Meine Blogs

Dienstag, 27. März 2018

Die Parabel vom schlimmen Kind


Nicht, dass es in einer Familie Konflikte gibt, macht die familiäre Situation pathogen; denn krankhaft ist ja nicht das Leiden selbst: das gehört zum Leben. Krankhaft ist erst der Zwang zum Leiden, und pathologisch wird das familiäre Geschehen in dem Maße, wie das Leiden zwanghaft wird. Wie aber kommt es zu dem Zwang? Wo die Konstellation der Leidenschaften in der Familie so beschaffen ist, dass die jeweils nächste Krise erfahrungsge- mäß unausweichlich erscheint; wo derart die Krise latent wird; dort wird schließlich das Warten selbst zur Qual, die Spannung wächst ins Unerträgliche, und wenn es dann „endlich wieder so weit ist“, wird der Ausbruch mit Erleichterung begrüßt: als Entladung und Entspannung. Nun beherrscht das Warten auf die Krisis den familiären Alltag, das Warten wird zur Erwartung, der Paroxysmus wird zu Erfüllung: die Krise ist endemisch geworden. 

Und nun gibt es immer einen, der das Warten weniger verkraftet als die andern; und der wird den Eklat zielstre- big beschleunigen und wirkt daher wie dessen Urheber, der nicht der Familie, sondern auch dem Beobachter als der eigentlich „gestörte“, weil störende Faktor im System erscheint. Und das ist in einem gewissen Sinne auch nicht einmal falsch – insofern nämlich, als es sich sicher um das schwächste Glied der Konstellation handelt; denn er hatte dem Erwartungsdruck als erster nachgegeben. Er wird nun auch derjenige sein, dem sie ihre Qua- len gebündelt auf die Schultern packen, dass er sie, wie ein Kreuz, stellvertretend für alle trage. Wie kann er jetzt noch anders reagieren, als auszuweichen in eine nunmehr tatsächlich pathologische Dynamik?


Vom völligen Ausstieg aus der Welt der Tatsachen – den sog. Psychosen – rede ich hier nicht. [5] Ich rede von jenen Fällen eines krankhaften Arrangements mit den Tatsachen – und zwar krankhaft insofern, als es die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat: durch phantasmagorische Umdeutung der (familiären) Gegebenheiten, [5] durch jene „Privatlogik“, die das falsche Verhalten „begründen“ soll, aber zugleich, als dessen Rechtfertigung, zum stabilisierenden Faktor des Familiengeschehens wird – indem sie nämlich seinen pathologischen Charakter stabi- lisiert. Die Identifizierung und Auszeichnung dieses schwächsten Gliedes als schwarzes Schaf gehorcht einer eigenen Ökonomie, die es näher zu beleuchten gilt, da sie uns darauf verweist, an welcher Stelle der „therapeu- tische Eingriff“ anzusetzen hat. Die Schwäche des schwarzen Schafs war es ja gewesen, das Warten nicht auszu- halten. 

Mit dem Warten hat es aber nun eine eigene Bewandtnis: es fügt dem Leiden das Bewusstsein des Leidens hinzu – und die quälende Frage: warum? Das ist es, was das Warten so unerträglich macht. Dagegen ist der Paroxys- mus, als Freisetzung aller angespannten Energien, zugleich ein Moment höchster Aktivität, in dem das Subjekt sich tätig erlebt – und eben nicht leidend. Die dynamische Quelle der Chronizisierung, des Wiederholungs- zwangs, und schließlich des pathologischen Absturzes, ist das Streben, durch Installierung einer akuten Dauer- krise den Schein permanenter Tätigkeit aufzuführen, um das Leiden nicht wahrhaben zu müssen. Wobei die Tragödie des schwarzen Schafes dies ist, dass es sein Leidensgefühl immer nur unvollkommen betäuben kann, dass sein Stratagem es aber auf der anderen Seiten seinen Mittätern im pathologischen Prozeß erlaubt, sich auf seine Kosten schadlos zu halten und all ihr eigenes Elend auf ihn zu projizieren. Und insofern ist es auch gerechtfertigt, das „gestörte“ Kind nicht bloß als Indikator, sondern auch als Opfer einer pathologischen Konstellation anzusehen. 

Opfer und Bürge 

Als Opfer ist es aber eben nicht nur Indikator, sondern auch konstitutives Element des krankhaft veränderten familiären Systems. Und das erklärt den so regelmäßigen Widerstand der Familien gegen die Anmutung, sich von ihrem Schmerzenskind trennen zu sollen, und die wachsende Vorliebe für „ambulante“ Maßnahmen. Denn die Entfernung dieses ihres Zeugen reißt eine Lücke in den pathologischen Funktionszusammenhang und zwingt die Familie, sich auf die veränderte Situation umzustellen – was schlechterdings nicht möglich ist, ohne auf die vor- herige Situation zu reflektieren. Und mag man sich bei dieser Reflexion auch gegenseitig etwas vorlügen, so ist das so teuer erkaufte Gleichgewicht der familiären Ökonomie erst einmal dahin. 

Und das ist die Bedingung dafür, dass die Familie eine Anstrengung zur Selbstheilung überhaupt ins Auge fassen kann – wenn auch noch keine Garantie für deren Erfolg. Der Heimaufenthalt ist darum nicht allein als ein Ein- griff in das Leben des Kindes zu betrachten, sondern im selben Maße als ein Vorstoß ins Innere der Familie selbst. Die Versetzung des Kindes in eine völlig neue Lebenssituation dynamisiert nicht nur dessen stereotyp verhärteten Verhaltensweisen, sie dynamisiert zugleich die verhärtete Familienkonstellation.


[5] Der Übergang von ‚Umdeutung’ der Welt zum ‚Ausstieg’ ist fließend – so wie der zwischen ‚akut’ und ‚chronisch’. 

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen