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Montag, 14. Mai 2018

Jugendämter sind überfordert...

Marcus Hein, pixelio.de
aus tagesspiegel.de,

Soziale Dienste der Jugendämter sind überfordert
Zu wenig Personal, zu viele Fälle: Die Jugendämter sind beim Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch überfordert, wie eine Studie zeigt.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen krankt an einer Überforderung der Jugendämter. Das geht aus einer Studie der Hochschule Koblenz zu den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter hervor, die am Montag in Berlin vorgestellt wurde. Demnach gibt es zu wenig Personal für zu viele Fälle, zu hohen Verwaltungs- und Dokumentationsaufwand und eine unzureichende Ausstattung. Für die Studie im Auftrag des Jugendamts Berlin-Mitte wurden in den vergangenen zwei Jahren 652 Mitarbeiter aus 175 Jugendämtern befragt.

Die Studienleiterin und Pädagogikprofessorin an der Hochschule Koblenz, Kathinka Beckmann, betonte, dass die meisten pädagogischen Fachkräfte sehr engagiert und professionell arbeiteten und die Gesetzes- lage gut sei. Den Fachkräften fehle jedoch Zeit, Raum wie ein eigenes Büro, Wissen um strukturelle Ver- flechtungen und die Möglichkeit der Weitergabe von Erfahrungen. In einem Drittel der Sozialen Dienste gebe es keine Einarbeitung, bei zwei Dritteln sei die Einarbeitungszeit zu kurz.


Der Studie zufolge fehlt in vielen Jugendämtern Personal. Derzeit sind den Angaben zufolge rund 13.400 Mitarbeiter im Allgemeinen Sozialen Dienst tätig - dem Bereich, der Kinder vor Gewalt, Verwahrlosung und Missbrauch schützen soll. Die meisten Fachkräfte betreuten 50 bis 100 Fälle, teils mehr, sagte Beckmann. Durch minderjährige Flüchtlinge sei die Fallzahl noch gestiegen. Notwendig seien daher etwa 16.000 zusätzliche ASD-Mitarbeiter bundesweit.

Prävention nur mit Fallzahl-Begrenzung möglich

Die Leiterin des Jugendamtes Berlin-Mitte, Monika Goral, sagte, je weniger Personal es gebe, desto mehr gerate die Jugendhilfe in die Defensive. Wichtig sei es jedoch, präventiv tätig zu werden. Dafür brauche es eine Fallzahl-Begrenzung für jeden Sozialarbeiter, eine gute Einarbeitungszeit sowie mehr Weiterbildungsangebote.

Der Studie zufolge bleibt etwa für Hausbesuche bei betroffenen Familien häufig zu wenig Zeit. 58 Prozent der befragten Mitarbeiter der Jugendämter verbringen demnach maximal eine Stunde bei Terminen in den Familien. Umgekehrt fehle in den Ämtern häufig der Raum für eine geschützte Gesprächsatmosphäre.

Etwa zwei Drittel der Arbeitszeit in den Jugendämtern werde für die Fall-Dokumentation aufgewendet. Nur 37 Prozent entfielen auf Kontakte mit den Betroffenen. Nur jeder fünfte Sozialarbeiter schafft es laut der Studie, die für Fallübergaben und Verfahren wichtigen Gesprächsprotokolle während oder noch am Tag des Gesprächs auszufüllen. Mehr als jeder zweite Fall bleibe mindestens eine Woche unprotokolliert.

Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, sprach von „erheblichen strukturellen Defiziten“, die Fehler begünstigten. „Wir haben ein Kernproblem in der Finanzierungsstruktur der Jugend- ämter“, sagte Becker. Da größtenteils die Kommunen für den Unterhalt der Jugendämter zuständig seien, hänge die Ausstattung von der finanziellen Lage der Städte und Gemeinden ab. Der Bund müsse hier korrigierend eingreifen. Becker forderte darüber hinaus erneut einen Bundeskinderschutzbeauftragten.

Bundesweit gibt es 563 Jugendämter, die rund eine Millionen hilfsbedürftige Kinder und Jugendliche betreuen. (kna)

 
Nota. - Heut nur dies: Fallzahl-Begrenzung lautet die Erfordernis, solange die Sozialarbeit dem Fall-Para- digma huldigt. Und so lange muss sie sich über Prävention gar nicht erst den Kopf zerbrechen. Die ist nur möglich bei einem systemischen Ansatz: unspezifisch und aufs soziale Feld bezogen. Denn spezifisch und auf den individuellen Fall bezogen ist 'Prävention' nur als Überwachung möglich - und nutzt selbst dann oft nichts, denn zum richtigen Deuten der Symptome braucht es Künstlerglück.

Eins sollte klar sein: Wasserdichter Schutz ist nicht möglich. Fallbezug ist oft die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Man muss den 'Fällen' die Chance geben, sich "im Feld" zu zeigen.

Würden die Jugendämter so leistungsfähiger? Sie würden vor allem weniger Ämter, und das macht es den "Fällen" leichter,... sich zu zeigen. Es gibt Grund zu der Hoffnung, dass dann im Durchschnitt weniger übersehen wird. Das wäre schon allerhand.

Doch aufgrund der Finanzierungsstruktur ist wiederum eine systemisch präventive, nämlich feldbezogene Sozialarbeit gar nicht möglich

Merke im übrigen: Die Jugendämter sind systemisch überfordert, weil ihnen zugemutet wird, Helfende Beratung und Hoheitliche Akte unter einen Hut zu bringen. Aber das geht nicht.
JE


Samstag, 5. Mai 2018

Donnerstag, 3. Mai 2018

Je komplexer eine Gemeinschaft ist, umso weniger bedarf sie persönlicher Führung.

Animal farm
aus derStardard.at, 7.11.2015

Warum Menschen schwache Anführer sind
Transdisziplinäre Studie zeigt: Menschliche Gesellschaften neigen weniger zu Machtkonzentration als Rudel anderer Säugetiere

von Tanja Traxler

Wien/Oakland – Es dauerte nicht lange, bis nach der Vertreibung des Bauern Jones in Animal Farm eine andere Spezies eine Gewaltherrschaft errichtete. In George Orwells Parabel sind es die Schweine, die sich zu den Führern der anderen Tiere machen – mit ähnlichen und teils schlimmeren Methoden als der Mensch.

Im Gegensatz zu Orwell ist in der Wissenschaft bisher angenommen worden, dass Führerschaft unter Menschen anders und weit komplexer funktioniert als im Tierreich. In einer transdisziplinären Studie zeigen Forscher nun im Fachblatt "Trends in Ecology & Evolution", dass menschliche Führer sehr ähnlich agieren wie tierische – aber weniger zu Machtkonzentration neigen.

Untersucht wurden Muster von Führerschaft in Gruppen von Säugetieren – neben acht menschlichen Gemein-schaften wie den Inuit oder dem Stamm der Tsimane in Bolivien, wurden dabei etwa Afrikanische Elefanten, Tüpfelhyänen und Meerkatzen empirisch erforscht. "Indem wir vergleichbare Maße entwickelt haben, konnten wir mehr Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Führern enthüllen als bisher angenom-men", sagt Jennifer Smith, Assistenzprofessorin am Mills College in Oakland (Kalifornien), die Erstautorin der Studie.

Kooperation unter Artgenossen ist im Tierreich häufig anzutreffen: Schimpansen reisen gemeinsam, Kapuziner-affen unterstützen einander bei Kämpfen, Tüpfelhyänen beim Jagen. Doch bislang war nicht bekannt, wie es Anführern gelingt, diese kollektiven Aktionen zu fördern. Um das herauszufinden, haben sich Biologen, Anthro-pologen, Mathematiker und Psychologen am National Institute for Mathematical and Biological Synthesis an der Universität Tennessee in Knoxville zu einer Gruppe zusammengeschlossen.

Erfahrung oder Vererbung

In vier Bereichen wurde Führerschaft untersucht: Bewegung, Futterbeschaffung, Konfliktmediation in der Gruppe und Interaktion zwischen verschiedenen Gruppen. Eine der Fragen dabei war, ob die Fähigkeit zu führen durch Erfahrung erworben oder geerbt wird. Wie sich herausstellte, ist meist Ersteres der Fall: Individuen werden zu Führern, indem sie Erfahrung gewinnen. Allerdings gibt es ein paar bemerkenswerte Ausnahmen: Unter Tüpfelhyänen wird Führerschaft vererbt, ebenso vereinzelt bei indigenen Völkern – wobei die genauen Gründe dafür noch zu erforschen sind.

Im Vergleich zu anderen Spezies stellten sich Menschen als weniger führungsstark denn erwartet heraus: Die Anführer unter den Säugetieren haben häufig mehr Macht über die Gruppe, die Führerschaft bei Hyänen oder Elefanten etwa ist deutlich konzentrierter als beim Menschen. Ein Grund dafür könnte laut Smith das Faktum sein, dass Menschen dazu tendieren, spezialisiertere Rollen in einer Gesellschaft einzunehmen, als dies bei Tieren der Fall ist. "Selbst bei den am wenigsten komplexen menschlichen Gemeinschaften ist das Ausmaß an kollektiven Handlungen größer und vermutlich entscheidender für das Überleben und die Fortpflanzung als in den meisten Säugetiergemeinschaften", sagt die Biologin Smith.

Weiters machen es die menschlichen kognitiven Fähigkeiten für Planung und Kommunikation einfacher, Lösungen für kollektive Probleme zu finden. Die Mitglieder profitieren enorm von Zusammenarbeit, Zwang ist daher nicht notwendig, Menschen zu motivieren, ihren Anführern zu folgen – sie arbeiten mitunter auch freiwillig zusammen. 

Abstract
Trends in Ecology & Evolution: "Leadership in Mammalian Societies: Emergence, Distribution, Power, and Payoff"


Nota. – Während es bei Orwell darum ging, dass eine Gruppe – die stalinistische Bürokratie – die Macht an sich reißt, weil sie sie will, wurde hier untersucht, welche Gemeinschaften einen Machthaber brauchen und welche weniger.
Es handelt sich aber ausdrücklich um Studien an kleinen Lebensgemeinschaften, wo es um persönliche Fürerschaft geht, weil die Individuen einander persönlich kennen, und die also nicht übertragbar sind auf die großen Gesellschafts bildungen unter den Menschen.

Allenfalls könnte man den trivialen Schluss ziehen: Je komplexer eine Gesellschaft, umso weniger bedarf sie persönlicher Machtausübung, um zusammengehalten zu werden. Die anonymen Sachzwänge besorgen schon das Nötige, oder wie schon die Liberalen des 19. Jahrhunderts predigten: Lasst nur den Markt frei walten, dann braucht ihr keinen Sonnenkönig. Und wie Max Weber hinzufügte: Wo genügend Bürokratie ist, braucht man auch kein Charisma.

JE


Mittwoch, 2. Mai 2018

Entpolitisierende Korrektheit.

aus spiegel  
mein Kommentar zu Entpolitisierende Korrektheit.

Es ist nicht bloß ein falscher Zungenschlag - es ist ein Denkfehler, wenn Lilla die politisch korrekte 'Linke' so beschreibt, als würde dort jeder versuchen, "noch radikaler zu sein als die anderen". Noch identischer will jeder sein als die andern, noch etwas mehr 'er selbst', noch radikaler im Ichbezug. Und gegen alle andern noch zudring- licher. Das ist keine irrige Politik in richtiger Absicht. Das ist Unpolitik in sehr schlechter Absicht. Zensur und Gesinnungsterror sind kein Übereifer, sondern authentisches Ergebnis. Was daran links sein soll, ist ein Rätsel.



Dienstag, 1. Mai 2018

Das Märchen von der gütigen Natur.

 
aus derStandard.at, 31. 10. 2014

Streit um die kämpferischen Yanomami
Der US-Anthropologe Napoleon Chagnon gehört zu den kontroversiellsten Vertretern seines Fachs: Seine von der Soziobiologie inspirierten Arbeiten haben heftige Kritik ausgelöst

von Klaus Taschwer

Erst im Vorjahr bezeichnete ihn die New York Times als "unseren umstrittensten Anthropologen", um in einem langen Text zu erklären, wie Napoleon Chagnon zu einem so sehr angefeindeten Forscher seines Fachs wurde. Anlass war die Autobiografie Chagnons, die Anfang 2013 unter einem bezeichnenden Titel erschien - in deutscher Übersetzung: "Edle Wilde: Mein Leben bei zwei gefährlichen Stämmen - den Yanomami und den Anthropologen".

Was es mit diesem eigenwilligen Titel auf sich hat, ist eine komplizierte Geschichte. Ihre Kurzfassung geht in etwa so: Der junge Anthropologe Chagnon besucht die in Venezuela und Brasilien lebenden Yanomami erstmals 1964 – zu einer Zeit, als sein Fach besonders hoch im Kurs steht und ein eher positives Bild jener Kulturen zeichnet, die von der Zivilisation nicht "verdorben" wurden.

Chagnons Bericht "Yanomamö: The Fierce People" (Yanomamö ist Chagnons bevorzugte Schreibweise) aus dem Jahr 1968 stellt diese Vorstellungen auf den Kopf: Sein Bild der Yanomami ist nicht "das von edlen Wilden", sondern eines Volkes, das im Zustand ständiger Kriegsführung lebt: Physische Gewalt und Gewaltandrohungen gehören laut Chagnon zum Alltag der von ihm als blutrünstig beschriebenen Yanomami-Stämme.

 
Der streitlustige Forscher handelte sich nicht nur mit diesem Buch, das sich fast eine Million Mal verkaufte, und seinen "kriegerischen" Thesen heftige Kritik ein. Womöglich noch umstrittener ist seine soziobiologische Ausrichtung: Chagnon nahm das Volk der Yanomami nicht nur rein strukturalistisch, sondern auch (evolutions)biologisch in den Blick.

Im Jahr 2000 wurde Chagnon dann im Buch "Darkness in El Dorado" von Patrick Tierney gar beschuldigt, eine Masern-Epidemie bei den Yanomami ausgelöst und etliche andere Fehltritte begangen zu haben. Diese Vorwürfe wurden von einer Kommission geprüft und letztlich verworfen. An Chagnons Außenseiterrolle änderte das ebenso wenig, wie die Tatsache, dass ihn Forscher wie Stephen Pinker oder Jared Diamond gerade wegen seiner Nähe zur Biologie gerne zitierten.

In einer ganz neuen Studie indes, die auf seinem umfangreichen Datenmaterial der 1980er-Jahre basiert, scheint der mittlerweile 76-jährige Anthropologe mit seinem Kollegen Shane Macfarlan zumindest eine biologi(sti)sche Grundannahme etwas zu relativieren. Die beiden fragten sich in ihrer im Fachblatt "PNAS" erschienenen Studie, nach welchen Gesichtspunkten sich die Yanomami mit anderen verbünden, mit denen sie in den Kampf ziehen: nach Verwandtschaftsverhältnissen (wie Schimpansen) oder doch nach "kulturellen" Kriterien.

Nach Auswertung der Verbündeten von 118 Männern, die in unterschiedlichen Gruppenverbänden in den Kampf gezogen sind, zeigte sich, dass lediglich in 22 Prozent der Fälle zwei Yanomami-Krieger aus demselben Stamm kamen. Sehr viel öfter bilden die Kämpfer Allianzen mit nicht verwandten Männern aus anderen Dörfern. Zu Verschwägerungen kommt es erst danach, wenn die Kämpfer die Schwestern der Verbündeten heiraten - quasi als friedlicher Teil der Kriegsbeute.

Zu den Bildern:
Schaukämpfe bei den Yanomami Ende der 1960er-Jahre: Männer eines Stammes zeigen vor den Angehörigen eines anderen, wie stark sie sind. Kurz zuvor haben sich die beiden Gruppen auf Zusammenarbeit geeinigt, was wiederum Verschwägerungen zur Folge haben wird.


Nota. - Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als es naheliegend war, historische Phänomene auf "natürliche", und das hieß natürlich auf biologische Faktoren zurückzuführen; auf Vererbung, aber das Wort sprach man schon nicht mehr gern aus. Da musste man noch hart darum kämpfen, dass die Eventualität kultureller Gründe oder, beim Teufel! gar ökonomischer Faktoren wenigstens in Erwägung gezogen wurde. Ökono- mische Verursachungen standen dann ganz kurz ganz hoch im Kurs, was aber bald wieder in Verruf geriet, denn da ging es, beim Teufel! immer auch um Konkurrenz, und das war nicht im Sinne der alternativen Weichspüler, und die Natur kam wieder zum Zuge, die gütige diesmal, die kooperative, die mütterliche, die weibliche.

Das geht nun dem Ende zu, die LehrerInnen, die damals damit Schule gemacht haben, treten demnächst in den Ruhestand. Zeit, die Dinge nüchtern zu betrachten.
JE, 2. 12. 14