Robert Doisneau
Es
war nicht ein Versäumnis früherer Verwaltungen, die die Altersgruppe
von zehn bis vierzehn Jahre als etwas Besonderes, nämlich als „Lücke“
ausgezeichnet hat. Sondern das ist ein ganz besonderes Alter, und dem
haben frühere Verwaltungen in lebensweiser Selbst-beschränkung Tribut
gezollt: Es ist ein Alter, in dem man nicht betreut und schon gar nicht
„maßgenommen“ sein will. Denn es ist die größte Krise
im Leben eines jeden, es ist der Abschied von der Kindheit. Auch in
physiologischer Hinsicht, als Pubertät, aber nicht nur, nicht einmal vor
allem. Es ist eine Krise des ganzen Menschen. Bis dahin verstand sich
die Welt von selbst. Alles, was war, war so und nicht anders. Und
plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, oder sieht es nur so aus?
„Der entscheidende Grundzug des Pubertätsalters besteht darin, dass es fast
jeden Menschen zum Dichter macht“, indem er „die ganze Welt der
Erscheinungen“ nicht für bare Münze, sondern bloß „symbolisch nimmt“ (E. Friedell).[5]
Die Selbstverständlichkeiten sind dahin und alles gerät in Zweifel,
nicht nur alles Andere, sondern auch das Selbst. Es ist der kritische
Zustand par excellence, eine „zweite Geburt“ (E. Erikson). Nach außen gibt es sich durch Frechheit, Spottsucht und Mutwillen zu erkennen, und wurde vormals als Flegeljahre[6]
geschmäht und als Lausbubenalter oder Robinsonzeit verklärt. In unseren
auf korrekten und sparsamen Umgang bedachten Zeiten sieht man sie als
Vorstufe zur Jugendkriminalität an und will ihnen mit Verhütungsmitteln
begegnen. Dabei sind es wie eh die produktivsten Jahre, von deren Ertrag
man ein Leben lang zehrt.
Sozialisation
Welches ihr Ertrag ist, hängt davon ab, wie die Krise überstanden wurde.
Die wichtigste, weil nächstliegende ‚äußere’’ Ressource eines Jeden bei
Bewältigung der Lebensaufgaben sind seine alltäglichen Zusammenhänge
mit Anderen. Die sind eng oder weit, viele oder wenige, tief oder flach;
aber nicht gut oder schlecht. Unter gewissen Umständen wirken sie
freilich – auf andere – eher konstruktiv, unter anderen eher destruktiv.
Aufgabe
der Jugendhilfe ist es, die Bedingungen so zu arrangieren, dass die
lebensweltlich gegebenen Zusammenhänge zwischen jungen Menschen eher die
Chance haben, konstruktiv zu wirken, als destruktiv. Dass Kinderbanden
S-Bahnzüge demolieren, kommt vor. Wenn es aber in ihrer Lebenswelt
Besseres zu erleben gibt als das, ist es weniger wahrscheinlich…
In
diesem Alter verfügen wir im Wesentlichen über drei ‚äußere
Ressourcen’, drei Typen von Zusammenhängen mit Andern: Die eigne
Familie daheim, die Schule hinter ihren Mauern, und die
Kindergesellschaft – kid society
– draußen auf Straßen und Plätzen. In der Familie sind die
Zusammenhänge natürlich und heimlich, in der Schule sind sie künstlich
institutionalisiert und verregelt. Und statt eines unerschöpflichen
Kraftquells sind beide heut öfter Sturmzonen und Minenfelder. Die
Kindergesellschaft dagegen ist ebenso natürlicher wie öffentlicher
Zusammenhang.
Im bestimmten Gegensatz, doch insofern immer in
Wechselbeziehung zur privaten Häuslichkeit und der hieröffentlichen
Institution, ist sie auf dieser Lebensstufe vorrangige
Sozialisationsinstanz. Sie ist selber eine lebensweltliche,
nicht-professionelle Form der ‚Jugendhilfe’ und Einrichtung der
Generalprävention, die der Steuerzahler gratis kriegt.
„Die
Sozialisierung des Kindes wird im Wesentlichen in der Kindergruppe
vollzogen. Es gibt eine Kinderkultur, die unter Umgehung der Erwachsenen
von den älteren auf die jüngeren Kinder übertragen wird. In der
Kindergruppe wächst das Kind in die Gemeinschaft, und es erlebt durch
den Erwerb von sozialem und technischem Geschick eine Art von sozialem
Aufstieg, der sich mit dem Ansteigen seiner Rangposition verbindet. Die
Älteren dominieren in freundlicher Weise über die Jüngeren. In der
Kindergruppe können die Kinder ihren Spielpartner wählen. Sie können
sich mit Gleichgeschlechtlichen zusammenfinden, Anders- geschlechtliche
aufsuchen oder exklusive Freundeszirkel bilden. Schließlich kann das
Kind auch alleine spielen, wenn ihm danach zumute ist.“ (Eibl-Eibesfeld)[7]
Das traf auch auf unsern Kulturbereich zu und änderte sich „erst mit
der Ausbildung der anonymen Massengesellschaft und mit der im
technischen Zeitalter fortschreitenden Zerstörung der Siedlungen durch
den Verkehr. Kinder können sich nicht mehr so frei sozial und im Raume
entfalten wie einst.“
Nicht
zu vergessen der Einbruch des Pädagogenstandes! Die berufsmäßigen
Sozialisationstechniker sehen in den eigenen Gesellungsformen der Kinder
ihren natürlichen Feind und beteiligen sich, neben dem Straßenverkehr
und der fortschreitenten Verwertung von Räumen und Zeit, an ihrer
Brachlegung.
In Kindergärten und Horten wird der urwüchsige Zusammenhang
der Altersgruppen in Jahrgangsklassen aufgesplittert. „Mit dem
Wegfallen der älteren, vorpubertären Kinder verlieren die Kleinen ihre
anregendsten Spiel- und Sozialisationspartner außerhalb der
Kleinfamilie. Außerdem geht darüber auch die Kinderkultur zugrunde, denn
diese wird nicht von Erwachsenen tradiert.“[8] Um ihr Erbe wetteifern Schule und Kommerz, und eine entscheidende Bildungsinstanz geht verloren.
[5] Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, München 1947, Bd. I, S. 85
[6] siehe Hans Heinrich Muchow, Flegeljahre, Ravensburg 1963
[7] Irenäus Eibl-Eibesfeld, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1995, S. 815f.
[8] ebd
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