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Sonntag, 25. März 2018

Kindlicher Irrsinn.

aus  Gestört?

... Der landläufigen Vorstellung von Therapie liegt die Vorstellung von einem Handelnden und einem Behandel- ten zugrunde – nach dem Vorbild des Arztes im Verhältnis zu seinem Patienten: jener ist dann krank, und dieser macht ihm seine Krankheit weg

Ich will an dieser Stelle nicht die Frage erörtern, ob und wieweit seelische Leiden oder „Störungen“ überhaupt mit körperlichen Krankheiten zu vergleichen sind. (Es ist übrigens auch weitgehend eine weltanschauliche Frage, nicht so sehr eine wissenschaftlich-theoretische.) Wir haben es hier ja nicht mit seelischenStörungen überhaupt zu tun, sondern mit dem „auffälligen“ Kind. Und an diesem ist ganz besonders auffällig, dass es in den Lehrbü- chern und Nachschlagewerken der Psychiatrie so stiefmütterlich behandelt wird. Das Kapitel über „Kinder- und Jugendpsychiatrie“ ist dort in aller Regel, wenn nicht stets das kürzeste, so doch das schwammigste und undeut- lichste. 

Der Grund mag folgender sein: Die psychiatrische Nosologie und Nomenklatur ist von den spektakulären Formen der ausgereiften Geisteskrankheiten ausgegangen: den Schizophrenien namentlich. Sie bilden bis heute nicht nur den Schwerpunkt der psychiatrischen Klinik, sondern auch den natürlichen ausgezeichneten Bezugs- punkt der psychiatrischen Theoriebildung. Die „kindlichen Störungen“ sehen aus dieser Perspektive dann immer so aus wie mehr oder minder unentschlossene, unreine, „unentwickelte“ Frühformen der ausgewachsenen Psychosen. Der suchende Blick des Psychiaters rechnet auf etwas, was ihn an die ihm wohlbekannten Spielarten erwachsenen Irreseins erinnert – und findet es in den seltensten Fällen. Es ist ja direkt „auffällig“, wie selten in den Anamnesen erwachsener Geisteskranker kindliche Auffälligkeiten anzutreffen sind! Gewiß, der forschende Diagnostiker findet hinterher immer irgendwas – weil er ja danach sucht. Aber bemerkenswert ist: Die wenigsten erwachsenen Schizophrenen sind im Kindesalter als „unnormal“ aufgefallen. 

Also kann die kindliche Störung nicht einfach das Larvenstadium der ausgewachsen Psychose sein. Es handelt sich offenbar um etwas ganz anderes. Die Psychiatrie hilft sich aus ihrer Verlegenheit, indem sie der Sache einen Namen gibt. Vokabeln wie „Psychopathie“ oder – in Amerika – „Soziopathie“ sind so was wie die Hölle des Schneiders: Dahin lässt er alle Fetzen fliegen, mit denen er nichts anfangen kann.

Wenn es indessen sinnvoll ist, die Geisteskrankheiten aufzufassen als einen „pathologischen“ (d. h. zwanghaft erlittenen, nicht freiwilligen) Rückzug aus der Welt, wie sie ist – nämlich im Urteil der normalen Allgemeinheit erscheint -, in eine verkehrte Welt des Wahns, dann kann es nicht sinnvoll sein, die kindlichen „Störungen“ schon unter dieselbe Kategorie zu fassen. Denn während die Psychose ein dauerhaftes Arrangement, ein Modus vivendi darstellt, einen stabilen Kompromiß, wie ich mit der Welt, wie sie ist, leben kann, ohne in ihr leben zu müssen, „fällt“ das Kind ja gerade „auf“, wenn es sich nicht arrangiert.[4]Wenn es sich nämlich noch lange nicht damit abgefunden hat, dass nicht die Welt sich ihm, sondern es selbst sich der Welt anbequemen muß.
 
Die kindliche Störung ist regelmäßig eine Kampfstellung, die noch nicht kapituliert hat. Und da derjenige Ausschnitt von der Welt, den das Kind zu Gesicht bekommt – eben die Zelle, in der es beschlossen ist -, seinen Kampf oft genug rechtfertigt, ist es ganz verfehlt, pauschal von einer krankhaften Reaktion zu reden. Die Frage ist auch nicht einfach, wie sehr das Kind leidet. Denn krankhaft ist nicht das Leiden selbst, sondern der Zwang zum Leiden. Solange das Kind noch leidet, weil es im akuten Konflikt mit seiner Welt ist, kann der Kampf noch so oder so ausgehen – und sogar als gegenstandslos untergehen.

Noch sind die „Ursachen“ der „Störung“ in ihrem Verlauf präsent, liegen offen zu Tage. Und erst, wenn sie so weit verinnerlicht wurden, dass sie als Selbstrenner phantasmagorisch weiterwirken unabhängig von ihrer realen Gegenwart; wenn also Kampf und Leiden chronisch geworden sind, dann bekommt das Urteil „pathologisch“ einen fassbaren Sinn. Wenn es nicht mehr aufhören kann, selbst wenn es wollte – dann mag man von „Therapie“ reden. 

Wie weit die Chronizisierung fortschreiten kann, ist allerdings eine Frage des Trainings: je öfter, je länger, umso sicherer. Das ist eine Frage der Situation – und wie lange sie dauert. Die Therapie ist eine Sache von Wo und Wann. Wenn also der Erzieher seine Arbeit als ‚therapeutisch’ bestimmt, muß er dabei gewärtig bleiben, dass er es nicht mit einem Zustand zu tun hat, sondern mit einem Geschehen, das sich im Fluß befindet. Dass nämlich das Kind die Entscheidung, ob es sich in eine krankhafte Dynamik ein lassen will, noch nicht getroffen hat. Dass er also nicht einen konsolidierten Defekt im Kind zu reparieren hat, sondern dass sein „heilendes“ Eingreifen auf „Ursachen“ zielt, die im Spannungsfeld zwischen dem Kind und der Außenwelt liegen. Wohlbemerkt: im Feld, das dazwischen liegt, zwischen dem Kind und der Welt; oder auch: in der Welt, wie sie für das Kind „ist“. 

Denn es sind ja nicht die Tatsachen, wie sie an sich sind (das, „was der Fall ist“), welche die auffälligen Reaktionen des Kindes auslösen, wie in einer blinden, quasi vegetativen Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen; sondern es sind die Bilder, die sich das Kind von diesen Tatsachen macht, die es dazu bewegen, auffällig zu handeln – nämlich wenn sein Bild von der Welt „auffällig“ abweicht von dem Bild, das die Welt sich von sich selber macht. 

Also das Wirkungsfeld des Pädagogen ist nicht einfach die Welt, „wie sie ist“, sondern die Welt, wie sie in der Vorstellung vorkommt. Und der Knoten, der das Netzwerk der Figuren zusammenhält, aus denen ich mein Weltbild knüpfe, ist das Bild von mir in der Welt. Aber diese beiden – sowohl das Bild von mir als auch das Bild der Welt – sind vorbestimmt von dem Bild, das die Andern von mir und der Welt schon immer haben. Der Mensch macht sich sein Weltbild zwar selbst, aber nicht aus freien Stücken; die Stücke, die er beim Bilden verwendet, hat er vorgefunden: er tritt in eine Welt, die immer schon – von Andern – gedeutet ist; tritt in ein Geflecht von Sinngebungen, die abwechselnd aufeinander verweisen. Dieses vorgefundene Weltbild ist der Fundus, aus dem sich das Subjekt die Figuren holt, die es dann zu „seiner“ Welt zusammensetzt. Es blickt selber in Welt – aber wie in einen Spiegel.


Hier sind wir bei der Schlüsselrolle, die die Familie in der Heranbildung der kindlichen Persönlichkeit spielt: die Andern, aus deren Bildvorrat es sich „seine“ Welt baut, das sind die, die ihm zuerst am nächsten waren: die Eltern und die Geschwister. Und noch bevor es sich selbst ein Bild macht, kennt es das Bild, das diese andern von ihm schon hatten. Und das macht die Familie zum fruchtbaren Boden für Störungen aller Art. ...

1992


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