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Samstag, 31. März 2018

Der Plan eines "Kinderhauses" in Berlin-Friedrichshain.

aus Das "Kinderhaus" - Modell einer feldbezogenen Sozialarbeit
 
Das populärste Schlagwort der gegenwärtigen Sozialarbeit heißt [oder hieß?] sozialräumliche Orientierung. Und mancher führt es im Munde, als habe er soeben Amerika entdeckt. Aber es waren  schon ein paar Pioniere vorher da. 

In den Jahren 1990-1994 betrieb die Diaphora. Gesellschaft für neue Erziehung mbH das Projekt eines Verbundes von „Kinderhäusern“ in Berlin und Umgebung. Im Sommer 1994 konnte das erste Kinderhaus  – Little Space in der Boxhagener Straße in Friedrichshain – eröffnet werden. Es kam aber wohl zu früh. Schon nach wenigen Monaten musste es Insolvenz anmelden. Vielleicht findet es unter günstigeren Bedingungen einen Nachfolger? Darum hier noch einmal die damalige „Allgemeine Konzeption“.

 
 

Allgemeine Konzeption für einen Verbund von
Kinderhäusern
im Berliner Raum
 
aus: Jugendhilfe (Luchterhand) Heft 8/1993

Aufgaben der Sozialarbeit  

Das System der sozialen Arbeit ist im Umbruch begriffen. Im Zeichen von Differenzierung – Individualisie- rung – Pluralisierung kann die Sozialarbeit nicht mehr als normativer Ordnungsfaktor gelten. Sie muß sich als reguläres Dienstleistungsangebot neu definieren. Ihr spezifischer Charakter ist helfende Beratung. Keine Lebensweise ist heute an und für sich richtiger als eine andere. Die Unterscheidung von Notfall und Normal- fall gewinnt zusehends wertenden Charakter und läßt sich kaum noch objektivieren. Die Sozialarbeit muß sich von doktrinalen Fragestellungen freimachen und zu einer streng pragmatischen Sichtweise entschließen. Sie bewerkstelligt keine Lösungen, sondern sucht nach Bedingungen, die günstiger sind als andere. Ihr Krite- rium ist nicht mehr ‚normal oder unnormal’, sondern nur noch ‚mehr oder weniger’.

Ihre Aufgaben werden dadurch unspezifischer. Der einzelne Sozialarbeiter muß nun, als Fachmann für Alles, ‚mehr können’ als die Spezialisten von gestern, denn er wird sich von Fall zu Fall umstellen müssen. Ebenso unspezifisch müssen die Institutionen der sozialen Arbeit werden. Sind die Maßstäbe für normal und unnor- mal einmal verloren, werden auch die Differentialdiagnosen über ‚Störungsart’ und ‚Abweichungsgrad’ hin- fällig. Die Einrichtungen können sich nicht mehr selber typologisieren und klassifizieren, indem sie ihre Kli- entel nach ‚Merkmalen’ sortieren; sondern die Nutzer selbst definieren den Charakter des Angebots durch die Art und Weise, wie sie davon Gebrauch machen. Das heißt: Welches die ‚geeignete Behandlung’ ist, muß sich im Prozeß helfender Beratung selbst erweisen können. Das reduziert die Fehlgriffe und ist vom mensch- lichen und vom fiskalischen Standpunkt aus sparsamer.

Namentlich die Unterscheidung zwischen ‚weicher’ Jugendhilfe (Prävention, ‚Förderung’) und ‚harter’ Jugendhilfe (Intervention, ‚Hilfe zur Erziehung’) sowie zwischen stationären und ambulanten Diensten muß überwunden werden durch allgemeine, d.h. umfassende Angebote, die grundsätzlich allen möglichen Nutzern und Bedarfslagen offenstehen. ‚Hohe Schwellen’, die das Eingeständnis eigner Mangelhaftigkeit zur Bedingung für die Gewährung von Hilfe machen, schrecken ab und müssen zur (je zu begründenden) Ausnahme werden: Hilfe ist umso wirksamer, je zeitiger sie in Anspruch genommen wird. Aus haushälterischer Sicht müssen niedrige Schwellen und kurze Wege zur Regel der neuen Sozialarbeit werden.

Wer helfende Beratung in Anspruch nimmt, definiert sich nicht ipso facto als defizitär. Das moderne Leben hat bis in die privatesten Winkel seine Selbstverständlichkeit verloren und fordert immer wieder scharfe Wendungen. Krisen sind nicht Symptome von Devianz, sondern Bestandteil des Normalen. Nicht der Ratsuchende ist problematisch, sondern der, der keine Hilfe mehr zu finden hofft. Ihm muß die soziale Arbeit sich anbieten, indem sie im ‚Feld’ Zeichen setzt.

Vor allem die Formen des persönlichen Zusammenlebens haben aufgehört, selbstverständlich zu sein. Einst verdankte die Familie ihre Selbstverständlichkeit dem Umstand, daß sie als Versorgungsbetrieb für den Einzelnen unersetzlich war. Doch ihre hauswirtschaftliche Bedeutung ist ihr durch öffentliche wie kommerzielle Dienstleister nach und nach abgenommen worden, ebenso wie ihre sozialisatorischen Aufgaben. Privates Zusammenleben verengt sich seither immer mehr auf die bloße Beziehungsebene. Die Folge ist eine Informalisierung der Verhaltensmuster, alles muß immer wieder neu ausgehandelt werden. An die Stelle der Ökonomie ist Psychoökonomik getreten. Wechselseitige Glückserwartungen wuchern und belasten die intimsten Bereiche mit dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung, so dass es den Einander-Angehörigen immer seltener gelingt, Nähe und Distanz in ein zuträgliches Verhältnis zu bringen. (Die auffällige Zunahme der sog. „Kernstörungen“ in der psychotherapeutischen Klinik hängt damit zusammen.) Die modernen Familienbildungen sind ihrem Wesen nach störanfällig, und was vormals als Hort der Geborgenheit einen Gegenpol zur öffentlichen Konkurrenz bildete, erscheint heute als der eigentlich riskante Teil des Lebens.

 

Kinder sind für ihre Eltern heute wichtiger als je zuvor. Sie kommen schon mit gewaltigen Erwartungen beladen zur Welt und müssen im System gegenseitiger Zuwendungsansprüche oft die Vermittlerrolle übernehmen, und gegebenenfalls den (mehrfachen) ‚Delegierten’ spielen. Das lebensgeschichtlich unumgängliche ‚Drama von Trennung und Versöhnung im Jugendalter’ (H. Stierlin) nimmt unter solchen Voraussetzungen immer häufiger katastrophische Formen an. Es entsteht eine ‚Ausreißerkultur’ mit Querverbindungen zur kriminellen und Drogenszene, deren Existenz eine weitere Bedrohung für den Bestand der Familien ist.

Die Pubertät, als der kritische Lebensabschnitt par excellence, wird dabei in der Öffentlichkeit heute bezeichnenderweise vor allem als eine „Lücke“ wahrgenommen. Lausbubenstreiche, die einst selbstverständlich waren, werden nun als Gewaltbereitschaft und Bandenwesen skandalisiert und diskriminiert.

Es handelt sich um eine langfristige zivilisatorische Entwicklung in allen modernen Gesellschaften. Unerwartet zugespitzt erscheint sie im Osten Deutschlands in der Folge des sozialen und kulturellen Umbruchs durch die Wiedervereinigung. Dort hatte die Quasi-Monopolisierung aller Versorgungsfunktionen durch den Staat und seine ‚gesellschaftlichen Organisationen den Einzelnen von der Verantwortung für seine Lebensführung weitgehend enteignet. Die Familie überlebte als eine Nische, die – im doppelten Sinn – von den „Beziehungen“ zusammengehalten wurde; nicht aber durch ein gemeinsames Lebensrisiko. Mit dem unvorbereiteten Einbruch materieller Unsicherheit beim Übergang in die Marktwirtschaft wird nun keineswegs die Selbstverständlichkeit der (klein-) bürgerlichen Zellen-Familie restauriert, sondern werden im Gegenteil die familialen Beziehungen einer zusätzlichen Zerreißprobe ausgesetzt. Der spektakuläre Rückgang der Ehescheidungen ist dabei eher ein Zeichen von Vorsicht als von Zuversicht und könnte sich als Zeitbombe erweisen.

Im Westen Deutschlands stellen sich die Sozialarbeiter nach und nach, tastend und manchmal unentschlossen, auf ihre neuen Aufgaben ein; die Neubestimmung ist noch nicht an ihrem Ziel, aber schon im Gang. Im Osten des Landes muß dagegen das System der sozialen Arbeit neu aufgebaut werden. Eine bloße Anpassung an das westliche Ist-Niveau würde einerseits den dortigen Erfordernissen schon nicht mehr gerecht, und könnte andererseits den Innovationsprozeß im Westen nur hemmen. Im Osten besteht die Chance und die Notwendigkeit, Sozialarbeit von vornherein als öffentliches Dienstleistungssystem einzurichten, und zwar sowohl durch eine entsprechende Ausbildung der Professionellen als durch die Implementierung von Modelleinrichtungen. So könnte die Sozialarbeit im Osten Deutschlands zur Schrittmacherin des fälligen Modernisierungsschubs im ganzen Land werden.



Freitag, 30. März 2018

Eine situative Therapeutik





Ob und in welchem Maße ein Kinderheim fördert oder hemmt, hängt außer vom guten Willen der dort Lebenden auch noch von seiner inneren Verfassung ab. Dies ist eine situative, systemische Form der Therapeutik, wo es nicht so sehr auf dieses Wort oder jene Tat des einen oder des anderen bei der und der Gelegenheit ankommt, sondern auf den Charakter des ganzen Interaktionsflusses selbst. Ich habe das an anderer Stelle ausgeführt. [6] Hier sei nur das festgehalten: Es ist in dieser Perspektive direkt widersinnig, zur Grundlage des Heimalltags „familienanaloge Gruppen“ machen zu wollen, die dann, zwecks „intensivierter Betreuung“, auch noch besonders klein sein müssen. Es kann die Freisetzung der heilsamen Strebungen des Kindes nur behindern, wenn sich hier Leute an die Stelle seiner eigenen Eltern drängen wollen. Hier geht es nicht darum, die schlechte durch die gute Familie zu ersetzen. Es geht darum, im wirklichen einen Abstand zu legen zwischen den Alb von gestern und das heute je noch Mögliche. Darum, das Kind zu einem neue Wagnis zu verlocken. „Therapie“ heißt hier:

Ent-Bindung, Entlastung, Entlassung.

Da tut der Erzieher dann gut daran, das lästige Phantom des „gestörten Kindes“ aus seinem Kopf zu verjagen. Es erlaubt einer zweifelhaften Institution, sich ei n gutes Gewissen zu machen. Aber es hilft ihm nicht um einen Deut, das Kind, das er da in seinem Alltag trifft, besser zu „verstehen“. Er hat buchstäblich nichts davon, dass er es als Fall einer Regel zuordnet. Diagnostische Kategorien sind bestenfalls Metaphern, die erlauben, intelligente Fragen zu stellen. Antworten geben sie nicht.

Überhaupt ist der Erzieher ganz schlecht beraten, wenn er sein Augenmerk vor allem auf das heftet, was an dem Kind schlimm ist. Er sollte zusehen, dass er sich vielmehr all dem anderen zuwenden kann – dem, was nicht schlimm ist. Denn erst dann darf er darauf rechnen, dass das Kind seine Wendung mitmacht. Aber es ist wahr, dass das ein liberaler Ort sein muß, der einem erlaubt, vom Schlimmen und dem, was gestern war, abzusehen.


Eine faire Chance

Ich behaupte nicht, dass die therapeutischen Qualitäten einer geselligen Situation injedem Fall ausreichen. Es mag immer noch viele Fälle geben, wo die Blicke des Therapeuten in die Tiefe gehen, wo Geheimnisse zur Sprache gebracht werden müssen. Aber ich argumentiere, dass an der Stelle nicht angefangen werden darf. Denn in Wahrheit sind die Psychotherapien – und die introspektiven zumal – ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeit, der erst in Frage kommt, wenn seine Notwendigkeit erwiesen ist – weil die „leichteren“ Mittel erfolglos blieben.

Es wird höchste Zeit, wieder auf die „Schädlichkeit der psychologischen Atmosphäre“ aufmerksam zu machen, die Karl Jaspers schon 1911 benannt hat. [7] Schädlich gerade für Kinder, die vielleicht eben in der Entscheidung stehen, ob sie de n psychotischen Rückzug aus der Welt der Anderen wählen sollen oder nicht. Die „psychologische Atmosphäre“ bannt in einer Weise die ganze Aufmerksamkeit des Subjekts auf seine Not – und zieht sie ab von all dem andern -, die geeignet ist, den psychotischen Schub gerade herbeizuführen, den man dann hinterher hingebungsvoll „behandelt“. Es ist, als ob man einen, der am Abgrund steht, auch noch zwingt, hinunter zu sehen: ein sicheres Mittel, dass er stürzt. durch jene „Privatlogik“, die das falsche Verhalten „begründen“ soll, aber zugleich, als dessen Rechtfertigung, zum stabilisierenden Faktor des Familiengeschehens wird – indem sie nämlich seinen pathologischen Charakter stabilisiert. Die Identifizierung und Auszeichnung dieses schwächsten Gliedes als schwarzes Schaf gehorcht einer eigenen Ökonomie, die es näher zu beleuchten gilt, da sie uns darauf verweist, an welcher Stelle der „therapeutische Eingriff“ anzusetzen hat. Die Schwäche des schwarzen Schafs war es ja gewesen, das Warten nicht auszuhalten.

Ein psychotherapeutischer Eingriff zur Unzeit ist gefährlich. Schon für Erwachsene, umso mehr für Kinder. Er ist wirklichnur als letzter Versuch zu rechtfertigen, wenn alle andern Stricke gerissen sind. Es ist eine „schwere“ Maßnahme auch in dem Sinn, dass sie die Verantwortung für Heilung dem Kind allein aufbürdet. Die Familie sieht nur zu.

Am Anfang muß der heilsamen Dynamik der Trennung eine Chance gegeben werden – weil so die ganze Familie eine Chance hat. Kinderheime müssen so eingerichtet werden, dass sie nicht mehr Notnagel im hoffnungslosen Fall zu sein brauchen, sondern guten Gewissens als allgemeine Möglichkeit angeboten werden können: als ein nahe liegender erster Versuch, sobald die Probleme ernster werden – und um sich schwerere Geschütze später zu ersparen.
 

[6] J. Ebmeier, Geselligkeit als Regel II, in: Neue Praxis 6/1990 
[7] Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Berlin 6/1953

Donnerstag, 29. März 2018

Katharsis.


Und gerade dafür lieferte Le Petit Sénart den schlüssigen Beweis – freilich e contrario. Neben dem Internat (Wochenheim) gab es da nämlich auch noch ein Externat (Tagesheim). Nach der landläufigen Regel, wonach Fremdunterbringung nur als letzter Versuch in Frage kommt, hätte man erwarten sollen, dass sich die „schwersten“ Fälle im Internat, die „leichteren“ aber im Tagesheim gesammelt hätten. Aber das Gegenteil war der Fall. Während die achtzig Internatskinder, mit Ausnahme von drei bis fünf wirklich Verrückten, eigentlich nur mehr oder weniger „schwererziehbar“ waren, trugen die vierzig Externatsschüler ihre „Störung“ als sichtbares Stigma buchstäblich in Antlitz und Haltung eingezeichnet, so dass man ausnahmslos von weitem erkennen konnte, wer ins Externat ‚gehörte’ und wer ins Internat. Das Externat bot eine Konzentration schwerster Persönlichkeitsstörungen, während unser Internat eigentlich kaum etwas anderes als ein ganz gewöhnliches Kinderheim war (wenn auch eines mit einem Tagessatz von – damals, vor über dreißig Jahren – umgerechnet 300 Mark).
 
Bezeichnenderweise war dieses Paradox im Petit Sénart ein Unthema. Es war tabu und bot allenfalls Anlaß für die Sarkasmen der Internatserzieher – außerhalb der Sitzungen. Die Erklärung war ja auch zu augenfällig. Je markanter die „Zeichnung“ des Opferlamms, umso schwerer die Schuld derer, deren Sünden es trägt. Je krasser das Symptom des Kindes, umso tiefer die Pathologie der ganzen Familie. Umso notwendiger, ihr das Opfer zu entziehen; umso heftiger aber auchihre Weigerung, es ziehen zu lassen. Das familiäre Wahnsystem bedarf der sinnfälligen Gegenwart seines Opfers – als des Zeugen, das ihm seine Realität verbürgt. Kommt er abhanden, droht das Kartenhaus einzustürzen. Wenn je Trennung indiziert ist, dann in solchen Fällen.

Warum also das Externat? Anstelle einer Begründung machte das Wort von der „leichten Institution“ die Runde, die das Externat im Unterschied zur „schweren“ Institution des Wochenheims darstelle – welche den kleinen Patienten nur eine neue, unnötige Bürde auferlege… Eine „leichte“ Institution ist das Tagesheim in der Tat, allerdings für die, die dort ihr Brot verdienen. Für die Kinder ist es die schwerere.

Zwischen Hammer und Ambß
 
Da ist erstens die Last des therapeutischen Blicks. Den Tagesablauf im Externat können swich die Professionellen ohne Mühe als eine prolongierte therapeutische Sitzung vorstellen – acht Stunden mit einem deutlichen Anfang und einem deutlichen Ende. Man kann sich andauernd vorstellen, dort zu arbeiten – am Symptom“. Wogegen im Heimalltag rund um die Uhr unvermeidlich alles andere, das Außerprofessionelle, das Gewöhnliche, eben das Normale immer wieder sein Recht verlangt und auch bekommt. Der Heimerzieher kann sich psychoökonomisch gar nicht leisten, selbst das verrückteste Kind nur als „krank“ anzusehen, ohne auf die Dauer selber einen Sprung in der Schüssel davonzutragen. Das Heim ist Alltag, bloß das Externat ist „Sitzung“.

Und nachdem die Kinder im Externat dann acht Stunden lang einem Trommelfeuer therapeutisch zweckmäßiger Veranstaltungen ausgesetzt waren, dürfen sie in die Familie zurück, deren Kreuz sie tragen; kommt das Lamm zurück auf den Altar, wo es allabendlich geopfert wird. Da wundert es dann auch nicht mehr, dass auf die „Arbeit mit der Familie“ – im Internat ein strenges Muß – im Externat kein so großer Wert gelegt wurde. Sicher ist sicher.

Katharsis, acting out

Unser therapeutisches Tagesheim musste zufrieden sein, wenn es gelang, den pathologischen Status quo zu stabilisieren – um jenen Modus vivendi dann als „Normalisierung“ zu beschönigen. Es begab sich des mächtigsten therapeutischen Hebels – der Trennung als Katharsis. Die Trennung unterbricht schlagartig das chronisch gewordene familiäre Handlungsschema und spitzt auf unerhörte Weise seine Erlebnisqualität zu. Die Emotionen werden dramatisch aktiviert, und zugleich können sich im neu gewonnenen Abstand die Beteiligten zum erstenmal erlauben, das Empfundene zu… erleben.

Es ist dies kathartische Ereignis, das den Heimaufenthalt therapeutisch wirksam macht. Denn das alles findet nicht in der Vorstellung statt, sondern wird wirklich ausgetragen. Letzteres freilich nur, wenn das Kind einstweilen aus dem familiären Alltag entfernt, nicht jedoch aus dem leben der Familie abgeschafft ist: denn als verfremdendes Moment kann die Entfernung des Kindes nur wirken, wenn es, durch regelmäßige besuchsweise Rückkehr, in der Vorstellung präsent bleibt. Und gerade weil solche Rückkehr das Befinden des Kindes und seiner Familie gleichermaßen „beunruhigt“, kann der Heimaufenthalt auf das familiäre Befinden reinigend wirken. Die umso eher, wenn professionell begleitete Familienkonferenzen dafür sorgen, dass die Dinge nicht vor der Zeit wieder ins (schiefe) Lot gebracht werden.

Die Entlastung der Familie und des Kindes vom allgegenwärtigen Druck einer akuten Dauerkrise zielt also nicht darauf ab, den Konflikt vergessen zu machen; sondern im Gegenteil, ihn in der Distanz zu verdeutlichen, zu objektivieren und zu vergegenwärtigen, um ihn produktiv bearbeiten zu können. Es geht nicht darum, die (selbst-) zerstörerischen Leidenschaften hinwegzukurieren, sondern darum, Lebensumstände zu schaffen, unter denen sie niemanden (mehr) zerstören können: weil sie aus dem Alltag „entfernt“ sind. 

Und der reinigende Effekt der Trennung bestünde nicht darin, den leidenschaftlichen Charakter der familiären Bindungen – etwa durch eine „klärende Aussprache“ – zu versachlichen zu einem kontraktlichen Modus vivendi; auch nicht darin, an die Stelle „schlechter“ Leidenschaften „gute“ zu setzen; sondern lediglich darin, wieder „normal“ mit einander verkehren zu können – wenn nämlich die Leidenschaften aus ihrer Verquickung mit den Rang- und Geltungsproblemen gelöst sind, die die familiären Alltagsgeschäfte aufwerfen, insoweit sie zugleich „Sozialisierungsprozeß“ sind. Ob sie mit ihrer Färbung dann auch ihren Charakter ändern, liegt ganz in der Hand der Familienangehörigen selbst. Was sie nicht fertigbringen, wird nun auch keine therapeutische Technik mehr vermögen. 

Das muß aber auch nicht der Ehrgeiz der Therapeuten sein. Das therapeutische Ziel ist so umschrieben, dass der emotionale Kontakt zwischen Kindern, Eltern und Geschwistern wiederhergestellt und konsolidiert, und namentlich die Gefahr eines Kontaktbruchs durch Flucht in den Irrsinn abgewendet wird. Daß darüber hinaus die familiären Beziehungen so weit saniert werden, dass der Kontakt wieder im Alltag stattfindet, d. h. dass das Kind dauerhaft nach Hause zurückkehren kann, ist wünschenswert; ist aber an sich selber kein Kriterium für Erfolg oder Misserfolg des therapeutischen Programms.



Dienstag, 27. März 2018

Die Parabel vom schlimmen Kind


Nicht, dass es in einer Familie Konflikte gibt, macht die familiäre Situation pathogen; denn krankhaft ist ja nicht das Leiden selbst: das gehört zum Leben. Krankhaft ist erst der Zwang zum Leiden, und pathologisch wird das familiäre Geschehen in dem Maße, wie das Leiden zwanghaft wird. Wie aber kommt es zu dem Zwang? Wo die Konstellation der Leidenschaften in der Familie so beschaffen ist, dass die jeweils nächste Krise erfahrungsge- mäß unausweichlich erscheint; wo derart die Krise latent wird; dort wird schließlich das Warten selbst zur Qual, die Spannung wächst ins Unerträgliche, und wenn es dann „endlich wieder so weit ist“, wird der Ausbruch mit Erleichterung begrüßt: als Entladung und Entspannung. Nun beherrscht das Warten auf die Krisis den familiären Alltag, das Warten wird zur Erwartung, der Paroxysmus wird zu Erfüllung: die Krise ist endemisch geworden. 

Und nun gibt es immer einen, der das Warten weniger verkraftet als die andern; und der wird den Eklat zielstre- big beschleunigen und wirkt daher wie dessen Urheber, der nicht der Familie, sondern auch dem Beobachter als der eigentlich „gestörte“, weil störende Faktor im System erscheint. Und das ist in einem gewissen Sinne auch nicht einmal falsch – insofern nämlich, als es sich sicher um das schwächste Glied der Konstellation handelt; denn er hatte dem Erwartungsdruck als erster nachgegeben. Er wird nun auch derjenige sein, dem sie ihre Qua- len gebündelt auf die Schultern packen, dass er sie, wie ein Kreuz, stellvertretend für alle trage. Wie kann er jetzt noch anders reagieren, als auszuweichen in eine nunmehr tatsächlich pathologische Dynamik?


Vom völligen Ausstieg aus der Welt der Tatsachen – den sog. Psychosen – rede ich hier nicht. [5] Ich rede von jenen Fällen eines krankhaften Arrangements mit den Tatsachen – und zwar krankhaft insofern, als es die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat: durch phantasmagorische Umdeutung der (familiären) Gegebenheiten, [5] durch jene „Privatlogik“, die das falsche Verhalten „begründen“ soll, aber zugleich, als dessen Rechtfertigung, zum stabilisierenden Faktor des Familiengeschehens wird – indem sie nämlich seinen pathologischen Charakter stabi- lisiert. Die Identifizierung und Auszeichnung dieses schwächsten Gliedes als schwarzes Schaf gehorcht einer eigenen Ökonomie, die es näher zu beleuchten gilt, da sie uns darauf verweist, an welcher Stelle der „therapeu- tische Eingriff“ anzusetzen hat. Die Schwäche des schwarzen Schafs war es ja gewesen, das Warten nicht auszu- halten. 

Mit dem Warten hat es aber nun eine eigene Bewandtnis: es fügt dem Leiden das Bewusstsein des Leidens hinzu – und die quälende Frage: warum? Das ist es, was das Warten so unerträglich macht. Dagegen ist der Paroxys- mus, als Freisetzung aller angespannten Energien, zugleich ein Moment höchster Aktivität, in dem das Subjekt sich tätig erlebt – und eben nicht leidend. Die dynamische Quelle der Chronizisierung, des Wiederholungs- zwangs, und schließlich des pathologischen Absturzes, ist das Streben, durch Installierung einer akuten Dauer- krise den Schein permanenter Tätigkeit aufzuführen, um das Leiden nicht wahrhaben zu müssen. Wobei die Tragödie des schwarzen Schafes dies ist, dass es sein Leidensgefühl immer nur unvollkommen betäuben kann, dass sein Stratagem es aber auf der anderen Seiten seinen Mittätern im pathologischen Prozeß erlaubt, sich auf seine Kosten schadlos zu halten und all ihr eigenes Elend auf ihn zu projizieren. Und insofern ist es auch gerechtfertigt, das „gestörte“ Kind nicht bloß als Indikator, sondern auch als Opfer einer pathologischen Konstellation anzusehen. 

Opfer und Bürge 

Als Opfer ist es aber eben nicht nur Indikator, sondern auch konstitutives Element des krankhaft veränderten familiären Systems. Und das erklärt den so regelmäßigen Widerstand der Familien gegen die Anmutung, sich von ihrem Schmerzenskind trennen zu sollen, und die wachsende Vorliebe für „ambulante“ Maßnahmen. Denn die Entfernung dieses ihres Zeugen reißt eine Lücke in den pathologischen Funktionszusammenhang und zwingt die Familie, sich auf die veränderte Situation umzustellen – was schlechterdings nicht möglich ist, ohne auf die vor- herige Situation zu reflektieren. Und mag man sich bei dieser Reflexion auch gegenseitig etwas vorlügen, so ist das so teuer erkaufte Gleichgewicht der familiären Ökonomie erst einmal dahin. 

Und das ist die Bedingung dafür, dass die Familie eine Anstrengung zur Selbstheilung überhaupt ins Auge fassen kann – wenn auch noch keine Garantie für deren Erfolg. Der Heimaufenthalt ist darum nicht allein als ein Ein- griff in das Leben des Kindes zu betrachten, sondern im selben Maße als ein Vorstoß ins Innere der Familie selbst. Die Versetzung des Kindes in eine völlig neue Lebenssituation dynamisiert nicht nur dessen stereotyp verhärteten Verhaltensweisen, sie dynamisiert zugleich die verhärtete Familienkonstellation.


[5] Der Übergang von ‚Umdeutung’ der Welt zum ‚Ausstieg’ ist fließend – so wie der zwischen ‚akut’ und ‚chronisch’. 

 

Montag, 26. März 2018

System Familie.

  wunderfitz
 
Für das Kind ist seine Familie ein geschlossenes System, von dessen Warte es die übrige Welt als ein inkohärentes Einerlei von Fremdem erblickt. Die Familie eröffnet ihm nicht nur seine ersten Einsichten in dieses abstrakte Chaos; sie gewährleistet ihm vor allem die Sicherheit seines eigenen Blickpunkts durch die Sicherung der sozialen Bezüge. Insofern steht sie in einem Gegensatz zur Welt, die ihm, als fremde, unsicher erscheint. Und dieser Unterschied macht die gewaltige sozialisierende und charakterbildende Bedeutung der Familie für den Heran- wachsenden aus. Die Sicherheit seines Standorts im familialen System erlaubt es ihm, die Welt nicht nur als bedrohlich, sondern auch als interessant zu erleben.

Diese sichernde Funktion der Familie ist aber nicht zu verwechseln mit den notwendig leidenschaftlichen Bezie- hungen, die das Kind mit seinen Eltern und Geschwistern unterhält: diese sind gewissermaßen „schicksalhaft“; jene ist es nicht. Denn auch historisch sind jabeide nicht identisch. Ihre spezifisch sozialisierende, weil psycho- ökonomisch sichernde Bedeutung ist der Familie erst in der Moderne zugewachsen; in demselben Maß, wie die bürgerliche Welt insgesamt unsicher geworden ist – als jenes offene Universum, wo ich meinen Ort immer erst suchen muß.

Aber faktisch bilden in der modernen Familie beide Dimensionen – die leidenschaftliche wie die sozialisierende – ein System kommunizierender Röhren. Wird die sichernde Rolle der Familie defizient, dann hören ja nicht etwa die Leidenschaften auf; aber sie verändern ihre Färbung. Und umgekehrt stellen „kranke“ bzw. kränkende Leidenschaften die sichernde Funktion in Frage. Es liegt auf der Hand, dass gerade diese Verquickung beider Dimensionen den Boden für pathologische Verwicklungen aller Art bereitet: indem auf jede Störung in dem einen Bereich der jeweils andere als deren Verstärker wirkt.

Sonntag, 25. März 2018

Kindlicher Irrsinn.

aus  Gestört?

... Der landläufigen Vorstellung von Therapie liegt die Vorstellung von einem Handelnden und einem Behandel- ten zugrunde – nach dem Vorbild des Arztes im Verhältnis zu seinem Patienten: jener ist dann krank, und dieser macht ihm seine Krankheit weg

Ich will an dieser Stelle nicht die Frage erörtern, ob und wieweit seelische Leiden oder „Störungen“ überhaupt mit körperlichen Krankheiten zu vergleichen sind. (Es ist übrigens auch weitgehend eine weltanschauliche Frage, nicht so sehr eine wissenschaftlich-theoretische.) Wir haben es hier ja nicht mit seelischenStörungen überhaupt zu tun, sondern mit dem „auffälligen“ Kind. Und an diesem ist ganz besonders auffällig, dass es in den Lehrbü- chern und Nachschlagewerken der Psychiatrie so stiefmütterlich behandelt wird. Das Kapitel über „Kinder- und Jugendpsychiatrie“ ist dort in aller Regel, wenn nicht stets das kürzeste, so doch das schwammigste und undeut- lichste. 

Der Grund mag folgender sein: Die psychiatrische Nosologie und Nomenklatur ist von den spektakulären Formen der ausgereiften Geisteskrankheiten ausgegangen: den Schizophrenien namentlich. Sie bilden bis heute nicht nur den Schwerpunkt der psychiatrischen Klinik, sondern auch den natürlichen ausgezeichneten Bezugs- punkt der psychiatrischen Theoriebildung. Die „kindlichen Störungen“ sehen aus dieser Perspektive dann immer so aus wie mehr oder minder unentschlossene, unreine, „unentwickelte“ Frühformen der ausgewachsenen Psychosen. Der suchende Blick des Psychiaters rechnet auf etwas, was ihn an die ihm wohlbekannten Spielarten erwachsenen Irreseins erinnert – und findet es in den seltensten Fällen. Es ist ja direkt „auffällig“, wie selten in den Anamnesen erwachsener Geisteskranker kindliche Auffälligkeiten anzutreffen sind! Gewiß, der forschende Diagnostiker findet hinterher immer irgendwas – weil er ja danach sucht. Aber bemerkenswert ist: Die wenigsten erwachsenen Schizophrenen sind im Kindesalter als „unnormal“ aufgefallen. 

Also kann die kindliche Störung nicht einfach das Larvenstadium der ausgewachsen Psychose sein. Es handelt sich offenbar um etwas ganz anderes. Die Psychiatrie hilft sich aus ihrer Verlegenheit, indem sie der Sache einen Namen gibt. Vokabeln wie „Psychopathie“ oder – in Amerika – „Soziopathie“ sind so was wie die Hölle des Schneiders: Dahin lässt er alle Fetzen fliegen, mit denen er nichts anfangen kann.

Wenn es indessen sinnvoll ist, die Geisteskrankheiten aufzufassen als einen „pathologischen“ (d. h. zwanghaft erlittenen, nicht freiwilligen) Rückzug aus der Welt, wie sie ist – nämlich im Urteil der normalen Allgemeinheit erscheint -, in eine verkehrte Welt des Wahns, dann kann es nicht sinnvoll sein, die kindlichen „Störungen“ schon unter dieselbe Kategorie zu fassen. Denn während die Psychose ein dauerhaftes Arrangement, ein Modus vivendi darstellt, einen stabilen Kompromiß, wie ich mit der Welt, wie sie ist, leben kann, ohne in ihr leben zu müssen, „fällt“ das Kind ja gerade „auf“, wenn es sich nicht arrangiert.[4]Wenn es sich nämlich noch lange nicht damit abgefunden hat, dass nicht die Welt sich ihm, sondern es selbst sich der Welt anbequemen muß.
 
Die kindliche Störung ist regelmäßig eine Kampfstellung, die noch nicht kapituliert hat. Und da derjenige Ausschnitt von der Welt, den das Kind zu Gesicht bekommt – eben die Zelle, in der es beschlossen ist -, seinen Kampf oft genug rechtfertigt, ist es ganz verfehlt, pauschal von einer krankhaften Reaktion zu reden. Die Frage ist auch nicht einfach, wie sehr das Kind leidet. Denn krankhaft ist nicht das Leiden selbst, sondern der Zwang zum Leiden. Solange das Kind noch leidet, weil es im akuten Konflikt mit seiner Welt ist, kann der Kampf noch so oder so ausgehen – und sogar als gegenstandslos untergehen.

Noch sind die „Ursachen“ der „Störung“ in ihrem Verlauf präsent, liegen offen zu Tage. Und erst, wenn sie so weit verinnerlicht wurden, dass sie als Selbstrenner phantasmagorisch weiterwirken unabhängig von ihrer realen Gegenwart; wenn also Kampf und Leiden chronisch geworden sind, dann bekommt das Urteil „pathologisch“ einen fassbaren Sinn. Wenn es nicht mehr aufhören kann, selbst wenn es wollte – dann mag man von „Therapie“ reden. 

Wie weit die Chronizisierung fortschreiten kann, ist allerdings eine Frage des Trainings: je öfter, je länger, umso sicherer. Das ist eine Frage der Situation – und wie lange sie dauert. Die Therapie ist eine Sache von Wo und Wann. Wenn also der Erzieher seine Arbeit als ‚therapeutisch’ bestimmt, muß er dabei gewärtig bleiben, dass er es nicht mit einem Zustand zu tun hat, sondern mit einem Geschehen, das sich im Fluß befindet. Dass nämlich das Kind die Entscheidung, ob es sich in eine krankhafte Dynamik ein lassen will, noch nicht getroffen hat. Dass er also nicht einen konsolidierten Defekt im Kind zu reparieren hat, sondern dass sein „heilendes“ Eingreifen auf „Ursachen“ zielt, die im Spannungsfeld zwischen dem Kind und der Außenwelt liegen. Wohlbemerkt: im Feld, das dazwischen liegt, zwischen dem Kind und der Welt; oder auch: in der Welt, wie sie für das Kind „ist“. 

Denn es sind ja nicht die Tatsachen, wie sie an sich sind (das, „was der Fall ist“), welche die auffälligen Reaktionen des Kindes auslösen, wie in einer blinden, quasi vegetativen Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen; sondern es sind die Bilder, die sich das Kind von diesen Tatsachen macht, die es dazu bewegen, auffällig zu handeln – nämlich wenn sein Bild von der Welt „auffällig“ abweicht von dem Bild, das die Welt sich von sich selber macht. 

Also das Wirkungsfeld des Pädagogen ist nicht einfach die Welt, „wie sie ist“, sondern die Welt, wie sie in der Vorstellung vorkommt. Und der Knoten, der das Netzwerk der Figuren zusammenhält, aus denen ich mein Weltbild knüpfe, ist das Bild von mir in der Welt. Aber diese beiden – sowohl das Bild von mir als auch das Bild der Welt – sind vorbestimmt von dem Bild, das die Andern von mir und der Welt schon immer haben. Der Mensch macht sich sein Weltbild zwar selbst, aber nicht aus freien Stücken; die Stücke, die er beim Bilden verwendet, hat er vorgefunden: er tritt in eine Welt, die immer schon – von Andern – gedeutet ist; tritt in ein Geflecht von Sinngebungen, die abwechselnd aufeinander verweisen. Dieses vorgefundene Weltbild ist der Fundus, aus dem sich das Subjekt die Figuren holt, die es dann zu „seiner“ Welt zusammensetzt. Es blickt selber in Welt – aber wie in einen Spiegel.


Hier sind wir bei der Schlüsselrolle, die die Familie in der Heranbildung der kindlichen Persönlichkeit spielt: die Andern, aus deren Bildvorrat es sich „seine“ Welt baut, das sind die, die ihm zuerst am nächsten waren: die Eltern und die Geschwister. Und noch bevor es sich selbst ein Bild macht, kennt es das Bild, das diese andern von ihm schon hatten. Und das macht die Familie zum fruchtbaren Boden für Störungen aller Art. ...

1992


Donnerstag, 22. März 2018

Wer zahlt?

Bleibt immerhin die Frage: Wer zahlt?
 
Jedenfalls nicht der Ratsuchende selbst. Denn das wäre widersinnig: Helfende Beratung würde zum Luxuskon- sum für Besserverdienende; eine Variante des Psycho-Booms. Eine allgemeine Dienstleistung kann sie nur sein, wenn die Eingangsschwellen niedrig sind: auch die finanziellen. Daß es Helfende Beratung gibt, ist im Ganzen eine Gemeinschaftsaufgabe.

Darum ist sie noch lange nicht Amtswaltung des Gemeinwesens am Einzelnen. Helfende Beratung kommt durch Vertrag zustande, nicht als Maßnahme. Unser Rechtssystem beruht darauf, daß keiner ohne rechtlichen Beistand bleibt, wenn er ihn braucht. Deshalb gibt es kommunale Rechtsberatung und das Armenrecht. Daß es sie gibt, liegt im öffentlichen Interesse.

Daß die Menschen gesund und leistungsfähig bleiben, liegt im öffentlichen Interesse. Deshalb gibt es ein öffent- lich verfaßtes Gesundheitssystem. So umstritten seine Kosten immer wieder sind: Daß es sich um Dienstleistun- gen an Privatleuten handelt und nicht um Vollstreckung eines Staatszwecks, das hat noch keiner in Frage gestellt.

Und daß zum Setzen der fachlichen Maßstäbe letzten Endes die jeweilige Fachwelt – der Juristen hier, der Medi- ziner dort – immer noch am ehesten qualifiziert ist, auch nicht.
 

Was wäre also daran paradox, wenn die Existenz eines Systems Helfender Beratung durch das Gemeinwesen finanziert, seine Wirkweise aber privat verfaßt wäre? Es ist der Dünkel des öffentlichen Dienstes ebenso wie der Geltungsdrang manchen Sozialarbeiters, der hier eine Denkhemmung aufbaut; nicht der gesunde Menschenver- stand.

Daß Helfende Beratung nicht in den öffentlichen Dienst gehört, hat seine sozusagen ‚technologischen’ und ‚er- gonomischen’ Gründe: Der Charakter der Tätigkeit selbst – erraten, erfinden, verlocken, präsentieren, simulieren – hat mehr mit Kunst zu tun als mit Ordnung.[21] Aber darin kommt nur zum Ausdruck, daß sie ihrer Ortsbe- stimmung nach nicht mehr Hoheit ist, sondern Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation.


Daß sie es ist, liegt im Interesse des Gemeinwesens. Um es zu sein, dient sie nicht jenem, sondern den Privat- leuten.


Doch mit der Frage, wer zahlt, erledigt sich nicht die Frage, was es kostet. Wieviel und welche Art sozialer Arbeit eine Gesellschaft nötig zu haben meint und was sie ihr wert ist, ist eine politische Frage. Aber nicht nur. Es ist auch eine fachliche Frage; sobald es nämlich um die Qualitätskriterien geht. Und darüber entscheidet am besten die Fachwelt selbst, nicht die konstituierten politischen Korps.

Darüber, wieviel das Gemeinwesen für soziale Arbeit ausgibt, sollte die Sozialarbeit besser nicht mitreden wollen: in wessen Namen wohl? Auch nicht darüber, wie das Geld verteilt wird: Das gibt nur Zank. Aber die fachlichen Maßstäbe, nach denen der Hoheitsträger über die Verteilung öffentlicher Mittel entscheidet, die kann nur sie setzen und kein anderer.

Dazu freilich müßte sie mit einer Stimme reden. Das heißt, sie müßte sich selbst repräsentieren können. Also sich selbst verfassen: repräsentativ heißt öffentlich (nach innen wie nach außen). 
 
Als wir vor [27!] Jahren der Fachwelt unsern Vorschlag zur Selbstorganisation der Sozialarbeit in einer öffentlich-rechtlichen Kammer vortrugen,[22] da wurde er mit ohrenbetäubendem Schweigen begrüßt.

Dabei ist es bis heut geblieben


[21]siehe Eine Steinzeit-Technologie?, aaO, sowie Ein gewagtes Unternehmen – Warum soziale Arbeit nicht länger in den öffentlichen Dienst gehört
[22]siehe Befreit die Sozialarbeit ! – Ein Vorschlag zur Umordnung der Jugendhilfe in Sozial Extra 2/1991

Was ist die Sozialarbeit wert?

 
Ja, was ist die Sozialarbeit denn „wert“? 

Dies ist ihr entscheidender Unterschied von anderen Dienstleistungen: daß die hier erbrachte Lohnarbeit nicht gegen Kapital ausgetauscht wird, sondern gegen Revenü – einen außerökonomischen (hier: politischen) Abzug vom Profit der andern.[13] Es gibt nur einen, monopolistischen Nachfrager nach Sozialarbeit, nämlich das (staatlich verfaßte) Gemeinwesen selbst. Es kauft nicht, wie der Kapitalist, die Arbeitskraft der Sozialarbeiter, um ihr Arbeitsprodukt an Dritte weiterzuverkaufen; sondern es heuert den Sozialarbeiter, um seine Leistung selber zu verbrauchen – d. h. unentgeltlich an seine bedürftigen Glieder weiterzureichen. 

Etwa so, wie ein Duodez-Fürst sich einen Hofpoeten hält, der für alle reimt. Der Anbieter – Sozialarbeiter, Träger, Initiativen – gibt es viele, aber nur einen möglichen Käufer: den – hier zutreffend so genannten – Souverän. Denn da er am Markt auf keinen Mitbewerber trifft, kann er den Preis je nach seiner fancy (Marx) ermessen; je nachdem, was sie ihm „wert“ ist. Eine prozessierende Reduktion des Preises der Sozialarbeit auf ihren Tauschwert findet – anders als bei solchen Dienstleistungen, die Kapital verwerten, welches seinerseits auf dem Markt konkurriert – auch mittelbar nicht statt.
 

Reduktion der Preise auf den Tauschwert, daß heißt Ermittlung der „gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit“ durch den Realprozeß der Zirkulation: Es muß sich – im ‚Spiel von Angebot und Nachfrage’ – herausstellen, wieviel der tatsächlich aufgewendeten Arbeitszeit ‚gesellschaftlich notwendig’ war, und das heißt a limite: ob sie überhaupt notwendig war.

Da wissen die Sozialarbeiter nicht mehr, woran sie sind. Eben machen sie sich, unter Schmerzen, daran, ihre pastoralen Prätentionen auf Missionierung und Gesellschaftsreform fahrenzulassen und sich zum dienenden Organ der zivilen Welt zu bescheiden; und gleich müssen sie sich sagen lassen, daß der Preis für ihre Mühen nichtsdestoweniger… politisch bemessen wird.

 

Wer zahlt?

Bleibt immerhin die Frage: Wer zahlt?
 
Jedenfalls nicht der Ratsuchende selbst. Denn das wäre widersinnig: Helfende Beratung würde zum Luxuskon- sum für Besserverdienende; eine Variante des Psycho-Booms. Eine allgemeine Dienstleistung kann sie nur sein, wenn die Eingangsschwellen niedrig sind: auch die finanziellen. Daß es Helfende Beratung gibt, ist im Ganzen eine Gemeinschaftsaufgabe.

Darum ist sie noch lange nicht Amtswaltung des Gemeinwesens am Einzelnen. Helfende Beratung kommt durch Vertrag zustande, nicht als Maßnahme. Unser Rechtssystem beruht darauf, daß keiner ohne rechtlichen Beistand bleibt, wenn er ihn braucht. Deshalb gibt es kommunale Rechtsberatung und das Armenrecht. Daß es sie gibt, liegt im öffentlichen Interesse.

Daß die Menschen gesund und leistungsfähig bleiben, liegt im öffentlichen Interesse. Deshalb gibt es ein öffent- lich verfaßtes Gesundheitssystem. So umstritten seine Kosten immer wieder sind: Daß es sich um Dienstleistun- gen an Privatleuten handelt und nicht um Vollstreckung eines Staatszwecks, das hat noch keiner in Frage gestellt.

Und daß zum Setzen der fachlichen Maßstäbe letzten Endes die jeweilige Fachwelt – der Juristen hier, der Medi- ziner dort – immer noch am ehesten qualifiziert ist, auch nicht.
 

Was wäre also daran paradox, wenn die Existenz eines Systems Helfender Beratung durch das Gemeinwesen finanziert, seine Wirkweise aber privat verfaßt wäre? Es ist der Dünkel des öffentlichen Dienstes ebenso wie der Geltungsdrang manchen Sozialarbeiters, der hier eine Denkhemmung aufbaut; nicht der gesunde Menschenver- stand.

Daß Helfende Beratung nicht in den öffentlichen Dienst gehört, hat seine sozusagen ‚technologischen’ und ‚er- gonomischen’ Gründe: Der Charakter der Tätigkeit selbst – erraten, erfinden, verlocken, präsentieren, simulieren – hat mehr mit Kunst zu tun als mit Ordnung.[21] Aber darin kommt nur zum Ausdruck, daß sie ihrer Ortsbe- stimmung nach nicht mehr Hoheit ist, sondern Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation.


Daß sie es ist, liegt im Interesse des Gemeinwesens. Um es zu sein, dient sie nicht jenem, sondern den Privat- leuten.


Doch mit der Frage, wer zahlt, erledigt sich nicht die Frage, was es kostet. Wieviel und welche Art sozialer Arbeit eine Gesellschaft nötig zu haben meint und was sie ihr wert ist, ist eine politische Frage. Aber nicht nur. Es ist auch eine fachliche Frage; sobald es nämlich um die Qualitätskriterien geht. Und darüber entscheidet am besten die Fachwelt selbst, nicht die konstituierten politischen Korps.

Darüber, wieviel das Gemeinwesen für soziale Arbeit ausgibt, sollte die Sozialarbeit besser nicht mitreden wollen: in wessen Namen wohl? Auch nicht darüber, wie das Geld verteilt wird: Das gibt nur Zank. Aber die fachlichen Maßstäbe, nach denen der Hoheitsträger über die Verteilung öffentlicher Mittel entscheidet, die kann nur sie setzen und kein anderer.

Dazu freilich müßte sie mit einer Stimme reden. Das heißt, sie müßte sich selbst repräsentieren können. Also sich selbst verfassen: repräsentativ heißt öffentlich (nach innen wie nach außen). 
 

Als wir vor [27!] Jahren der Fachwelt unsern Vorschlag zur Selbstorganisation der Sozialarbeit in einer öffentlich-rechtlichen Kammer vortrugen,[22] da wurde er mit ohrenbetäubendem Schweigen begrüßt.

Dabei ist es bis heut geblieben


[21]siehe Eine Steinzeit-Technologie?, aaO, sowie Ein gewagtes Unternehmen – Warum soziale Arbeit nicht länger in den öffentlichen Dienst gehört
[22]siehe Befreit die Sozialarbeit ! – Ein Vorschlag zur Umordnung der Jugendhilfe in Sozial Extra 2/1991

 

Mittwoch, 21. März 2018

Ende der Selbstverständlichkeit und helfende Beratung.


Dieser Verlust der Selbstverständlichkeiten ist in den Sozialwissenschaften unter dem Stichwort „Modernisierung moderner Gesellschaften“ thematisiert und in der Öffentlichkeit vornehmlich durch die von Jürgen Habermas entwickelte Formel von der „neuen Unübersichtlichkeit“, dann durch den von Ulrich Beck geprägten Begriff der „Risikogesellschaft“ bekanntgeworden. Damit ist ein säkularer Prozeß bezeichnet, der mehr oder weniger alle industriellen Gesellschaften erfaßt und durch seine grundlegende Ambivalenz geprägt ist: „nämlich einerseits eine rasch voranschreitende Erosion traditioneller sozialer Institutionen und der mit diesen verbundenen normativen Muster. Dieser korrespondiert andererseits eine Zunahme von Möglichkeiten der individuellen Gestaltung des Lebenslaufs, die sich aber zugleich als Zwang zu eigenverantwortlicher Entscheidung erweisen.“[5] 

Möglichkeit als Zwang: Der moderne Mensch hat immer weniger, woran er sich halten könnte, er muß sich überall selbst zurechtfinden. Allenthalben vermehren sich „die vorfindbaren Subkulturen, driften auseinander, zersplittern, differenzieren sich und verlieren immer mehr gemeinsame Werte und Nenner. Die Kluft zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen wächst, und einst bindungsfähige Instanzen wie Religionen, Parteien und Ideologien verlieren an Bedeutung.“[6] 

Reichte es ehedem aus, wenn er keinen Fingerbreit von Gottes Wegen abwich, so irrt der Mensch heut auf eigne Faust durchs Leben; irrt und verirrt sich auch. Daß er immer wieder mal fremden Rat braucht, ist nicht mehr die Ausnahme, sondern gehört schon zur Regel. 

Der Bedarf an Beratung wächst. Doch „mit der Generalisierung der Lebensrisiken werden zugleich die Problemlagen der einzelnen Menschen untypischer und folglich die benötigten Hilfen unspezifischer, so daß sich nichtmal mehr umrißhaft sagen läßt, welches Individuum ‚heil’ und welches ‚beschädigt’ ist. Hilfe muß sich deshalb wegbewegen von der reinen Defizitorientierung (geben, was fehlt) hin zu einer Stützung von Lebenszusammenhängen (‚Unterstützungsmanagement’), in der die eigenen Ressourcen aktiviert werden und tragende Beziehungsgeflechte entstehen oder sich erweitern: vom Fall zum Feld. 

Der moderne Sozialarbeiter ist zuerst Vermittler von ‚Beziehungen’, also Unterstützungs- und Dialogmanager...
Soziale Arbeit zielt zuerst auf die Ressourcen im Feld (Netzwerke), danach vermittelt sie im gegebenen Fall die Individuen mit den dort vorhandenen Helfern, und erst in dritter Instanz bemüht sie professionelle Hilfe (Experten) für den Einzelfall.“[7]

Die Sozialarbeit ist nicht aus Begriffen und theoretischen Systemen entstanden, sondern aus Problemen, die akut wurden und „sich zeigten“: nicht doktrinal, sondern ‚aporetisch’; nicht diskursiv, sondern pragmatisch. Ihre nachträglichen begrifflichen Systematisierungen entstanden immer erst aus dem Bedürfnis, die tatsächliche Praxis der Sozialarbeit zu rechtfertigen vor ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. 

Inzwischen ist sie aber zu einem Industriezweig geworden, der Hunderttausenden ein Aus-, d. h. Einkommen gibt; aus öffentlichen Mitteln. Da geht es nicht länger an, daß sie gedanklich bei ihren Nachbarfächern zur Untermiete wohnt. Die Zeit für eine kohärente Selbstreflexion ist überreif. Statt auf Pump weiter zu wursteln, schuldet sie der Öffentlichkeit eine umfassende Ortsbestimmung im gesellschaftlichen Gefüge. 

Daß sie es von allein bislang nicht dazu gebracht hat, liegt an ihrer Geschichte. Als marginaler Nothelfer unter obrigkeitlicher Prämisse hatte sie nur Löcher zu stopfen, und ihre Selbstzeugnisse waren buntscheckig wie ein Narrengewand. Ihre Stellungnahmen konnten punktuell bleiben – und negativ: Was nicht sein soll… Sie hatte ja per Definition mit Randgruppen zu tun und mit den Ausnahmefällen. 

Doch heute ist sie keine Rand-Erscheinung mehr, sondern selbst eine Säule im gesellschaftlichen System – die Landnahme seit ‘68 und die Explosion der Stellenpläne sind der äußere Erweis. Da muß ihr Selbstverständnis allgemein werden und positiv: Was sie sein will. 

In der informalisierten, individualisierten und pluralistischen Zivilisation heißt ihre Aufgabe eben nicht mehr: Menschen in eine wahre Ordnung fügen, sondern: ihnen auf ihrer Irrfahrt unter die Arme greifen. Statt normativ und interventionistisch, ist sie nurmehr regulativ und subsidiär. Aber sie ist nun auch nicht mehr residual und okkasionell, sondern allgemein und notwendig. In einer Wertordnung, die durch die freie Wahl der Lebensstile ausgezeichnet ist, gehört helfende Beratung unter die Bedingungen der Wahlfreiheit.

[6]Hinte, W., Die mit den Wölfen tanzen, in Sozial Extra 7-8/93 
[7] aus Hinte, W., Gutachterliche Stellungnahme zum Kinderhaus in Berlin-Friedrichshain (unveröffentlicht) 



Dienstag, 20. März 2018

Die beiden Wurzeln der Sozialarbeit.


1) Arme, Kranke, Invalide, Witwen und Waisen, die zu schwach sind, ihren Lebensunterhalt selbst zu er- arbeiten, hat es immer gegeben. Hat es darum “Soziale Arbeit” auch “schon immer gegeben”?

Reden wir hier nur von Mitteleuropa. Hier bestand im Mittelalter eine Agrargesellschaft, die sich teils aus Einzelhöfen, teils aus Dörfern mit wenigen Haushalten zusammensetzte. Ob nun die einzelnen Haushalte das Leiden der Elenden mit ansehen oder sich zu helfen berufen fühlen, liegt an ihrer Abhärtung (durch eignes oder fremdes Leiden). Man kann die Armen auch aus dem Dorf jagen: dann muss man weder helfen, noch das Leid mitansehen. Die Kirche gebietet Nächstenliebe, aber erzwingen kann sie sie nicht.

 Armenpflege als öffentliche Aufgabe ist ein städtisches Problem! Wo viele Menschen in einem Gemeinwesen zu- sammenleben, d. h. so, dass sie sich in der einen oder andern Hinsicht auf einander ange- wiesen fühlen. Die ersten Städtegründungen des Mittelalters beruhten auf eidgenössischen Grundlagen: Schutz und Trutz gegen die Feudalen, und so können sie diejenigen unter ihnen, die in Not geraten, nicht ignorieren. (Aber die Notleidenden aus der Fremde, die Ehrlosen, die keinem Stand angehören und bei ihnen Unterschlupf suchen, können sie aus der Stadt treiben.) In diesen Gemeinwesen lebt keiner wirklich privat. Wer dazugehört, gehört ipso facto zu einer bestimmten Korporation; für die “Witwen und Waisen” zu sorgen, ist Sache der ‚familia’ = oikos; und wenn die ausfällt, ist es Sache der Zünfte und Gilden. Es ist eine Ständegesellschaft.

Das 13. und 14. Jahrhundert erlebten dann eine explosionsartige Zunahme der elenden Fremden in den mittelalterlichen Städten. Sie korrespondiert mit dem Ende der „Landnahme“, der Inbesitznahme und Urbarmachung, aber auch der Feudalisierung der noch freien Böden. Mönchs- u. v. a. Nonnenorden siedeln sich in den Städten an (Beginen am Rhein, im Zusammenhang mit der deutschen mystischen Volksbewegung). Es entstehen Spitäler (Hôtel-Dieu: ‚Gottes Herberge’). Markantestes Phänomen der sozialen Umwälzung ist das Bettlerkönigreich in Paris, la cour des miracles, während des Hundertjährigen Krieges 1340-1450. Es folgt die Schwarze Pest in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts, soziale Unruhen in den Städten und Bauernaufstände. (Eine noch nicht recht erforschte Rolle spielte der Klima-Wechsel  in Mitteleuropa.)

2) Das Ergebnis ist die Auflösung der Ständegesellschaft und Bildung eines ‘Proletariats’ aus den Zerfallsprodukten aller Stände. Nament- lich die vom Boden vertriebenen Bauern (vgl. “ursprüng- liche Akkumulation”), strömen, brotlos geworden, in die Städte. Es entsteht die Klassengesellschaft. Nicht, zu wem und wo zu ich gehöre, zählt nun, sondern nur: was ich zu tauschen habe. An die Stelle der Spitäler treten nun die Armenhäuser: durchaus nicht, um die Siechen und Elenden “mit dem Nötigsten zu versorgen”, sondern im Gegenteil, um die Armen vom Müßiggang abzuschrecken und zur Arbeit zu zwingen. Die wachsende der Armen wurde zur Bedrohung für den Bestand der übrigen Gesellschaft. Man musste das Elend eindämmen und unter Kontrolle bringen.

3) Im zwanzigsten Jahrhundert, namentlich nach dem Ersten Weltkrieg, setzt sich in Europa (nicht in Amerika!) die Vorstellung durch, dass das Gemeinwesen selbst aufgerufen sei, die Bedingungen zu schaffen, daß “seine schwächsten Glieder” instandgesetzt werden, für sich selbst zu sorgen. Es ist die Idee des Sozialstaats, der wohlbemerkt nicht nur eine Frucht der Arbeit- erbewegung ist, sondern ebenso ein Erzeugnis bür- gerlicher Reform- bewegungen, wie des Wandervogels und der ganzen ‚Jugendbewegung’, Lebensreform, Volksgemeinschaft, Rassenhygiene…

4) War der alte, obrigkeitliche Klassenstaat nur-repressiv, kann der der Sozialstaat  seinerseits totalitär werden! 

Wenn wir rückblickend alle Einrichtungen und Tätigkeiten überblicken, die man irgendwie als Armenhilfe oder Wohlfahrtspflege bezeichnen könnte, können wir vier Paradigmen unterscheiden:
1) Sorge – um den Nächsten (Versorgung, Fürsorge): Caritas.

2) unschädlich machen (dressieren, isolieren, betäuben, ausmerzen): “Polizey” (Solange Polizei mit y geschrieben wurde, verstand man darunter nicht nur ein gewisses uniformiertes Beamtenkorps, sondern alle auf Ordnung und innere Sicherheit des Gemeinwesens gerichteten Strebungen und Maßnahmen…)  

3) ‚Re’-Habilitierung, Befähigung zur Teilnahme (Pädagogik!! Anleiten, umlernen, verändern, verbessern, führen, “Defizite kompensieren”): Sozialarbeit. (Ich Schlage vor, von “Sozialarbeit” immer erst dort zu sprechen, wo der Gesichtspunkt der Re-Habilitierung im Vordergrund steht.) 

4) Weltverbesserung (die Menschen verändern, damit die Welt sich ändert): Gesellschaftsreform, Erziehungsdiktatur…  

(Es gibt, übergreifend über die vier Paradigmen, eine ‘transversale’ persönliche Haltung, die man Philanthropismus nennen kann: “Gutes tun!” Dahinter steckt der nicht uneitle Gestus ‚Ich als Wohltäter’, und das ist ein Dauerproblem der Helfenden Berufe: die Konkurrenz von Sachbezug und Selbstbezug! {Philanthropismus als polizeyliche Methode, evtl. wider Willen: Mary Richmond, vgl. Müller, Bd. II, S. 88!} 

Alle diese vier Paradigmen haben eine Grundannahme – “Selbstverständlichkeit”! – gemeinsam: daß “das Gemein- wesen” eine moralische Realität ist, nämlich ein willensfähiges Subjekt, das Normen setzt. Denn nur so kann man das Leiden als mehr verstehen denn eben als Leiden: nämlich als Mangel, als Defizit, als Nicht-Genügen, als Versagen vor einer Norm – die folglich wiederhergestellt werden muss! Armenhilfe, Wohlfahrtspflege, Sozialarbeit verstehen sich als ausnahmsweise Notmaßregel, um einen gebotenen, aber beschädigten Soll-Zustand zu restaurieren; um die verletzte Regel neu geltend zu machen. Gesetzt ist: eine gültige Ordnung, in die die Menschen zu fügen sind. (Notabene: Wer Sozialarbeit betreibt, ‘um die Welt zu verändern’, will eine andere Ordnung geltend machen: Die Menschen sollen sich heute in die Ordnung von morgen… fügen.) 

Ich glaube, dass die (rückblickende) Identifizierung und damit die Unterscheidung der vier Paradigmen erst heute möglich geworden ist, weil sie alle vier – obsolet geworden sind.
 
Differenzierung, Individualisierung, Pluralisierung, Informalisierung: so lauten die besonderen Merkmale der bürgerlichen Gesellschaft am Ende des Jahrtausends. Was die Regel ist und was die Ausnahme, wo die Ordnung aufhört und die Unordnung anfängt… ist nicht mehr sicher und versteht sich nicht mehr von selbst: “Eines schickt sich nicht für alle; schaue jeder, wie er’s treibe. Schaue jeder, wo er bleibe – und wer steht, dass er nicht falle.” (Goethe) – Jeder lebt ‘auf eigne Faust’: Die neomoderne, neobürgerliche Gesellschaft hat die Menschen zur Freiheit verurteilt. 

Helfende Beratung wird heute zu einer regulären Dienstleistung: Das Leben ist unübersichtlich geworden, und wer den Rat eines Experten in Anspruch nimmt, definiert sich dadurch nicht als “defizitär”, sondern als einer, der alle vorhandenen Ressourcen zu nutzen weiß. Er ist heute der Normale, und nicht mehr ‘Klient’* oder ‘Randgruppe’. Zu einem besonderen Problem der Sozialarbeit werden nunmehr die, die gar nicht merken, dass sie Hilfe brauchen, oder nicht mehr hoffen, Hilfe zu finden. Sie muß die Sozialarbeit auf ihre “Angebote” aufmerksam machen, indem sie markante ‚Zeichen setzt’.
Es handelt sich um eine säkulare soziale Entwicklung: weg von den gemeinschaftsförmigen Angehörigkeits- und Sozialisations-Strukturen (in die man “hinein”-wächst und an die  man “heran”-wächst) hin zu öffentlichen Vermittlungs-Agenturen (die einem sagen, wo’s lang geht, sofern man weiß, wo man hin will.) Es ist der Weg vom Ordnungsdienst zur Helfenden Beratung.