Linie sich selbst einen Gefallen – weil sie die Gesellschaft lebendig erhält.
Die Bewahrung und Ausweitung der Räume, in denen die Kindergesellschaft sich entfalten kann, ist eine kulturpolitische Aufgabe, die der Kinderring Berlin e. V. zu der seinen gemacht hat.
Der Kinderring Berlin will niemanden erziehen. Das tun schon viele andere. Er will Kindern behilflich sein, die noch nicht verwerteten Räume unserer Welt für sich zu entdecken, sie auszukundschaften und sie, wandernd und umherstreunend, zu erfahren.
Wir wollen niemandem die Welt erklären (wie denn?); es reicht uns, jungen Menschen die Welt zu zeigen. Die Erwachsenen, die dabei mit ihnen gehen, werden ihnen, wie sich das für Ältere gehört, mit ihrem Rat zur Seite stehen, ihnen Mut machen und auch tröstend zureden, wenn sie mal doch nicht schaffen, was sie sich vorgenom- men hatten. Und wenn sie dabei auch mal vor einer Gefahr warnen, hat das mit Pädagogik gar nichts zu tun, sondern mit normalem menschlichen Anstand.
Wenn wir uns mit Kindern abgeben, so nicht, weil wir damit ein besonders gutes Werk zu tun glauben, sondern weil wir daran Freude haben. Leute, die einen Teil ihrer Freizeit mit Kinder zubringen, sind keine besseren Menschen als die andern. Sie sind lediglich noch nicht veraltet.
Mittwoch, 25. April 2018
Gestern Multikulti, heute identitär.
...Als
Programmlosung war "Multikulti" eine Lüge, und zwar unabhängig von
Stimmungen. Die europäische Zivilisation ist universalistisch, weil
sie... abendländisch ist. Die normative Idee der Person - und, als ihre
Rückansicht, die von einem geordneten öffentlichen Raum als dem Ort
ihrer Anerkennung - ist der Grund der abendländischen Kultur. Es ist die
Scheidung der Lebenswelt in einen öffentlichen und einen privaten
Bereich, die bürgerliche Freiheit möglich macht - und damit die
Pluralität der Lebensstile. Das setzt freilich voraus, daß im
öffentlichen Raum die abendländische Prämisse gültig bleibt: der
normative Rang der Person. Diese Prämis- se macht die westliche Kultur
zwar einerseits universalistisch, aber unterscheidet sie andererseits
von allen ande- ren. Sicher war sie immer wieder in Gefahr und muß
verteidigt werden. Eben! Die Menschenrechte sind westli- che Kultur, und
sie gelten entweder universell, und also in China, Chile oder Kurdistan,
oder sie gelten gar nicht. Das heißt, neben ihnen kann nichts anderes
gelten. Und wie im Großen, so im Kleinen. Der öffentliche Raum gehört
allen zugleich, und nicht stückweise diesen oder jenen, und seien die
Stücke noch so launig oder bunt.
Das Lügenwort von der multikulturellen Gesellschaft dient der Heuchelei. Das Problem in Deutschland sind gar nicht die Ausländer. Etwa Italiener, Spanier, Griechen? Oder Franzosen und Holländer? Man tut so, als handle es sich um Verfassungsfragen, die grundsätzlich und gesinnungshaft zu erörtern wären - um sich an konkreten Aufgaben vorbeizudrücken. Es geht um die Türken. Eine millionenköpfige nationale Minderheit, deren Einführung in die deutsche Kultur auch in der dritten Generation noch keine vorzeigbaren Fortschritte gemacht hat. " Multikulti " bedeutet nur: Man darf den Türken gar nicht zumuten, sich in die deutsche Kultur hinein zu begeben. (Daß das Schlagwort bei den meisten Repräsentanten der türkischen Gemeinden in Deutschland weniger populär ist als bei der rhetorischen Linken läßt aber hoffen.)
Richtig ist freilich dies: Für die Integration einer Minderheit in ein fremdes Wertgefüge wäre deren Selbstgewiß- heit sicher eine günstigere Voraussetzung als ihr Zweifel an der eigenen Identität. Mit ihrer Identität haben es die Türken allerdings schwerer als andere Völker. Eine türkische Nationalkultur gibt es eigentlich erst seit Kemal Pascha. Ihr Rahmen ist die zentralistische weltliche Republik, und ihr Gründungsakt war der Völker- mord an den Armeniern und die Vertreibung der griechischen Urbewohner von der ionischen Küste vor einem dreiviertel Jahrhundert. Der Versuch, diese dünne Basis historisch zu fundieren, führte entweder in die islami- stische oder in die rassistische, "panturanische" Richtung der Grauen Wölfe. In beiden Fällen rührte er an die Grundlage der modernen Türkei. Kein Wunder, daß Türken sich in fremder Umgebung unwohl fühlen. Und wenn dann noch die Kurden dazu kommen...
Auch sonst ist die türkische Volksgruppe in Deutschland ein Unikum. In keinem andern Land der Welt lebt eine nationale Minderheit, die mit ihrem Gastland historisch überhaupt nichts zu tun hat! Reden wir nicht von den Afrikanern in Amerika. Die Inder in Ostlondon und die Algerier in der Pariser Banlieue verbindet mit ihrem Gastland - im Bösen wie im Guten - eine gemeinsame koloniale Vergangenheit. Die kulturellen Eliten Indiens und Nordafrikas hatten in England und Frankreich studiert und fanden ihren Stolz darin, beide Kul- turen gegenüber der jeweils anderen Seite zu repräsentieren. Eine ähnlich vermittelnde Elite haben die deut- schen Türken noch nicht hervorgebracht. Nicht zuletzt wohl aus dem genannten Grund - aber umso nötiger wäre es.
Wer sagt den Kindern der dritten Generation, wie sie sich beneh- men sollen? Wie sie sich in der Türkei beneh- men müßten, wissen ihre Eltern auch nur aus Erzählungen; wie sie sich in Deutschland benehmen sollen, können sie ihnen überhaupt nicht sagen. Das müßten schon die Deutschen selber tun. Und das ist der sprin- gende Punkt. Die Deutschen, die, aller „geistig-moralischen Wende“ unerachtet, seit '68 den öffentlichen Ton angeben, können den Satz wie man sich in Deutschland benimmt ja gar nicht aussprechen, ohne zu stottern! Schon wenn sie "Deutschland" sagen sollen, müssen sie husten. Da konnte man im Sommer 1990 auf dem bröckeln- den Hausputz in Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzelberg die kecke Losung "Nie wieder Deutschland!" finden. Doch so anarchistisch radikal, wie es klang, war es nicht gemeint. Es sollte nur heißen: In unsern Nischen war's doch recht bequem. ...
Der Aufsatz, aus dem dieser Ausschnit stammt, erschien im Januar 1999 im Neuen Deutschland und hat mir damals giftige Schmähungen des gegenwärtigen Berliner Kultursenators eingetragen. Er ist heute akuter denn je und an entrüsteten Stimmen, die nicht eine Silbe zu Klärung beitra- gen, wird es auch jetzt nicht fehlen. Doch immerhin: Den von mir vorhergesagten Wettstreit von Islamisten und Grauen Wölfen haben vorläufig die Islamisten gewonnen. Von eiinem Bemühen um Zugang zu unserer hiesigen Kultur kann man in der türkischen Minderheit indessen immer weniger verspüren. Früher stand Multikulti im Weg. Jetzt heißt es Indentität.
Vielleicht haben wir ja Glück und die von Erdogan aus dem Land gejagten freiheitlichen Intellek- tuellen machen Deutschland zu ihrer Basis und werden zu der historischen Brücke zwischen beiden Kulturen, die es noch immer nicht gibt.
Das Lügenwort von der multikulturellen Gesellschaft dient der Heuchelei. Das Problem in Deutschland sind gar nicht die Ausländer. Etwa Italiener, Spanier, Griechen? Oder Franzosen und Holländer? Man tut so, als handle es sich um Verfassungsfragen, die grundsätzlich und gesinnungshaft zu erörtern wären - um sich an konkreten Aufgaben vorbeizudrücken. Es geht um die Türken. Eine millionenköpfige nationale Minderheit, deren Einführung in die deutsche Kultur auch in der dritten Generation noch keine vorzeigbaren Fortschritte gemacht hat. " Multikulti " bedeutet nur: Man darf den Türken gar nicht zumuten, sich in die deutsche Kultur hinein zu begeben. (Daß das Schlagwort bei den meisten Repräsentanten der türkischen Gemeinden in Deutschland weniger populär ist als bei der rhetorischen Linken läßt aber hoffen.)
Richtig ist freilich dies: Für die Integration einer Minderheit in ein fremdes Wertgefüge wäre deren Selbstgewiß- heit sicher eine günstigere Voraussetzung als ihr Zweifel an der eigenen Identität. Mit ihrer Identität haben es die Türken allerdings schwerer als andere Völker. Eine türkische Nationalkultur gibt es eigentlich erst seit Kemal Pascha. Ihr Rahmen ist die zentralistische weltliche Republik, und ihr Gründungsakt war der Völker- mord an den Armeniern und die Vertreibung der griechischen Urbewohner von der ionischen Küste vor einem dreiviertel Jahrhundert. Der Versuch, diese dünne Basis historisch zu fundieren, führte entweder in die islami- stische oder in die rassistische, "panturanische" Richtung der Grauen Wölfe. In beiden Fällen rührte er an die Grundlage der modernen Türkei. Kein Wunder, daß Türken sich in fremder Umgebung unwohl fühlen. Und wenn dann noch die Kurden dazu kommen...
Auch sonst ist die türkische Volksgruppe in Deutschland ein Unikum. In keinem andern Land der Welt lebt eine nationale Minderheit, die mit ihrem Gastland historisch überhaupt nichts zu tun hat! Reden wir nicht von den Afrikanern in Amerika. Die Inder in Ostlondon und die Algerier in der Pariser Banlieue verbindet mit ihrem Gastland - im Bösen wie im Guten - eine gemeinsame koloniale Vergangenheit. Die kulturellen Eliten Indiens und Nordafrikas hatten in England und Frankreich studiert und fanden ihren Stolz darin, beide Kul- turen gegenüber der jeweils anderen Seite zu repräsentieren. Eine ähnlich vermittelnde Elite haben die deut- schen Türken noch nicht hervorgebracht. Nicht zuletzt wohl aus dem genannten Grund - aber umso nötiger wäre es.
Wer sagt den Kindern der dritten Generation, wie sie sich beneh- men sollen? Wie sie sich in der Türkei beneh- men müßten, wissen ihre Eltern auch nur aus Erzählungen; wie sie sich in Deutschland benehmen sollen, können sie ihnen überhaupt nicht sagen. Das müßten schon die Deutschen selber tun. Und das ist der sprin- gende Punkt. Die Deutschen, die, aller „geistig-moralischen Wende“ unerachtet, seit '68 den öffentlichen Ton angeben, können den Satz wie man sich in Deutschland benimmt ja gar nicht aussprechen, ohne zu stottern! Schon wenn sie "Deutschland" sagen sollen, müssen sie husten. Da konnte man im Sommer 1990 auf dem bröckeln- den Hausputz in Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzelberg die kecke Losung "Nie wieder Deutschland!" finden. Doch so anarchistisch radikal, wie es klang, war es nicht gemeint. Es sollte nur heißen: In unsern Nischen war's doch recht bequem. ...
Der Aufsatz, aus dem dieser Ausschnit stammt, erschien im Januar 1999 im Neuen Deutschland und hat mir damals giftige Schmähungen des gegenwärtigen Berliner Kultursenators eingetragen. Er ist heute akuter denn je und an entrüsteten Stimmen, die nicht eine Silbe zu Klärung beitra- gen, wird es auch jetzt nicht fehlen. Doch immerhin: Den von mir vorhergesagten Wettstreit von Islamisten und Grauen Wölfen haben vorläufig die Islamisten gewonnen. Von eiinem Bemühen um Zugang zu unserer hiesigen Kultur kann man in der türkischen Minderheit indessen immer weniger verspüren. Früher stand Multikulti im Weg. Jetzt heißt es Indentität.
Vielleicht haben wir ja Glück und die von Erdogan aus dem Land gejagten freiheitlichen Intellek- tuellen machen Deutschland zu ihrer Basis und werden zu der historischen Brücke zwischen beiden Kulturen, die es noch immer nicht gibt.
Dienstag, 24. April 2018
Wissenschaft von der Politik?
Ich sage nicht, dass jenseits der wissenschaftlichen kritischen Philosophie jedes praktische Urteil in concreto ästhetisch motiviert ist. Ich sage nur, dass das poietische Vermögen – also dasjenige, das den Menschen zum Qualifizieren befähigt – selber ästhetischer Qualität ist. Erstens glaube ich, dass dem historisch so ist , und zweitens meine ich, dass dem von Rechts wegen so sein soll.
Insofern meine ich "das Ästhetische" überhaupt nicht psychologisch , sondern 'transzendental': "Das ästhetische Vermögen ist die Fähigkeit, Qualitäten wahr-, d. h. wertzunehmen. Die Urteilskraft ist das Vermögen, Erscheinungen auf Qualitäten zu beziehen."
Das Politische ist nicht selbst ‘ästhetisch’
In jedes einzelne, 'historische', empirische Urteil praktischer Natur – das heißt: jede politische Entschei- dung – fließen in concreto stets eine Unmenge konkreter 'idiotischer' Daten ein, die 'auf Qualitäten be- zogen' sein wollen; aber das muss eben immer
Die Politik selber als praktische Disziplin kann nicht theoretisch oder gar wissenschaftlich sein.
Wissenschaftlich kann die Kritik sein. Nicht die Kritik an dieser oder jener konkreten Entscheidung, sondern an dem 'Modell', auf das sie sich (u. U.) bezieht. Die mehr oder weniger theoretischen Modelle, auf die politische Akteure ihr Handeln beziehen mögen, können selber nur in einem idiographischen Sinn 'wissenschaftlich' sein. Das heißt beschreibend und empirisch verallgemeinernd, nicht aber nomothetisch-'gesetzgebend'. Die Situation, wo man in ein theoretisches Modell (der Gesellschaft) nur noch die empirischen Daten einzutragen bräuchte, um heraus zu lesen, was zu tun ist, wird… niemals eintreten.
An dieser Stelle wird unweigerlich – sei es höhnisch, sei es nostalgisch – an die Marx’sche Theorie von der Weltrevolution erinnert.
“Historischer Materialismus”
Da trafen zwei theoretische Perspektiven zusammen. Zuerst die kritische: Die Kritik der politischen Ökonomie hatte zum Ergebnis, dass das theoretische Modell des 'Wertgesetzes' wissenschaftlich nicht haltbar war, weil der vorgeblichen Regel des Äquivalententauschs ein ungleicher Tausch zwischen Kapital und Arbeit zu Grunde liegt. Damit wurde die Rechtfertigung der kapitalistischen Gesellschaftsform durch das 'Klassische Modell' der Politischen Ökonomie, das sie zu einem 'System' metaphysiziert, hinfällig. Ein eignes positives Modell vom Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft findet man bei Marx nicht. Er hatte es ursprünglich im Sinn; aber da ahnte er noch nicht, dass seine beabsichtigte Vollendung der Politischen Ökonomie in deren Kritik umschlagen würde; das hat er erst gemerkt, als er das (fälschlich so genannte) 'Formen-Kapitel' der (fälschlich so genannten) 'Grundrisse' niederschrieb.
Der andere theoretische Strang ist die "materialistische Geschichtsauffassung". Auch die ist ursprünglich kritisch. Sie richtet sich nämlich gegen die hergebrachte Auffassung, dass in der Menschheitsgeschichte Gesetze wirksam wären, die ihr von außerhalb auferlegt wären: von übersinnlicher Instanz. Ihre eigne 'Voraussetzung' ist lediglich, dass sie diese Voraussetzung zurückweist. 'Materialistisch' bedeutet schlicht und einfach nicht-spiritualistisch. Ihr selber liegt allein das empirische Prinzip 'zu Grunde', dass die Menschen ihre Geschichte selber machen. Ab da tut sie das, was Geschichtsschreibung zu tun hat: Sie beschreibt. Dafür ist wiederum besagtes 'Formen'-Kapitel das beste Beispiel. In der literarischen Darstellung muss diese wie jede andere Beschreibungen schematisieren, die Fakten bestimmten Handlungsfäden zuordnen; wobei sie erklärtermaßen nicht 'Alles' beschreibt, sondern ihr Augenmerk auf die Herausbildung und dem Verhältnis der Gesellschaftsklassen richtet.
Die Epigonen – nicht erst Stalins Hofschranzen, sondern schon früher Dogmatiker wie Karl Kautsky – haben dann die 'Handlungsfäden' zu historischen Gesetzen entmaterialisiert. Und so ein kritische und revolutionäre Theorie in ihr staatserhaltendens Gegenteil verkehrt: Stalins terroristisch-totalitäre Monstrum brauchte eine Offenbarungslehre, durch die es als letztes Wort "des Gesetzes" imponieren konnte; "die Vorsehung", echote Stalins Spiegelbild im Führerbunker.
Modelle
Wenn aber die wisschenschaftliche Beschäftigung mit der Politik ohnehin nie dahin kommt, Gesetze aufzustellen – wozu taugen dann noch ihre theoretischen Modelle?
Ein Modell ist kein Gesetzbuch. Ein Gesetzbuch ist dafür da, den Fall einer Regel zu sumbsumieren. Das ist der Zeck der Naturwissenschaft. Das Modell ist Abbild eines idion. Es ist nicht die naturgetreue Nachbildung von 'allem, was dazu gehört', sondern ein Schema; ein Sinnbild, das wiedergibt, worauf es an dem Idion dem Modellbauer angekommen ist; worauf er es abgesehen hat.
Zum Modellbauen gehört erstens die ‘Eingrenzung’ des Idion, und zweitens seine 'Struktur'. Das bedeutet nichts anderes als Extensio und Intensio des Begriffs. Der Begriff hat – nämlich als Problem, wenn es ihm auch anders vorgekommen sein mag – dem Modellbauer 'vorgeschwebt'. Die Sistierung, Fixierung des Vorschwebenden ist eben: die Ausührung des Modells. Das Modell ist die De-Finitio des Begriffs.
Hier wird klar: Das Idion ist kein Singulare; kein Einzelding, sondern eine Ganze Gestalt. Von einem Einzelding gibt es keinen Begriff, de singularibus non est scientia, da braucht man kein Modell. Einen Begriff braucht man für ein Mannigfaltiges, das von anderm Mannigfaltigen unterschieden werden soll. Er ist die Sinnbehauptung eines inneren Zusammenhangs; einer 'Struktur', wenn man diesen Ausdruck mag. Er ist keine Formel, in die man das konkrete Datum einträgt, um ein Ergebnis heraus zu rechnen, sondern eine Form, die man an eine lebendige Gestalt heranträgt, um zu sehen, ob sie passt.
Begriff ist Absicht, und die ist praktisch.
Der Begriff ist ein Sinnträger. Wer ihn verwendet, muss vorher wissen, wozu. Im Begriff ist ein Absehen 'gemerkt'. Die Verwendung des Begriffs ist die Aktualisierung dieser Absicht. Wer ihn verwendet, muss wissen, dass er kein Gesetz anwendet, sondern einer Absicht folgt.
Kritik – die Wissenschaft – ist dazu da, ihn jedes Mal daran zu erinnern, wenn der "dialektische Schein" ihm schon wieder Mal eine metaphysische Substanz vorgaukeln will.
Absichten sind qualitativ. Das Vermögen, Erscheinungen auf Qualitäten, Tatsachen auf Absichten zu beziehen, ist die Urteilskraft. Das Vermögen, Qualitäten wahr-, d. h. wertzunehmen, heißt das ästhetische.
Montag, 23. April 2018
Sozialstaat und Religion.
Aimé Morot, Le bon samaritain
„Religion hat Wohlfahrtsstaaten weit mehr beeinflusst als bekannt“
Viola van Melis
Zentrum für Wissenschaftskommunikation
Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Studie aus dem Exzellenzcluster schließt Forschungslücke für 13 Länder Europas
Religionsgemeinschaften haben laut einer neuen Studie aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ weit mehr Einfluss auf die Entstehung europäischer Wohlfahrtsstaaten gehabt als bislang bekannt. „Vor allem in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden, in denen Staat und Kirchen sowie die Konfessionen untereinander konkurrierten, entwickelten Religionen viel Einsatz für den Wohlfahrtssektor“, sagt der evangelische Theologe und Sozialethiker Prof. Dr. Hans-Richard Reuter vom Exzellenzcluster der Uni Münster. „In Ländern wie Spanien oder Polen hingegen, wo der Katholizismus lange ein Monopol innehatte und eng an den Staat gebunden war, haben Religionen kaum Einfluss auf die bis heute schwächere Ausprägung von Sozialstaatlichkeit genommen.“ Sie bestimmten insofern entscheidend mit, wie und wie stark sich der Wohlfahrtssektor in einem Land entwickelte. Die Studie untersucht 13 europäische Länder. Es handelt sich um die bislang größte Untersuchung zum Einfluss von Religionen auf die Sozialstaaten Europas.
Da der Faktor Religion in der europäischen Wohlfahrtsforschung zuvor wenig auftauchte, schließt die Studie eine Forschungslücke, wie die Leiter der Untersuchung, Prof. Reuter und der katholische Theologe und Religionssoziologe Prof. Dr. Karl Gabriel erläutern. Die Untersuchung ist unter dem Titel „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa“ im Tübinger Verlag Mohr Siebeck erschienen. Herausgeber des ersten von zwei Bänden sind neben Prof. Reuter und Prof. Gabriel der katholische Theologe Dr. Stefan Leibold und der evangelische Fachkollege Andreas Kurschat vom Exzellenzcluster. Der zweite Band wird unter dem Titel „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland“ voraussichtlich im Frühjahr 2015 erscheinen.
„Wenig Sozialstaat in Ländern mit Orthodoxie und Islam“
Die Autoren untersuchen religiös-konfessionelle Einflüsse auf die sozialstaatliche Entwicklung in dreizehn europäischen Ländern von der Industrialisierung bis zur Gegenwart. Auf dieser Grundlage arbeiten die Forscher verschiedene Länder-Typen nach der Stärke von Wohlfahrtsstaatlichkeit und dem religiösen Einfluss darauf heraus. „Zugleich zeigt jedes einzelne Land eine einzigartige Gestalt in der Entwicklung seines Wohlfahrtssystems“, so die Wissenschaftler. Die schwächsten Formen des Sozialstaats finden sich in den untersuchten christlich-orthodox und osmanisch geprägten Staaten. „Während die Wohlfahrtsstaaten Westeuropas sowohl Klassenspaltung als auch Konflikte zwischen Kirche und Staat institutionell verarbeiteten, entwickelte die Orthodoxie in Ländern wie Griechenland, Russland und Bulgarien nie ein konfliktreiches Gegenüber, das zu Aktivitäten im sozialen Sektor hätte führen können.“ Ähnliches stellten die Forscher für den Islam und die Türkei fest.
In Ländern mit mehr Sozialstaat waren es der Untersuchung zufolge häufig „religiös erweckte und charismatische Persönlichkeiten“, die den Anstoß zum sozialen Engagement der Religionsgemeinschaften gaben. In Deutschland zählten dazu auf katholischer Seite „Arbeiterbischof“ Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler (1811-1877) und der Sozialethiker und Politiker Franz Hitze (1851-1921). Als wegweisende Protestanten nennen die Autoren Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), den Theologen Johann Hinrich Wichern (1808-1881), Sozialpolitiker Theodor Lohmann (1831-1905) und Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898).
Einen besonders starken Einfluss der Religion auf den Sozialstaat fanden die Forscher in gemischt-konfessionellen Staaten wie Deutschland und den Niederlanden. Ausschlaggebend dafür war das Zusammentreffen der Konkurrenz zwischen Kirchen und Staat mit derjenigen zwischen den Konfessionen. Das gilt auch für Länder, in denen Religion und Staat Interessenskonflikte austrugen und institutionell eigenständig blieben, wie die Herausgeber schreiben. „Dabei reagierten die Religionen nicht nur auf Modernisierung und Wohlfahrtsstaatsentwicklung, sondern wirkten selbst aktiv darauf hin.“ Prof. Gabriel: „Wie nirgendwo sonst entdeckten in Deutschland die gut organisierten Katholiken die Sozialpolitik als bevorzugtes Feld ihres Ringens um gesellschaftliche Anerkennung und politische Emanzipation.“ Eine Rolle spielte dabei, dass Religion und Aufklärung sich nicht ausschlossen.
Auch in anderen mittel- und nordwesteuropäischen Ländern wie dem lutherisch geprägten Schweden und Dänemark sowie dem anglikanisch beeinflussten Großbritannien gelang es, Impulse der Aufklärung und des Christentums miteinander zu verbinden, wie die Autoren darlegen. „Auf diese Weise erhielten die bürgerlich-nationalen Revolutionen keine antichristliche, sondern eine mit dem christlichen Erbe positiv verbundene Ausrichtung.“
Weniger ausgeprägt und auch weniger religiös beeinflusst seien die Wohlfahrtsstaaten im Süden und Osten Europas. „In Spanien oder Polen etwa war der Katholizismus staatlich eng eingebunden und hatte eine religiöse Monopolstellung inne. Folglich blieb der Konkurrenzkampf aus – sowohl zwischen Religion und Staat als auch zwischen einzelnen Konfessionen“, so die Herausgeber. Etwas ausgeprägter sei der Wohlfahrtsstaat In Italien, der zumindest einige „langfristig wirkende katholische Elemente“ aufweise.
Die Studie des Exzellenzclusters entstand im Projekt A7 „Die religiöse Tiefengrammatik des Sozialen“. Beteiligt waren internationale Sozialwissenschaftler, Historiker, Theologen und Juristen. Sie untersuchten die Wohlfahrtsstaatlichkeit in Bulgarien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Polen, Russland, Schweden, Spanien und der Türkei. Dabei ging es um den Einfluss von Katholizismus, Luthertum, anglikanischer Staatskirche und freikirchlichem Protestantismus sowie Calvinismus, Orthodoxie und Islam. Prof. Reuter: „Die Länderauswahl folgte dem Ziel, ein breites geographisches, religionskulturelles und sozialstaatliches Spektrum abzudecken.“ (han/vvm)
Weitere Informationen:http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/en/aktuelles/2014/mai/PM_Studie_...
Nota. - So kann man Sozialwissenschaft also auch betreiben. Der naive, leichtgläubige Zeitgenosse hätte vermutet, dass der Wohlfahrts- und Sozialstaat am stärksten dort ausgeprägt ist, wo die Industrialisierung am frühesten eingesetzt hat, der Klassenkampf heftig und die Arbeiterbewegung stark war. Das sind zufällig dieselben Länder, die das Exzellenzcluster nennt. Denn überall, wo Kirche und Staat miteinander stritten und Konfessionen konkurrierten (also wo die Reformation eine Rolle gespielt hat), war der religiöse Einfluss nicht stark genug, um die Arbeiterschaft vom Sozialismus fernzuhalten. Aber das Exzellenzcluster dreht die Sache einfach um; fast wollen sie uns sagen, der Sozialstaat sei eine Errungenschaft des... Protestantismus. Da wird denn sogar Bismarck zum mitfühlenden Samariter.
JE
Sonntag, 22. April 2018
Was hat Demokratie mit Gleichheit zu tun?
Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de
Das
Prinzip der rechtlichen Gleichstellung der Staatsbürger stammt
historisch-reell aus der tatsächlichen Gleich- heit der tauschenden
Warenbesitzer auf dem Markt; nicht andersrum. Die geweitete politische
Form sollte die Dynamik der gesellschaftlichen Wirklichkeit freisetzen,
nämlich aus dem Korsett feudaler, vorbürgerlicher Pri- vilegien befreien.
Die Sache hatte von Anbeginn einen Haken: Die einander am Markt begegnenden Subjekte müssen Waren anzu- bieten haben - sonst können sie sie nicht gegen andere Waren eintauschen. Um Waren anzubieten, müssen sie sie produzieren können. Müssen außer der Kraft und Geschicklichkeit auch die Werkstoffe und Geräte besitzen, die zu ihrer Herstellung nötig sind.
Mit der Einbeziehung der Landwirtschaft in das Marktgeschehen begann in Europa das große Bauerlegen alias "die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals". Eine ganze Klasse von Menschen entstand, die keine Waren an- bieten können, weil sie ihr Produktionsmittel, den Boden, verloren hatten. So mussten sie ihre Arbeitskraft selbst zu Geld machen; verkaufen an einen Andern, der sich ihrer fruchtbringend bedienen kann, weil er die nötigen sachlichen Mittel dazu besitzt. Das, was aus der Verwendung der Arbeitskraft neu an Brauchbarem hinzukommt, gehört dem, der sie gekauft, und nicht dem, der sie verkauft hat. Unmittelbar ist nichts Ungerechtes, ist kein Ver- stoß gegen 'die Gleichheit' daran. Die Ungleichheit war längst zuvor entstanden, als die Masse der Bauern von ihrem Land vertrieben worden waren.
*
Die Herrschaftsform der Demokratie lässt sich vernünftiger Weise aus dem Prinzip der Gleichheit gar nicht herleiten. Vom politischen Standpunkt des Gemeinwesens aus ist es vorderhand gar nicht wichtig, ob sich jeder in gleichem Maße 'einbringen' und 'verwirklichen' kann. Dem Gemeinwesen liegt daran, dass 'das Richtige' - was immer das sei - getan wird, und um zu entscheiden, was das Richtige ist, braucht man die richtigen Leute, und nicht alle, die 'betroffen' sind - und nichtmal alle, die den Mund auftun.
Wer aber entscheidet nun darüber, welches die richtigen Leute sind? Auch nicht Alle, sondern wiederum - die richtigen Leute... Die Katze beißt sich in den Schwanz. Das Problem ist institutionell gar nicht zu lösen. Da 'man' im Vorhinein nicht beurteilen kann, wer dem Gemeinwohl am besten dienen wird, muss man es im Nachhinein tun: auf Verdacht ein paar auswählen und nach einem nicht allzu langen Zeitraum prüfen, ob sie sich bewährt haben. Das wird en détail vielleicht auch nicht Jeder können; aber der große Durchschnitt in der Regel schon, und jedenfalls mit mehr gesundem Menschenverstand als irgendwer sonst; nämlich sofern der Meinungskampf öffentlich geführt wird. Rechtsstaat und bürgerliche Freiheiten haben den Sinn, den gesunden Menschenverstand zu pflegen und zu fördern, indem sie Öffentlichkeit garantieren.
Gleichheit ist ein Gebot des freiheitlichen Rechtsstaats um der Öffentlichkeit willen, aber nicht die Grundlage der Demokratie. Die Reihenfolge ist umgekehrt.
Die Sache hatte von Anbeginn einen Haken: Die einander am Markt begegnenden Subjekte müssen Waren anzu- bieten haben - sonst können sie sie nicht gegen andere Waren eintauschen. Um Waren anzubieten, müssen sie sie produzieren können. Müssen außer der Kraft und Geschicklichkeit auch die Werkstoffe und Geräte besitzen, die zu ihrer Herstellung nötig sind.
Mit der Einbeziehung der Landwirtschaft in das Marktgeschehen begann in Europa das große Bauerlegen alias "die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals". Eine ganze Klasse von Menschen entstand, die keine Waren an- bieten können, weil sie ihr Produktionsmittel, den Boden, verloren hatten. So mussten sie ihre Arbeitskraft selbst zu Geld machen; verkaufen an einen Andern, der sich ihrer fruchtbringend bedienen kann, weil er die nötigen sachlichen Mittel dazu besitzt. Das, was aus der Verwendung der Arbeitskraft neu an Brauchbarem hinzukommt, gehört dem, der sie gekauft, und nicht dem, der sie verkauft hat. Unmittelbar ist nichts Ungerechtes, ist kein Ver- stoß gegen 'die Gleichheit' daran. Die Ungleichheit war längst zuvor entstanden, als die Masse der Bauern von ihrem Land vertrieben worden waren.
*
Die Herrschaftsform der Demokratie lässt sich vernünftiger Weise aus dem Prinzip der Gleichheit gar nicht herleiten. Vom politischen Standpunkt des Gemeinwesens aus ist es vorderhand gar nicht wichtig, ob sich jeder in gleichem Maße 'einbringen' und 'verwirklichen' kann. Dem Gemeinwesen liegt daran, dass 'das Richtige' - was immer das sei - getan wird, und um zu entscheiden, was das Richtige ist, braucht man die richtigen Leute, und nicht alle, die 'betroffen' sind - und nichtmal alle, die den Mund auftun.
Wer aber entscheidet nun darüber, welches die richtigen Leute sind? Auch nicht Alle, sondern wiederum - die richtigen Leute... Die Katze beißt sich in den Schwanz. Das Problem ist institutionell gar nicht zu lösen. Da 'man' im Vorhinein nicht beurteilen kann, wer dem Gemeinwohl am besten dienen wird, muss man es im Nachhinein tun: auf Verdacht ein paar auswählen und nach einem nicht allzu langen Zeitraum prüfen, ob sie sich bewährt haben. Das wird en détail vielleicht auch nicht Jeder können; aber der große Durchschnitt in der Regel schon, und jedenfalls mit mehr gesundem Menschenverstand als irgendwer sonst; nämlich sofern der Meinungskampf öffentlich geführt wird. Rechtsstaat und bürgerliche Freiheiten haben den Sinn, den gesunden Menschenverstand zu pflegen und zu fördern, indem sie Öffentlichkeit garantieren.
Gleichheit ist ein Gebot des freiheitlichen Rechtsstaats um der Öffentlichkeit willen, aber nicht die Grundlage der Demokratie. Die Reihenfolge ist umgekehrt.
Samstag, 21. April 2018
Ringen im Feld.
aus einem Bericht an die Mitgliederversammlung
Das hat es früher in den Arbeitervierteln gegeben, wo Ringen populär war, aber das ist lange her. In Moabit ist davon nichts übrig, und in Lichtenberg fehlt es auch. Wir müßten also neu anfangen. Aber nicht jedes Wohngebiet eignet sich dafür. Und vor allem: Es setzt voraus, daß im Sportverein mehr vorkommt als nur der Sport; nämlich Geselligkeit und Vergnügen. Das gilt für die Erwachsenen und erst recht für die Kinder. Kurzum, wir hätten die Ärmel hochkrempeln und ganz tief pflügen müssen. [...]
Nun
ist uns eine ungeahnte Chance ohne viel eigenes Zutun gleichsam in den
Schoß gefallen. Es ist der Entschluß der Poelchau-Oberschule in Jungfernheide, im kommenden Schuljahr einen „sportbetonten Zug“
einzurichten. Wir haben die Schule davon überzeugen können, dass das
Ringen unbedingt in ihrem Angebot vertreten sein muß. [...] Nicht jedes
Wohngebiet eignet sich dafür: doch kein zweites Wohngebiet in Berlin
dürfte sich so gut eignen wie unser neuer Standort Jungfernheide. Wir
sind dort fast konkurrenzlos in einem kleinen, übersichtlichen, unsern
Kräften angemessenen „Feld“ und besetzen eine strategische Stellung
zwischen der Oberschule und vier benachbarten Grundschulen. Wenn wir mit
unsern Kräften haushalten und uns nicht verwursteln, dann gehören wir
dort in ein, zwei Jahren zum Lokalkolorit und sind aus dem Viertel
„einfach nicht mehr wegzudenken“. Dann sagen die Kinder auf der Straße
zueinander: „Spielste Fußball oder jehste zum Ringen?“
Dort
können – und müssen – wir in die Tiefe wirken. Denn was noch fehlt, das
sind die „Wurzeln“ im Alltagsleben der Nachbarschaft. Unser
Verein muß sich im Kiez zu einer moralischen Autorität aufbauen. Wie
das? Indem wir zuerst für die Kinder, die bei uns ringen, und dann für
ihre Eltern und Lehrer; dann für ihre Freunde und dann für deren Eltern
und Lehrer zu einer moralischen Autorität werden – und so fort; denn
sowas spricht sich rum.
Das muß auf zwei Feldern gleichzeitig geschehen. Zum einen durch die Qualität des Sports, den wir vertreten. Konkret gesprochen, durch das Niveau des Kinder- und Jugendringens in Berlin. Die Stabilisierung und Entwicklung des sportlichen Standards auf Landesebene liegt im unmittelbaren egoistischen Vereinsinteresse, weil es die Autorität unseres Sports – und damit auch die unsere stärkt.
Und zum andern durch die Qualität unseres Zusammenlebens mit den Kindern. Dazu gehören Spaß und Geselligkeit als tragender Grund gegenseitigen persönlichen Vertrauens. Jeder weiß, daß das nicht die unwichtigste Voraussetzung für den sportlichen Erfolg ist. Vielleicht nicht für jede einzelne Leistung in jedem einzelnen Wettkampf; aber doch für einen anhaltenden Leistungswillen, der auch Zeiten des Durchhängens überdauert.
Das eine ist die Bindung an diesen Sport, das andere ist die Bindung an diesen Verein – und das läßt sich nicht voneinander trennen. Wenn wir am Standort Jungfernheide rund um die Poelchau-Schule mit unsern knappen Kräften das hinkriegen, dann dürfen wir uns was darauf einbilden. Denn dann haben wir ein „Modell“ geschaffen, um das uns alle andern beneiden können. Aber wenn wir uns das nicht zutrauen, dann brauchten wir gar nicht erst anzufangen.
Freitag, 20. April 2018
Soll sich der Sport als Sozialpädagogik verkaufen?
Zum Jahr des Kinder- und Jugendsports
(für die Sportjugend Berlin, im Januar 1997)
In den letzten Jahren hört man immer wieder, daß Funktionäre den Sport nach außen hin mit sozialpädagogi- schen Argumenten rechtfertigen, und fast glaubt man, er hätte das nötig. Da heißt es ‘Aggressionen abbauen’, ‘der Gewaltbe- reitschaft begegnen’, ‘die Kinder von der Straße holen’ als sei sie bloß für die Autos da, ‘Frustra- tionstoleranz einüben’ usw. Fragt man nach, bekommt man als Antwort: Anders kommen wir nicht mehr an öffentliches Geld ran. Überall wird gespart, und wenn der Sport bloß als Freizeitvergnügen erscheint, wird er nicht gefördert. Man muß ihn als eine Art Nothilfe darstellen, das läßt sich der Öffentlichkeit besser vermit- teln…
Nachdem ich ein Vierteljahrhundert sozialpädagogische Berufspraxis auf dem Buckel habe, darf ich dazu wohl das Wort ergreifen. Dahingestellt sein laß ich, ob man wirklich immer nach den Fleischtöpfen schielen und die Frage nach richtig oder falsch gar nicht mehr stellen muß. Ich rede hier nicht moralisch, sondern pragmatisch. Und da sage ich: Wenn der Sport sich mit der Sozialpädagogik auf einen Wettlauf um die Fördermittel einläßt, hat er von vornherein verloren. Dann trägt er selber dazu bei, einen schlechten Zustand zu zementieren, den zu beenden gerade er aufgerufen ist.
Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass Sport (unnützer) Zeitvertreib und Sozialpädagogik (nützliche) Arbeit ist. Bis in die sechziger Jahre hat ja gerade der Sport als „Jugendarbeit“ par excellence gegolten! Wenn damals ein Politiker sagte, er wolle „was für die Jugend tun“, dann meinte er immer – neue Sportstätten. Recht so: Die Jugend strebt zum Sport, der Sport strebt zur Jugend, anders kann es gar nicht sein. Freilich, das Berufsbild des Sozialpädagogen gab es da noch nicht. Das kam erst Ende der Sechziger auf, mit jener explosionsartigen Vermehrung der pädagogischen Berufe, die man füglich als Landnahme bezeichnet. Seither war „Professionalisierung“ das gängige Stichwort, in den freien Jugendverbänden wurden „Fachkräfte“ angestellt, die rissen alles an sich, die freiwilligen „unfachlichen“ Helfer wurden rausgeekelt, und schließlich blieben auch die einfachen Mitglieder weg. „Jugendarbeit“ gibts seither nicht mehr. Auch keine Jugendbewegung. Nur noch Sozialpädagogen.
Übriggeblieben ist eigentlich nur die Sportjugend, d. h. der Jugendsport. Der hat der Sozialpädagogisierung getrotzt. Und die Sozialpädagogen ignorieren ihn vornehm – als unlautere, weil „unprofessionelle“, nämlich billigere Konkurrenz.
An „fachlichen“ Versuchungen hat es bei den Jugendfunktionären sicher auch nicht gefehlt. Es liegt aber in der Natur des Sports, daß ihm die Sozialpädagogik widerstrebt. Denn sie folgen beide zwei diametral entgegengesetzten Logiken, und die machen sich bis in den intimsten Winkel geltend: Die Sozialpädagogik richtet ihr Augenmerk auf die Schwächen der Kinder, der Sport auf ihre Stärken.
Für die Sozialpädagogik heißt es: „Defizite kompensieren“.
“Aggressionen“ modisch: „Gewaltbereitschaft“ wären so ein „Defizit“. Früher sprach man von Flegeljahren und von überschüssigen Kräften, aber die Sozialpädagogik denkt gleich an eine ‚Störung’, die man wegmachen muß. Im Hinterkopf schwebt irgendein idealer Durchschnitt von „Normalität“, von dem natürlich keiner genau sagen kann, wo er liegen soll.
Im Sport heißt es dagegen: „Der Beste möge siegen“. Durchschnitt, Norm und Normalität kommen im Sport nicht vor.
Ganz krass wird es bei den Paralympics: Selbst da geht es nicht darum, „Defizite“ zu „kompensieren“, sondern auch da gilt: „Der Beste wird gewinnen.“ Es ist nicht Sache des Sports, irgendwem einen Maßstab vorzuhalten und zu sagen: „Siehst du, da mußt du hin!“ Das Ethos des Sports ist, ganz im Gegenteil, daß jeder aus sich das Beste macht. Jeder schafft, was er kann. Das Maß eines jeden sind seine eignen Möglichkeiten, und was er daraus macht, liegt ganz bei ihm. Man könnte vielmehr fragen, mit welchem Fug und Recht eigentlich die Sozialpädagogen den Leuten Maßstäbe setzen wollen; bestimmen wollen, was Norm und was Abweichung, was Defizit und was Störung, was Kompensation und Normalität sind; wer hat sie dazu eingeladen? Da kämen sie aber ganz schön in Verlegenheit.
Gewiß, sie haben es schwer. Ein liberaler Staat in einer pluralistischen Gesellschaft kennt kein positives, verbindliches „Menschenbild“ mehr. Das brauchen sie aber: Wonach sollen sie sich sonst richten? Ersatzweise griffen sie daher zu einem negativen Menschenbild: Je lauter man von den „Defiziten“ der andern redet, umso weniger muß man über die eignen Maßstäbe sagen. Das hat den weiteren Vorteil, daß so die Defizite natürlich nie behoben, die Aufgaben nie erledigt und die Planstellen nie überflüssig werden. Es bleibt alles im Ungefähr, und man kann beliebig viel neue Defizite entdecken – wenn man nur lange genug hinschaut.
So kommt es, daß in diesem Berufsstand heute immer mehr Professionelle immer weniger leisten. Die Sozialpädagogik bestreitet ihre Leistungsschwäche gar nicht. Aber sie will uns einreden, es handle sich nur um ein fachliches Problem, das sie schon selbst und mit ihren Mittel lösen wird. Das ist eine Augenwischerei, der wir – wie alle Steuerzahler – energisch widersprechen sollten. Daß ein Erziehungssystem, das an den Kindern mit Vorliebe deren Fehler und Schwächen wahrnimmt, nichts Manierliches zustandebringt, kann jeder erkennen. Dazu braucht man kein Fachwissen. Man muß nur alle fünf Sinne beisammen haben. Es ist eine Sache des gewöhnlichen menschlichen Anstands: Kinder muß man auf ihre Stärken hinweisen.
Das lehrt uns der Sport. Wenn also von einer Verbindung von Sport und Sozialpädagogik die Rede ist, dann kann es immer nur so sein, daß das Ethos des Sports die Fachlogik der Sozialpädagogen korrigiert, und nicht umgekehrt. So gesehen, wirkt Sport dann allerdings „sozialpädagogisch“.
Aber die Sozialpädagogen werden es kaum wahrhaben wollen. Und schließlich muß der Sport sein Ethos offensiv vertreten, statt sich hinter anderen zu verstecken, als ob er sich schämt. Das kommt in der Öffentlichkeit nicht an? Na das wolln wir erstmal sehen. Und schließlich: Öffentlich heißt nicht behördlich. Es gibt in der Öffentlichkeit auch Geld, das nicht von Staatsdienern verwaltet wird. Vielleicht sogar mehr.
J. Ebmeier, Jugendwart im SV Siegfried Nordwest 1887 e.V.
(für die Sportjugend Berlin, im Januar 1997)
In den letzten Jahren hört man immer wieder, daß Funktionäre den Sport nach außen hin mit sozialpädagogi- schen Argumenten rechtfertigen, und fast glaubt man, er hätte das nötig. Da heißt es ‘Aggressionen abbauen’, ‘der Gewaltbe- reitschaft begegnen’, ‘die Kinder von der Straße holen’ als sei sie bloß für die Autos da, ‘Frustra- tionstoleranz einüben’ usw. Fragt man nach, bekommt man als Antwort: Anders kommen wir nicht mehr an öffentliches Geld ran. Überall wird gespart, und wenn der Sport bloß als Freizeitvergnügen erscheint, wird er nicht gefördert. Man muß ihn als eine Art Nothilfe darstellen, das läßt sich der Öffentlichkeit besser vermit- teln…
Nachdem ich ein Vierteljahrhundert sozialpädagogische Berufspraxis auf dem Buckel habe, darf ich dazu wohl das Wort ergreifen. Dahingestellt sein laß ich, ob man wirklich immer nach den Fleischtöpfen schielen und die Frage nach richtig oder falsch gar nicht mehr stellen muß. Ich rede hier nicht moralisch, sondern pragmatisch. Und da sage ich: Wenn der Sport sich mit der Sozialpädagogik auf einen Wettlauf um die Fördermittel einläßt, hat er von vornherein verloren. Dann trägt er selber dazu bei, einen schlechten Zustand zu zementieren, den zu beenden gerade er aufgerufen ist.
Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass Sport (unnützer) Zeitvertreib und Sozialpädagogik (nützliche) Arbeit ist. Bis in die sechziger Jahre hat ja gerade der Sport als „Jugendarbeit“ par excellence gegolten! Wenn damals ein Politiker sagte, er wolle „was für die Jugend tun“, dann meinte er immer – neue Sportstätten. Recht so: Die Jugend strebt zum Sport, der Sport strebt zur Jugend, anders kann es gar nicht sein. Freilich, das Berufsbild des Sozialpädagogen gab es da noch nicht. Das kam erst Ende der Sechziger auf, mit jener explosionsartigen Vermehrung der pädagogischen Berufe, die man füglich als Landnahme bezeichnet. Seither war „Professionalisierung“ das gängige Stichwort, in den freien Jugendverbänden wurden „Fachkräfte“ angestellt, die rissen alles an sich, die freiwilligen „unfachlichen“ Helfer wurden rausgeekelt, und schließlich blieben auch die einfachen Mitglieder weg. „Jugendarbeit“ gibts seither nicht mehr. Auch keine Jugendbewegung. Nur noch Sozialpädagogen.
Übriggeblieben ist eigentlich nur die Sportjugend, d. h. der Jugendsport. Der hat der Sozialpädagogisierung getrotzt. Und die Sozialpädagogen ignorieren ihn vornehm – als unlautere, weil „unprofessionelle“, nämlich billigere Konkurrenz.
An „fachlichen“ Versuchungen hat es bei den Jugendfunktionären sicher auch nicht gefehlt. Es liegt aber in der Natur des Sports, daß ihm die Sozialpädagogik widerstrebt. Denn sie folgen beide zwei diametral entgegengesetzten Logiken, und die machen sich bis in den intimsten Winkel geltend: Die Sozialpädagogik richtet ihr Augenmerk auf die Schwächen der Kinder, der Sport auf ihre Stärken.
Für die Sozialpädagogik heißt es: „Defizite kompensieren“.
“Aggressionen“ modisch: „Gewaltbereitschaft“ wären so ein „Defizit“. Früher sprach man von Flegeljahren und von überschüssigen Kräften, aber die Sozialpädagogik denkt gleich an eine ‚Störung’, die man wegmachen muß. Im Hinterkopf schwebt irgendein idealer Durchschnitt von „Normalität“, von dem natürlich keiner genau sagen kann, wo er liegen soll.
Im Sport heißt es dagegen: „Der Beste möge siegen“. Durchschnitt, Norm und Normalität kommen im Sport nicht vor.
Ganz krass wird es bei den Paralympics: Selbst da geht es nicht darum, „Defizite“ zu „kompensieren“, sondern auch da gilt: „Der Beste wird gewinnen.“ Es ist nicht Sache des Sports, irgendwem einen Maßstab vorzuhalten und zu sagen: „Siehst du, da mußt du hin!“ Das Ethos des Sports ist, ganz im Gegenteil, daß jeder aus sich das Beste macht. Jeder schafft, was er kann. Das Maß eines jeden sind seine eignen Möglichkeiten, und was er daraus macht, liegt ganz bei ihm. Man könnte vielmehr fragen, mit welchem Fug und Recht eigentlich die Sozialpädagogen den Leuten Maßstäbe setzen wollen; bestimmen wollen, was Norm und was Abweichung, was Defizit und was Störung, was Kompensation und Normalität sind; wer hat sie dazu eingeladen? Da kämen sie aber ganz schön in Verlegenheit.
Gewiß, sie haben es schwer. Ein liberaler Staat in einer pluralistischen Gesellschaft kennt kein positives, verbindliches „Menschenbild“ mehr. Das brauchen sie aber: Wonach sollen sie sich sonst richten? Ersatzweise griffen sie daher zu einem negativen Menschenbild: Je lauter man von den „Defiziten“ der andern redet, umso weniger muß man über die eignen Maßstäbe sagen. Das hat den weiteren Vorteil, daß so die Defizite natürlich nie behoben, die Aufgaben nie erledigt und die Planstellen nie überflüssig werden. Es bleibt alles im Ungefähr, und man kann beliebig viel neue Defizite entdecken – wenn man nur lange genug hinschaut.
So kommt es, daß in diesem Berufsstand heute immer mehr Professionelle immer weniger leisten. Die Sozialpädagogik bestreitet ihre Leistungsschwäche gar nicht. Aber sie will uns einreden, es handle sich nur um ein fachliches Problem, das sie schon selbst und mit ihren Mittel lösen wird. Das ist eine Augenwischerei, der wir – wie alle Steuerzahler – energisch widersprechen sollten. Daß ein Erziehungssystem, das an den Kindern mit Vorliebe deren Fehler und Schwächen wahrnimmt, nichts Manierliches zustandebringt, kann jeder erkennen. Dazu braucht man kein Fachwissen. Man muß nur alle fünf Sinne beisammen haben. Es ist eine Sache des gewöhnlichen menschlichen Anstands: Kinder muß man auf ihre Stärken hinweisen.
Das lehrt uns der Sport. Wenn also von einer Verbindung von Sport und Sozialpädagogik die Rede ist, dann kann es immer nur so sein, daß das Ethos des Sports die Fachlogik der Sozialpädagogen korrigiert, und nicht umgekehrt. So gesehen, wirkt Sport dann allerdings „sozialpädagogisch“.
Aber die Sozialpädagogen werden es kaum wahrhaben wollen. Und schließlich muß der Sport sein Ethos offensiv vertreten, statt sich hinter anderen zu verstecken, als ob er sich schämt. Das kommt in der Öffentlichkeit nicht an? Na das wolln wir erstmal sehen. Und schließlich: Öffentlich heißt nicht behördlich. Es gibt in der Öffentlichkeit auch Geld, das nicht von Staatsdienern verwaltet wird. Vielleicht sogar mehr.
Donnerstag, 19. April 2018
Gruppennorm ist weiblich.
oder: Klatsch ist gewaltig mächtig.
Aggression im Klassenzimmer:
Mädchen sind Meinungsführer
Mädchen sind Meinungsführer
Eine neue Studie zeigt: Die Einstellung einer Klasse gegenüber Aggression beeinflusst, wie aggressiv sich die einzelnen SchülerInnen verhalten. Besonders die Mädchen in einer Klassengemeinschaft sind es, die den Rahmen für aggressives Verhalten vorgeben. Über drei Jahre hinweg untersuchten die PsychologInnen Robert Busching und Barbara Krahé von der Universität Potsdam die Entwicklung aggressiven Verhaltens bei 1321 Jugendlichen aus verschiedenen weiterführenden Schulen Berlins. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung veröffentlichten sie jetzt in der Fachzeitschrift „Personality and Social Psychology Bulletin“.
„Um gegen aggressives Verhalten vorgehen zu können, muss man verstehen, wie es sich entwickelt und wovon es beeinflusst wird“, sagt der Sozialpsychologe Robert Busching. „Wir haben uns gefragt, wie sich die Klassennorm, also die Einstellungen, die in einer Klassengemeinschaft vorherrschen, auf die individuelle Entwicklung aggressiven Verhaltens bei Jugendlichen auswirkt.“
Die AutorInnen verwendeten einen Fragebogen, mit dem sie die Einstellungen von SchülerInnen gegenüber Aggression sowie ihr aggressives Verhalten untersuchten. Im ersten Teil des Fragebogens wurden die Einstellungen gegenüber Aggression erfasst. Die SchülerInnen lasen zunächst eine fiktive Geschichte, in der ein Jugendlicher einen anderen provoziert. Sie sollten sich in den provozierten Jugendlichen hineinversetzen und angeben, wie angemessen sie verschiedene vorgegebene aggressive Reaktionen in dieser Situation finden würden (zum Beispiel: die andere Person zu schubsen). Je angemessener sie die aggressiven Reaktionen beurteilten, desto positiver ihre Einstellung gegenüber Aggression. Die jeweilige Klassennorm wurde über die Durchschnittsbildung der individuellen Einstellung ermittelt.
Im zweiten Teil des Fragebogens wurde das aggressive Verhalten erfragt. Die Schüler sollten angeben, wie oft sie in den letzten sechs Monaten entweder körperlich aggressiv waren (durch Schubsen, Treten oder Beißen) oder andere Personen in ihren sozialen Beziehungen geschädigt hatten (z.B. hinter dem Rücken Gerüchte über jemanden verbreitet hatten). SchülerInnen der siebten und achten Jahrgangsstufe füllten den Fragebogen insgesamt viermal über einen Zeitraum von drei Jahren aus. Die jeweiligen Klassenverbände blieben in diesem Zeitraum bestehen.
Die Ergebnisse zum Einfluss der Klassennorm auf das Verhalten der Mitschüler zeigen: Wird in einer Klasse Aggression eher toleriert, zeigen die Schüler auch mehr aggressives Verhalten. In Klassengemeinschaften hingegen, die aggressive Handlungen nur gering tolerieren, verhalten sich die einzelnen SchülerInnen dagegen weniger aggressiv, und zwar unabhängig von ihren eigenen Einstellungen.
Die ForscherInnen untersuchten auch die Entwicklung aggressiven Verhaltens im Verlauf der drei Jahre. Ihre Analysen zeigen, dass Schüler, die Aggression zunächst ablehnten, sich aber in einer Klasse befanden, die Aggression toleriert, mit der Zeit die Einstellung ihrer Klasse übernahmen und sich vermehrt aggressiv verhielten.
Insbesondere dann, wenn die Mädchen einer Klasse aggressives Verhalten stark akzeptierten, verhielt sich die Klasse insgesamt aggressiver. Die Autoren sehen einen möglichen Grund für dieses geschlechtsspezifische Ergebnis darin, dass die Mädchen untereinander in ihrer Einstellung gegenüber Aggression mehr übereinstimmten als die Jungen. Als einheitlichere Gruppe übten sie dementsprechend mehr Einfluss auf die gesamte Klasse aus.
Die Sozialpsychologin Barbara Krahé betont, dass die Studie wichtige Erkenntnisse für die Entwicklung von präventiven Maßnahmen bietet: „Wenn es gelingt, in einer Klasse insgesamt, und vor allem bei den Mädchen, die Einstellung zu verankern, dass aggressives Verhalten nicht akzeptabel ist, dann werden sich mit der Zeit auch die aggressiveren Einzelnen dieser Klassennorm anpassen.“
Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, Prof. Andrea Abele-Brehm, ergänzt: „Die Studie ist ein wichtiger Beleg dafür, wie wichtig neben der Verhaltensbeeinflussung auf individueller Ebene auch die Verhältnisbeeinflussung auf der Ebene der sozialen Gegebenheiten für die Aggressionsprophylaxe ist.“
Publikation:
Busching, R., & Krahé, B. (2015). The girls set the tone: Gendered classroom norms and the development of aggression in adolescence. Personality and Social Psychology Bulletin. Advance online publication. doi:10.1177/0146167215573212
E-Mail: pressestelle@dgps.de
Nota. - Oha, da hat die Wissenschaft einen unverhofften Schatz gehoben: Individuen richten sich nach Gruppennormen, nicht umgekehrt! Sagen Sie ehrlich: Hätten Sie das gedacht?
Nach dieser Sensation geht die prosaische Meldung fast unter: Bei der Ausbildung von Gruppennormen geben die Mädchen den Ton an - weil sie schon untereinander zu Konformität neigen.
Ist das jetzt gut oder eher schlecht?
JE, 17. 4. 15
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