Soziale Dienste der Jugendämter sind überfordert Zu wenig Personal, zu viele Fälle: Die Jugendämter sind beim Schutz von
Kindern und Jugendlichen vor Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch
überfordert, wie eine Studie zeigt.
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen krankt an einer
Überforderung der Jugendämter. Das geht aus einer Studie der Hochschule
Koblenz zu den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter
hervor, die am Montag in Berlin vorgestellt wurde. Demnach gibt es zu wenig Personal für zu viele Fälle,
zu hohen Verwaltungs- und Dokumentationsaufwand und eine unzureichende
Ausstattung. Für die Studie im Auftrag des Jugendamts Berlin-Mitte
wurden in den vergangenen zwei Jahren 652 Mitarbeiter aus 175
Jugendämtern befragt.
Die Studienleiterin und Pädagogikprofessorin
an der Hochschule Koblenz, Kathinka Beckmann, betonte, dass die meisten
pädagogischen Fachkräfte sehr engagiert und professionell arbeiteten und
die Gesetzes- lage gut sei. Den Fachkräften fehle jedoch Zeit, Raum wie
ein eigenes Büro, Wissen um strukturelle Ver- flechtungen und die
Möglichkeit der Weitergabe von Erfahrungen. In einem Drittel der
Sozialen Dienste gebe es keine Einarbeitung, bei zwei Dritteln sei die
Einarbeitungszeit zu kurz.
Der Studie zufolge fehlt in vielen
Jugendämtern Personal. Derzeit sind den Angaben zufolge rund 13.400
Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst tätig - dem Bereich, der
Kinder vor Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch
schützen soll. Die meisten Fachkräfte betreuten 50 bis 100 Fälle, teils
mehr, sagte Beckmann. Durch minderjährige Flüchtlinge sei die Fallzahl
noch gestiegen. Notwendig seien daher etwa 16.000 zusätzliche
ASD-Mitarbeiter bundesweit.
Prävention nur mit Fallzahl-Begrenzung möglich
Die
Leiterin des Jugendamtes Berlin-Mitte, Monika Goral, sagte, je weniger
Personal es gebe, desto mehr gerate die Jugendhilfe in die Defensive.
Wichtig sei es jedoch, präventiv tätig zu werden. Dafür brauche es eine
Fallzahl-Begrenzung für jeden Sozialarbeiter, eine gute
Einarbeitungszeit sowie mehr Weiterbildungsangebote.
Der Studie
zufolge bleibt etwa für Hausbesuche bei betroffenen Familien häufig zu
wenig Zeit. 58 Prozent der befragten Mitarbeiter der Jugendämter
verbringen demnach maximal eine Stunde bei Terminen in den Familien.
Umgekehrt fehle in den Ämtern häufig der Raum für eine geschützte
Gesprächsatmosphäre.
Etwa zwei Drittel der Arbeitszeit in den Jugendämtern werde für die
Fall-Dokumentation aufgewendet. Nur 37 Prozent entfielen auf Kontakte
mit den Betroffenen. Nur jeder fünfte Sozialarbeiter schafft es laut der
Studie, die für Fallübergaben und Verfahren wichtigen
Gesprächsprotokolle während oder noch am Tag des Gesprächs auszufüllen.
Mehr als jeder zweite Fall bleibe mindestens eine Woche unprotokolliert.
Der
Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, sprach
von „erheblichen strukturellen Defiziten“, die Fehler begünstigten. „Wir
haben ein Kernproblem in der Finanzierungsstruktur der Jugend- ämter“,
sagte Becker. Da größtenteils die Kommunen für den Unterhalt der
Jugendämter zuständig seien, hänge die Ausstattung von der finanziellen
Lage der Städte und Gemeinden ab. Der Bund müsse hier korrigierend
eingreifen. Becker forderte darüber hinaus erneut einen
Bundeskinderschutzbeauftragten.
Bundesweit gibt es 563 Jugendämter, die rund eine Millionen hilfsbedürftige Kinder und Jugendliche betreuen. (kna)
Nota. - Heut nur dies: Fallzahl-Begrenzung lautet die Erfordernis, solange die Sozialarbeit dem Fall-Para- digma huldigt. Und so lange muss sie sich über Prävention gar nicht erst den Kopf zerbrechen. Die ist nur möglich bei einem systemischen Ansatz: unspezifisch und aufs soziale Feld bezogen. Denn spezifisch und auf den individuellen Fall bezogen ist 'Prävention' nur als Überwachung möglich - und nutzt selbst dann oft nichts, denn zum richtigen Deuten der Symptome braucht es Künstlerglück.
Eins sollte klar sein: Wasserdichter Schutz ist nicht möglich. Fallbezug ist oft die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Man muss den 'Fällen' die Chance geben, sich "im Feld" zu zeigen.
Würden die Jugendämter so leistungsfähiger? Sie würden vor allem weniger Ämter, und das macht es den "Fällen" leichter,... sich zu zeigen. Es gibt Grund zu der Hoffnung, dass dann im Durchschnitt weniger übersehen wird. Das wäre schon allerhand.
Doch aufgrund der Finanzierungsstruktur ist wiederum eine systemisch präventive, nämlich feldbezogene Sozialarbeit gar nicht möglich. Merke im übrigen: Die Jugendämter sind systemisch überfordert, weil ihnen zugemutet wird, Helfende Beratung und Hoheitliche Akte unter einen Hut zu bringen.Aber das geht nicht. JE
aus derStardard.at, 7.11.2015 Warum Menschen schwache Anführer sind
Transdisziplinäre Studie zeigt: Menschliche Gesellschaften neigen weniger zu Machtkonzentration als Rudel anderer Säugetiere
von Tanja Traxler Wien/Oakland –
Es dauerte nicht lange, bis nach der Vertreibung des Bauern Jones in
Animal Farm eine andere Spezies eine Gewaltherrschaft errichtete. In
George Orwells Parabel sind es die Schweine, die sich zu den Führern der
anderen Tiere machen – mit ähnlichen und teils schlimmeren Methoden als
der Mensch.
Im
Gegensatz zu Orwell ist in der Wissenschaft bisher angenommen worden,
dass Führerschaft unter Menschen anders und weit komplexer funktioniert
als im Tierreich. In einer transdisziplinären Studie zeigen Forscher nun
im Fachblatt "Trends in Ecology & Evolution", dass menschliche
Führer sehr ähnlich agieren wie tierische – aber weniger zu
Machtkonzentration neigen.
Untersucht
wurden Muster von Führerschaft in Gruppen von Säugetieren – neben acht
menschlichen Gemein-schaften wie den Inuit oder dem Stamm der Tsimane in
Bolivien, wurden dabei etwa Afrikanische Elefanten, Tüpfelhyänen und
Meerkatzen empirisch erforscht. "Indem wir vergleichbare Maße entwickelt
haben, konnten wir mehr Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und
nichtmenschlichen Führern enthüllen als bisher angenom-men", sagt
Jennifer Smith, Assistenzprofessorin am Mills College in Oakland
(Kalifornien), die Erstautorin der Studie.
Kooperation
unter Artgenossen ist im Tierreich häufig anzutreffen: Schimpansen
reisen gemeinsam, Kapuziner-affen unterstützen einander bei Kämpfen,
Tüpfelhyänen beim Jagen. Doch bislang war nicht bekannt, wie es
Anführern gelingt, diese kollektiven Aktionen zu fördern. Um das
herauszufinden, haben sich Biologen, Anthro-pologen, Mathematiker und
Psychologen am National Institute for Mathematical and Biological
Synthesis an der Universität Tennessee in Knoxville zu einer Gruppe
zusammengeschlossen.
Erfahrung oder Vererbung
In
vier Bereichen wurde Führerschaft untersucht: Bewegung,
Futterbeschaffung, Konfliktmediation in der Gruppe und Interaktion
zwischen verschiedenen Gruppen. Eine der Fragen dabei war, ob die
Fähigkeit zu führen durch Erfahrung erworben oder geerbt wird. Wie sich
herausstellte, ist meist Ersteres der Fall: Individuen werden zu
Führern, indem sie Erfahrung gewinnen. Allerdings gibt es ein paar
bemerkenswerte Ausnahmen: Unter Tüpfelhyänen wird Führerschaft vererbt,
ebenso vereinzelt bei indigenen Völkern – wobei die genauen Gründe dafür
noch zu erforschen sind.
Im
Vergleich zu anderen Spezies stellten sich Menschen als weniger
führungsstark denn erwartet heraus: Die Anführer unter den Säugetieren
haben häufig mehr Macht über die Gruppe, die Führerschaft bei Hyänen
oder Elefanten etwa ist deutlich konzentrierter als beim Menschen. Ein
Grund dafür könnte laut Smith das Faktum sein, dass Menschen dazu
tendieren, spezialisiertere Rollen in einer Gesellschaft einzunehmen,
als dies bei Tieren der Fall ist. "Selbst bei den am wenigsten komplexen
menschlichen Gemeinschaften ist das Ausmaß an kollektiven Handlungen
größer und vermutlich entscheidender für das Überleben und die
Fortpflanzung als in den meisten Säugetiergemeinschaften", sagt die
Biologin Smith.
Weiters
machen es die menschlichen kognitiven Fähigkeiten für Planung und
Kommunikation einfacher, Lösungen für kollektive Probleme zu finden. Die
Mitglieder profitieren enorm von Zusammenarbeit, Zwang ist daher nicht
notwendig, Menschen zu motivieren, ihren Anführern zu folgen – sie
arbeiten mitunter auch freiwillig zusammen.
Nota. – Während es bei Orwell darum ging, dass eine Gruppe – die stalinistische Bürokratie –
die Macht an sich reißt, weil sie sie will, wurde hier untersucht,
welche Gemeinschaften einen Machthaber brauchen und welche weniger.
Es handelt sich aber ausdrücklich um Studien an kleinen
Lebensgemeinschaften, wo es um persönliche Fürerschaft geht, weil die
Individuen einander persönlich kennen, und die also nicht übertragbar
sind auf die großen Gesellschaftsbildungen unter den Menschen. Allenfalls
könnte man den trivialen Schluss ziehen: Je komplexer eine
Gesellschaft, umso weniger bedarf sie persönlicher Machtausübung, um
zusammengehalten zu werden. Die anonymen Sachzwänge besorgen schon das
Nötige, oder wie schon die Liberalen des 19. Jahrhunderts predigten:
Lasst nur den Markt frei walten, dann braucht ihr keinen Sonnenkönig.
Und wie Max Weber hinzufügte: Wo genügend Bürokratie ist, braucht man auch kein Charisma. JE
Es
ist nicht bloß ein falscher Zungenschlag - es ist ein Denkfehler, wenn
Lilla die politisch korrekte 'Linke' so beschreibt, als würde dort jeder
versuchen, "noch radikaler zu sein als
die anderen". Noch identischer will jeder sein als die andern, noch etwas mehr 'er selbst', noch radikaler im Ichbezug. Und gegen alle andern noch zudring- licher.
Das ist keine irrige Politik in richtiger Absicht. Das ist Unpolitik in
sehr schlechter Absicht. Zensur und Gesinnungsterror sind kein
Übereifer, sondern authentisches Ergebnis. Was daran links sein soll, ist ein Rätsel.
aus derStandard.at, 31. 10. 2014 Streit um die kämpferischen Yanomami Der
US-Anthropologe Napoleon Chagnon gehört zu den kontroversiellsten
Vertretern seines Fachs: Seine von der Soziobiologie inspirierten
Arbeiten haben heftige Kritik ausgelöst
Erst im Vorjahr bezeichnete ihn die New York Times
als "unseren umstrittensten Anthropologen", um in einem langen Text zu
erklären, wie Napoleon Chagnon zu einem so sehr angefeindeten Forscher
seines Fachs wurde. Anlass war die Autobiografie Chagnons, die Anfang
2013 unter einem bezeichnenden Titel erschien - in deutscher
Übersetzung: "Edle Wilde: Mein Leben bei zwei gefährlichen Stämmen - den
Yanomami und den Anthropologen".
Was es mit diesem eigenwilligen
Titel auf sich hat, ist eine komplizierte Geschichte. Ihre Kurzfassung
geht in etwa so: Der junge Anthropologe Chagnon besucht die in Venezuela
und Brasilien lebenden Yanomami erstmals 1964 – zu einer Zeit, als sein
Fach besonders hoch im Kurs steht und ein eher positives Bild jener
Kulturen zeichnet, die von der Zivilisation nicht "verdorben" wurden.
Chagnons
Bericht "Yanomamö: The Fierce People" (Yanomamö ist Chagnons bevorzugte
Schreibweise) aus dem Jahr 1968 stellt diese Vorstellungen auf den
Kopf: Sein Bild der Yanomami ist nicht "das von edlen Wilden", sondern
eines Volkes, das im Zustand
ständiger Kriegsführung lebt: Physische Gewalt und Gewaltandrohungen
gehören laut Chagnon zum Alltag der von ihm als blutrünstig
beschriebenen Yanomami-Stämme.
Der streitlustige Forscher handelte
sich nicht nur mit diesem Buch, das sich fast eine Million Mal
verkaufte, und seinen "kriegerischen" Thesen heftige Kritik ein.
Womöglich noch umstrittener ist seine soziobiologische Ausrichtung:
Chagnon nahm das Volk der Yanomami nicht nur rein strukturalistisch,
sondern auch (evolutions)biologisch in den Blick.
Im Jahr 2000
wurde Chagnon dann im Buch "Darkness in El Dorado" von Patrick Tierney
gar beschuldigt, eine Masern-Epidemie bei den Yanomami ausgelöst und
etliche andere Fehltritte begangen zu haben. Diese Vorwürfe wurden von
einer Kommission geprüft und letztlich verworfen. An Chagnons
Außenseiterrolle änderte das ebenso wenig, wie die Tatsache, dass ihn
Forscher wie Stephen Pinker oder Jared Diamond gerade wegen seiner Nähe zur Biologie gerne zitierten.
In
einer ganz neuen Studie indes, die auf seinem umfangreichen
Datenmaterial der 1980er-Jahre basiert, scheint der mittlerweile
76-jährige Anthropologe mit seinem Kollegen Shane Macfarlan zumindest
eine biologi(sti)sche Grundannahme etwas zu relativieren. Die beiden
fragten sich in ihrer im Fachblatt "PNAS" erschienenen Studie, nach
welchen Gesichtspunkten sich die Yanomami mit anderen verbünden, mit
denen sie in den Kampf ziehen: nach Verwandtschaftsverhältnissen (wie
Schimpansen) oder doch nach "kulturellen" Kriterien.
Nach
Auswertung der Verbündeten von 118 Männern, die in unterschiedlichen
Gruppenverbänden in den Kampf gezogen sind, zeigte sich, dass lediglich
in 22 Prozent der Fälle zwei Yanomami-Krieger aus demselben Stamm kamen.
Sehr viel öfter bilden die Kämpfer Allianzen mit nicht verwandten
Männern aus anderen Dörfern. Zu Verschwägerungen kommt es erst danach,
wenn die Kämpfer die Schwestern der Verbündeten heiraten - quasi als
friedlicher Teil der Kriegsbeute.
Zu den Bildern: Schaukämpfe bei den Yanomami Ende der 1960er-Jahre: Männer eines Stammes
zeigen vor den Angehörigen eines anderen, wie stark sie sind. Kurz
zuvor haben sich die beiden Gruppen auf Zusammenarbeit geeinigt, was
wiederum Verschwägerungen zur Folge haben wird.
Nota. - Ich
bin in einer Zeit aufgewachsen, als es naheliegend war, historische
Phänomene auf "natürliche", und das hieß natürlich auf biologische
Faktoren zurückzuführen; auf Vererbung, aber das Wort sprach man
schon nicht mehr gern aus. Da musste man noch hart darum kämpfen, dass
die Eventualität kultureller Gründe oder, beim Teufel! gar ökonomischer
Faktoren wenigstens in Erwägung gezogen wurde. Ökono- mische
Verursachungen standen dann ganz kurz ganz hoch im Kurs, was aber bald
wieder in Verruf geriet, denn da ging es, beim Teufel! immer auch um Konkurrenz, und das war nicht im Sinne der alternativen Weichspüler, und die Natur kam wieder zum Zuge, die gütige diesmal, die kooperative, die mütterliche, die weibliche. Das
geht nun dem Ende zu, die LehrerInnen, die damals damit Schule gemacht
haben, treten demnächst in den Ruhestand. Zeit, die Dinge nüchtern zu
betrachten. JE, 2. 12. 14