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Donnerstag, 29. März 2018

Katharsis.


Und gerade dafür lieferte Le Petit Sénart den schlüssigen Beweis – freilich e contrario. Neben dem Internat (Wochenheim) gab es da nämlich auch noch ein Externat (Tagesheim). Nach der landläufigen Regel, wonach Fremdunterbringung nur als letzter Versuch in Frage kommt, hätte man erwarten sollen, dass sich die „schwersten“ Fälle im Internat, die „leichteren“ aber im Tagesheim gesammelt hätten. Aber das Gegenteil war der Fall. Während die achtzig Internatskinder, mit Ausnahme von drei bis fünf wirklich Verrückten, eigentlich nur mehr oder weniger „schwererziehbar“ waren, trugen die vierzig Externatsschüler ihre „Störung“ als sichtbares Stigma buchstäblich in Antlitz und Haltung eingezeichnet, so dass man ausnahmslos von weitem erkennen konnte, wer ins Externat ‚gehörte’ und wer ins Internat. Das Externat bot eine Konzentration schwerster Persönlichkeitsstörungen, während unser Internat eigentlich kaum etwas anderes als ein ganz gewöhnliches Kinderheim war (wenn auch eines mit einem Tagessatz von – damals, vor über dreißig Jahren – umgerechnet 300 Mark).
 
Bezeichnenderweise war dieses Paradox im Petit Sénart ein Unthema. Es war tabu und bot allenfalls Anlaß für die Sarkasmen der Internatserzieher – außerhalb der Sitzungen. Die Erklärung war ja auch zu augenfällig. Je markanter die „Zeichnung“ des Opferlamms, umso schwerer die Schuld derer, deren Sünden es trägt. Je krasser das Symptom des Kindes, umso tiefer die Pathologie der ganzen Familie. Umso notwendiger, ihr das Opfer zu entziehen; umso heftiger aber auchihre Weigerung, es ziehen zu lassen. Das familiäre Wahnsystem bedarf der sinnfälligen Gegenwart seines Opfers – als des Zeugen, das ihm seine Realität verbürgt. Kommt er abhanden, droht das Kartenhaus einzustürzen. Wenn je Trennung indiziert ist, dann in solchen Fällen.

Warum also das Externat? Anstelle einer Begründung machte das Wort von der „leichten Institution“ die Runde, die das Externat im Unterschied zur „schweren“ Institution des Wochenheims darstelle – welche den kleinen Patienten nur eine neue, unnötige Bürde auferlege… Eine „leichte“ Institution ist das Tagesheim in der Tat, allerdings für die, die dort ihr Brot verdienen. Für die Kinder ist es die schwerere.

Zwischen Hammer und Ambß
 
Da ist erstens die Last des therapeutischen Blicks. Den Tagesablauf im Externat können swich die Professionellen ohne Mühe als eine prolongierte therapeutische Sitzung vorstellen – acht Stunden mit einem deutlichen Anfang und einem deutlichen Ende. Man kann sich andauernd vorstellen, dort zu arbeiten – am Symptom“. Wogegen im Heimalltag rund um die Uhr unvermeidlich alles andere, das Außerprofessionelle, das Gewöhnliche, eben das Normale immer wieder sein Recht verlangt und auch bekommt. Der Heimerzieher kann sich psychoökonomisch gar nicht leisten, selbst das verrückteste Kind nur als „krank“ anzusehen, ohne auf die Dauer selber einen Sprung in der Schüssel davonzutragen. Das Heim ist Alltag, bloß das Externat ist „Sitzung“.

Und nachdem die Kinder im Externat dann acht Stunden lang einem Trommelfeuer therapeutisch zweckmäßiger Veranstaltungen ausgesetzt waren, dürfen sie in die Familie zurück, deren Kreuz sie tragen; kommt das Lamm zurück auf den Altar, wo es allabendlich geopfert wird. Da wundert es dann auch nicht mehr, dass auf die „Arbeit mit der Familie“ – im Internat ein strenges Muß – im Externat kein so großer Wert gelegt wurde. Sicher ist sicher.

Katharsis, acting out

Unser therapeutisches Tagesheim musste zufrieden sein, wenn es gelang, den pathologischen Status quo zu stabilisieren – um jenen Modus vivendi dann als „Normalisierung“ zu beschönigen. Es begab sich des mächtigsten therapeutischen Hebels – der Trennung als Katharsis. Die Trennung unterbricht schlagartig das chronisch gewordene familiäre Handlungsschema und spitzt auf unerhörte Weise seine Erlebnisqualität zu. Die Emotionen werden dramatisch aktiviert, und zugleich können sich im neu gewonnenen Abstand die Beteiligten zum erstenmal erlauben, das Empfundene zu… erleben.

Es ist dies kathartische Ereignis, das den Heimaufenthalt therapeutisch wirksam macht. Denn das alles findet nicht in der Vorstellung statt, sondern wird wirklich ausgetragen. Letzteres freilich nur, wenn das Kind einstweilen aus dem familiären Alltag entfernt, nicht jedoch aus dem leben der Familie abgeschafft ist: denn als verfremdendes Moment kann die Entfernung des Kindes nur wirken, wenn es, durch regelmäßige besuchsweise Rückkehr, in der Vorstellung präsent bleibt. Und gerade weil solche Rückkehr das Befinden des Kindes und seiner Familie gleichermaßen „beunruhigt“, kann der Heimaufenthalt auf das familiäre Befinden reinigend wirken. Die umso eher, wenn professionell begleitete Familienkonferenzen dafür sorgen, dass die Dinge nicht vor der Zeit wieder ins (schiefe) Lot gebracht werden.

Die Entlastung der Familie und des Kindes vom allgegenwärtigen Druck einer akuten Dauerkrise zielt also nicht darauf ab, den Konflikt vergessen zu machen; sondern im Gegenteil, ihn in der Distanz zu verdeutlichen, zu objektivieren und zu vergegenwärtigen, um ihn produktiv bearbeiten zu können. Es geht nicht darum, die (selbst-) zerstörerischen Leidenschaften hinwegzukurieren, sondern darum, Lebensumstände zu schaffen, unter denen sie niemanden (mehr) zerstören können: weil sie aus dem Alltag „entfernt“ sind. 

Und der reinigende Effekt der Trennung bestünde nicht darin, den leidenschaftlichen Charakter der familiären Bindungen – etwa durch eine „klärende Aussprache“ – zu versachlichen zu einem kontraktlichen Modus vivendi; auch nicht darin, an die Stelle „schlechter“ Leidenschaften „gute“ zu setzen; sondern lediglich darin, wieder „normal“ mit einander verkehren zu können – wenn nämlich die Leidenschaften aus ihrer Verquickung mit den Rang- und Geltungsproblemen gelöst sind, die die familiären Alltagsgeschäfte aufwerfen, insoweit sie zugleich „Sozialisierungsprozeß“ sind. Ob sie mit ihrer Färbung dann auch ihren Charakter ändern, liegt ganz in der Hand der Familienangehörigen selbst. Was sie nicht fertigbringen, wird nun auch keine therapeutische Technik mehr vermögen. 

Das muß aber auch nicht der Ehrgeiz der Therapeuten sein. Das therapeutische Ziel ist so umschrieben, dass der emotionale Kontakt zwischen Kindern, Eltern und Geschwistern wiederhergestellt und konsolidiert, und namentlich die Gefahr eines Kontaktbruchs durch Flucht in den Irrsinn abgewendet wird. Daß darüber hinaus die familiären Beziehungen so weit saniert werden, dass der Kontakt wieder im Alltag stattfindet, d. h. dass das Kind dauerhaft nach Hause zurückkehren kann, ist wünschenswert; ist aber an sich selber kein Kriterium für Erfolg oder Misserfolg des therapeutischen Programms.



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