1) Arme, Kranke, Invalide, Witwen und Waisen, die zu schwach sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu er- arbeiten, hat es immer gegeben. Hat es darum “Soziale Arbeit” auch “schon immer gegeben”?
Reden wir hier nur von Mitteleuropa. Hier bestand im Mittelalter eine Agrargesellschaft, die sich teils aus Einzelhöfen, teils aus Dörfern mit wenigen Haushalten zusammensetzte. Ob nun die einzelnen Haushalte das Leiden der Elenden mit ansehen oder sich zu helfen berufen fühlen, liegt an ihrer Abhärtung (durch eignes oder fremdes Leiden). Man kann die Armen auch aus dem Dorf jagen: dann muss man weder helfen, noch das Leid mitansehen. Die Kirche gebietet Nächstenliebe, aber erzwingen kann sie sie nicht.


2) Das Ergebnis ist die Auflösung der Ständegesellschaft und Bildung eines ‘Proletariats’ aus den Zerfallsprodukten aller Stände. Nament- lich die vom Boden vertriebenen Bauern (vgl. “ursprüng- liche Akkumulation”), strömen, brotlos geworden, in die Städte. Es entsteht die Klassengesellschaft. Nicht, zu wem und wo zu ich gehöre, zählt nun, sondern nur: was ich zu tauschen habe. An die Stelle

3) Im zwanzigsten Jahrhundert, namentlich nach dem Ersten Weltkrieg, setzt sich in Europa (nicht in Amerika!) die Vorstellung durch, dass das Gemeinwesen selbst aufgerufen sei, die Bedingungen zu schaffen, daß “seine schwächsten Glieder” instandgesetzt werden, für sich selbst zu sorgen. Es ist die Idee des Sozialstaats, der wohlbemerkt nicht nur eine Frucht der Arbeit- erbewegung ist, sondern ebenso ein Erzeugnis bür- gerlicher Reform- bewegungen, wie des Wandervogels und der ganzen ‚Jugendbewegung’, Lebensreform, Volksgemeinschaft, Rassenhygiene…
4) War der alte, obrigkeitliche Klassenstaat nur-repressiv, kann der der Sozialstaat seinerseits totalitär werden!
Wenn wir rückblickend alle Einrichtungen und Tätigkeiten überblicken, die man irgendwie als Armenhilfe oder Wohlfahrtspflege bezeichnen könnte, können wir vier Paradigmen unterscheiden:

3) ‚Re’-Habilitierung, Befähigung zur Teilnahme (Pädagogik!! Anleiten, umlernen, verändern, verbessern, führen, “Defizite kompensieren”): Sozialarbeit. (Ich Schlage vor, von “Sozialarbeit” immer erst dort zu sprechen, wo der Gesichtspunkt der Re-Habilitierung im Vordergrund steht.)
4) Weltverbesserung (die Menschen verändern, damit die Welt sich ändert): Gesellschaftsreform, Erziehungsdiktatur…
(Es gibt, übergreifend über die vier Paradigmen, eine ‘transversale’ persönliche Haltung, die man Philanthropismus nennen kann: “Gutes tun!” Dahinter steckt der nicht uneitle Gestus ‚Ich als Wohltäter’, und das ist ein Dauerproblem der Helfenden Berufe: die Konkurrenz von Sachbezug und Selbstbezug! {Philanthropismus als polizeyliche Methode, evtl. wider Willen: Mary Richmond, vgl. Müller, Bd. II, S. 88!}
Alle diese vier Paradigmen haben eine Grundannahme – “Selbstverständlichkeit”! – gemeinsam: daß “das Gemein- wesen” eine moralische Realität ist, nämlich ein willensfähiges Subjekt, das Normen setzt. Denn nur so kann man das Leiden als mehr verstehen denn eben als Leiden: nämlich als Mangel, als Defizit, als Nicht-Genügen, als Versagen vor einer Norm – die folglich wiederhergestellt werden muss! Armenhilfe, Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit verstehen sich als ausnahmsweise Notmaßregel, um einen gebotenen, aber beschädigten Soll-Zustand zu restaurieren; um die verletzte Regel neu geltend zu machen. Gesetzt ist: eine gültige Ordnung, in die die Menschen zu fügen sind. (Notabene: Wer Sozialarbeit betreibt, ‘um die Welt zu verändern’, will eine andere Ordnung geltend machen: Die Menschen sollen sich heute in die Ordnung von morgen… fügen.)
Ich glaube, dass die (rückblickende) Identifizierung und damit die Unterscheidung der vier Paradigmen erst heute möglich geworden ist, weil sie alle vier – obsolet geworden sind.

Helfende Beratung wird heute zu einer regulären Dienstleistung: Das Leben ist unübersichtlich geworden, und wer den Rat eines Experten in Anspruch nimmt, definiert sich dadurch nicht als “defizitär”, sondern als einer, der alle vorhandenen Ressourcen zu nutzen weiß. Er ist heute der Normale, und nicht mehr ‘Klient’* oder ‘Randgruppe’. Zu einem besonderen Problem der Sozialarbeit werden nunmehr die, die gar nicht merken, dass sie Hilfe brauchen, oder nicht mehr hoffen, Hilfe zu finden. Sie muß die Sozialarbeit auf ihre “Angebote” aufmerksam machen, indem sie markante ‚Zeichen setzt’.

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