Rike, pixelio.de
Die theoretisch schon längst als überfällig
erkannte Umstellung der Sozialarbeit 'vom Fall zum Feld', d. h. ihre
paradigmatisch Umorientierung weg von den 'Defiziten' der Individuen hin zu den
'Ressourcen' der Gemeinwesen, ist in den letzten Jahren durch nichts so sehr
kompromittiert worden wie durch die von interessierter Seite aufgebrachte
Verquickung des Konzepts mit der bürokratischen Hinterlist der Sozialraumbudgets.
Zugestanden sei, dass die Idee nicht
ursprünglich aus bürokratischer Absicht entstanden ist. Sie ist entstanden aus
der Unvereinbarkeit feldorienierter und selbst nur bescheiden präventiver
(Jugend-) Sozialarbeit mit den Finanzierungsmöglichkeiten des KJHG.
Als 1990 endlich, endlich das altes
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz JWG durch das neue Kinder- und
Jugendhilfegesetz KJHG ersetzt wurde, war es eigentlich bereits -
veraltet. Kein Wunder, es war fast ein Vierteljahrhundert lang daran gestrickt,
gefeilscht und geflickt worden. Als es dann endlich in Kraft trat, war die
epochale Erneuerung, die es 1968 bedeutet hätte, schon fast zu einer Nebensache
geworden. Rechtlich gesehen; denn im Alltag der Jugendverwaltungen sind die
neuen Prinzipien auch heute noch nicht überall angekommen: Es ist nicht länger
die ordnungspolitische Selbstermächtigung einer väterlichen Obrigkeit über
die Bürger, die die Sozialarbeit begründet, sondern der Anspruch der Individuen
gegen den Staat. Dass in der Konsequenz dem 'Klienten' buchstäblich ein Wahlrecht
zwischen den rechtlich möglichen Leistung zusteht, ist weit davon entfernt, zu
den Selbstverständlichkeiten in deutschen Jugendamtsstuben zu zählen.
Kein Wunder, die Mittel sind seit 1990
knapper geworden, die Neigung der Ämter geht dahin, wo immer möglich noch hinter
die Innovationen des KJHG zurück zu fallen.
Die professionelle Einsicht rät dagegen,
(unter anderm) gerade weil die Mittel knapper sind, über das KJHG hinaus
zu gehen, und zwar systematisch. Die Begründung der Sozialarbeit als
einer dem Bürger zustehenden Leistung lag ganz im Geist des Jahres 1968. Doch
in dieser Logik bleibt sie auf den Einzelfall fixiert. Das Gesetz
definiert eine Reihe von Bedarfssituationen, die jeweils einen individuellen Anspruch
begründen. Und es definiert einige - freilich im Sinne des Gesetzgebers nicht
erschöpfende! - Leistungen. Der Anspruchsberechtigte hat nicht nur eine
Mitsprache, sondern - im Fall von Kostenneutralität - selbst ein Wahlrecht
hinsichtlich der zu gewährenden Leistung. Der Vorbehalt der Kostenneutralität
ist im Alltag keine so gravierende Einschränkung, wie es scheinen mag: Der
Behördenmitarbeiter gibt nicht sein eigenes Geld aus, sondern das von Vater
Staat. Einen Riesenunterschied macht es allerdings aus, mit welcher 'Maßnahme'
er sich mehr Mühe auflädt - und sei er nur mit dem nächsten
Vorgesetzten.
Und das ist der springende Punkt: Einzelne
Beamte müssen einzelne 'Maßnahmen' bewilligen. Nämlich nachdem ein
begründeter 'Anspruch' angemeldet wurde. Im Vorfeld dafür zu sorgen, dass
'Ansprüche', wenn irgend möglich, gar nicht erst auftreten - dafür sind keine
Mittel mehr übrig. Denn in realistischer Vorahnung der auch im nächsten Jahr
wieder anfallenden Ansprüche, und noch dazu bei freier Wahl der Berechtigten,
müssen pauschal reichlich Leistungen "vorgehalten" werden, so dass
kein Berechtigter abgewiesen wird und bei Gericht klagen muss und kann. - Das
kostet grad genug.
Eine Umstellung des gesamten Systems der
individuellen Ansprüche auf die präventive
Logik der Feldarbeit und die Rückführuung der Fallmaßnahmen auf eine subsidiäre Rolle würde es nötig machen, über mehrere Jahre die für
Jugendsozialarbeit vorgesehen Mittel zu verdoppeln
– um parallel einerseits für alle eventuell gemeldeten Ansprüche die gebotenen ‚Leistungen‘
(einschl. Wahlmöglichkeit) „vorzuhalten“, und auf der andern Seite eine
umfassenden feldorientierte, auf der Stärkung der Ressourcen in den Sozialräumen
gerichtete Arbeit in den Gemeinwesen aufzubauen. Letztere würde ganz gewiss
einige Jahre brauchen, um quantifizierbare Ergebnisse zu zeitigen, schon weil die
Sozialarbeiter selbst sich in die neue Arbeitsweise erst einleben müssen. Da
kann man einem Stadtkämmerer tausendmal sagen: Im Lauf der nächsten ein, zwei
Jahrzehnte holst du alle Mehrausgaben wieder raus, denn präventive Sozialraumorientierung
kommt den Steuerzahler auf die Dauer unvergleichlich viel billiger als – ebenso
ineffektive wie personalintensive - nachträgliche Reparaturarbeit; und die
werden wir auf ein subsidiäres Minimum beschränken. Er wird sagen: Die nächsten Jahrzehnte
kann ich nicht budgetieren. Im kommenden Rechnungsjahr muss ich meinen Haushalt
ausgleichen. Tragt eure Ideen in der Hochschule vor; oder bei meiner Partei. In
ein, zwei Jahrzehnten reden wir dann weiter…
Das ist prima vista ein unlösbares Dilemma.
Der Gedanke, in den vorhandenen Jugendhilfebudgets
eine pragmatische Umschichtung vorzunehmen, indem auf der einen Seite Mittel
für die vorzuhaltenden Einzelmaßnahmen eingespart und auf der andern Seite der
präventiven Feldarbeit zugeschoben würden, nämlich im Rahmen der kleinteilig übersehbaren
Möglichkeiten, war da ja nicht illegitim. Die Jugendämter selbst können das
nicht machen – fiskalisch dürfen sie nicht und praktisch haben sie selber nicht
genügend Einblick in die je lokale Situation. Daher der Gedanke, die
Entscheidung an die einzelnen Träger zu delegieren, denen man für ihre
Tätigkeit pro Jahr eine Pauschalsumme gewährt, die sie in ihrer täglichen
Arbeit dann nach eigenem professionellen Urteil so hin- und herschieben, wie es
zweckmäßig erscheint.
Dass die Jugendämter sich dann am
Jahresanfang diejenigen Träger ausgucken müssen (und dürfen), denen sie diese
Verantwortung übertragen wollen, und alle andern im ‚Feld‘ tätigen Träger in
die Röhre sehen, ist eine hässliche Konsequenz des Ganzen.
Es ist keine Frage der Begriffe, keine Frage
der Logik, keine Frage der Theorie. Es ist eine ganz einfache pragmatische
Frage: Hält einer, der in der Jugendsozialarbeit eine gewisse praktische
Erfahrung angesammelt hat, die deutschen Jugendämter organisatorisch, personell
und intellektuell für fähig, eine solche Auswahl professionell verantwortlich
zu treffen?
Der Hauptpropagandist der Sozialraumbudgets
sagt: „Ich mache mit ihnen Lehrgänge.“
Jeder andere wird sagen: In dem ganzen
bürokratischen Gestrüpp, das in Deutschland um die Jugendhilfe rankt, sind es
gerade die lokalen Jugendämter, die sich als das Überflüssigste bewährt
haben. Sie verwalten Akten, und das braucht keiner. Ausgerechnet denen die hoheitliche
Souveränität darüber zuzuschieben, wer im Feld Sozialarbeit betreiben darf und
wer nicht, heißt den Bock zum Gärtner machen.
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