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Freitag, 30. März 2018

Eine situative Therapeutik





Ob und in welchem Maße ein Kinderheim fördert oder hemmt, hängt außer vom guten Willen der dort Lebenden auch noch von seiner inneren Verfassung ab. Dies ist eine situative, systemische Form der Therapeutik, wo es nicht so sehr auf dieses Wort oder jene Tat des einen oder des anderen bei der und der Gelegenheit ankommt, sondern auf den Charakter des ganzen Interaktionsflusses selbst. Ich habe das an anderer Stelle ausgeführt. [6] Hier sei nur das festgehalten: Es ist in dieser Perspektive direkt widersinnig, zur Grundlage des Heimalltags „familienanaloge Gruppen“ machen zu wollen, die dann, zwecks „intensivierter Betreuung“, auch noch besonders klein sein müssen. Es kann die Freisetzung der heilsamen Strebungen des Kindes nur behindern, wenn sich hier Leute an die Stelle seiner eigenen Eltern drängen wollen. Hier geht es nicht darum, die schlechte durch die gute Familie zu ersetzen. Es geht darum, im wirklichen einen Abstand zu legen zwischen den Alb von gestern und das heute je noch Mögliche. Darum, das Kind zu einem neue Wagnis zu verlocken. „Therapie“ heißt hier:

Ent-Bindung, Entlastung, Entlassung.

Da tut der Erzieher dann gut daran, das lästige Phantom des „gestörten Kindes“ aus seinem Kopf zu verjagen. Es erlaubt einer zweifelhaften Institution, sich ei n gutes Gewissen zu machen. Aber es hilft ihm nicht um einen Deut, das Kind, das er da in seinem Alltag trifft, besser zu „verstehen“. Er hat buchstäblich nichts davon, dass er es als Fall einer Regel zuordnet. Diagnostische Kategorien sind bestenfalls Metaphern, die erlauben, intelligente Fragen zu stellen. Antworten geben sie nicht.

Überhaupt ist der Erzieher ganz schlecht beraten, wenn er sein Augenmerk vor allem auf das heftet, was an dem Kind schlimm ist. Er sollte zusehen, dass er sich vielmehr all dem anderen zuwenden kann – dem, was nicht schlimm ist. Denn erst dann darf er darauf rechnen, dass das Kind seine Wendung mitmacht. Aber es ist wahr, dass das ein liberaler Ort sein muß, der einem erlaubt, vom Schlimmen und dem, was gestern war, abzusehen.


Eine faire Chance

Ich behaupte nicht, dass die therapeutischen Qualitäten einer geselligen Situation injedem Fall ausreichen. Es mag immer noch viele Fälle geben, wo die Blicke des Therapeuten in die Tiefe gehen, wo Geheimnisse zur Sprache gebracht werden müssen. Aber ich argumentiere, dass an der Stelle nicht angefangen werden darf. Denn in Wahrheit sind die Psychotherapien – und die introspektiven zumal – ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeit, der erst in Frage kommt, wenn seine Notwendigkeit erwiesen ist – weil die „leichteren“ Mittel erfolglos blieben.

Es wird höchste Zeit, wieder auf die „Schädlichkeit der psychologischen Atmosphäre“ aufmerksam zu machen, die Karl Jaspers schon 1911 benannt hat. [7] Schädlich gerade für Kinder, die vielleicht eben in der Entscheidung stehen, ob sie de n psychotischen Rückzug aus der Welt der Anderen wählen sollen oder nicht. Die „psychologische Atmosphäre“ bannt in einer Weise die ganze Aufmerksamkeit des Subjekts auf seine Not – und zieht sie ab von all dem andern -, die geeignet ist, den psychotischen Schub gerade herbeizuführen, den man dann hinterher hingebungsvoll „behandelt“. Es ist, als ob man einen, der am Abgrund steht, auch noch zwingt, hinunter zu sehen: ein sicheres Mittel, dass er stürzt. durch jene „Privatlogik“, die das falsche Verhalten „begründen“ soll, aber zugleich, als dessen Rechtfertigung, zum stabilisierenden Faktor des Familiengeschehens wird – indem sie nämlich seinen pathologischen Charakter stabilisiert. Die Identifizierung und Auszeichnung dieses schwächsten Gliedes als schwarzes Schaf gehorcht einer eigenen Ökonomie, die es näher zu beleuchten gilt, da sie uns darauf verweist, an welcher Stelle der „therapeutische Eingriff“ anzusetzen hat. Die Schwäche des schwarzen Schafs war es ja gewesen, das Warten nicht auszuhalten.

Ein psychotherapeutischer Eingriff zur Unzeit ist gefährlich. Schon für Erwachsene, umso mehr für Kinder. Er ist wirklichnur als letzter Versuch zu rechtfertigen, wenn alle andern Stricke gerissen sind. Es ist eine „schwere“ Maßnahme auch in dem Sinn, dass sie die Verantwortung für Heilung dem Kind allein aufbürdet. Die Familie sieht nur zu.

Am Anfang muß der heilsamen Dynamik der Trennung eine Chance gegeben werden – weil so die ganze Familie eine Chance hat. Kinderheime müssen so eingerichtet werden, dass sie nicht mehr Notnagel im hoffnungslosen Fall zu sein brauchen, sondern guten Gewissens als allgemeine Möglichkeit angeboten werden können: als ein nahe liegender erster Versuch, sobald die Probleme ernster werden – und um sich schwerere Geschütze später zu ersparen.
 

[6] J. Ebmeier, Geselligkeit als Regel II, in: Neue Praxis 6/1990 
[7] Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Berlin 6/1953

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