Rike, pixelio.de
Die theoretisch schon längst als überfällig
erkannte Umstellung der Sozialarbeit 'vom Fall zum Feld', d. h. ihre
paradigmatisch Umorientierung weg von den 'Defiziten' der Individuen hin zu den
'Ressourcen' der Gemeinwesen, ist in den letzten Jahren durch nichts so sehr
kompromittiert worden wie durch die von interessierter Seite aufgebrachte
Verquickung des Konzepts mit der bürokratischen Hinterlist der Sozialraumbudgets.
Zugestanden sei, dass die Idee nicht
ursprünglich aus bürokratischer Absicht entstanden ist. Sie ist entstanden aus
der Unvereinbarkeit feldorienierter und selbst nur bescheiden präventiver
(Jugend-) Sozialarbeit mit den Finanzierungsmöglichkeiten des KJHG.
Als 1990 endlich, endlich das altes
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz JWG durch das neue Kinder- und
Jugendhilfegesetz KJHG ersetzt wurde, war es eigentlich bereits -
veraltet. Kein Wunder, es war fast ein Vierteljahrhundert lang daran gestrickt,
gefeilscht und geflickt worden. Als es dann endlich in Kraft trat, war die
epochale Erneuerung, die es 1968 bedeutet hätte, schon fast zu einer Nebensache
geworden. Rechtlich gesehen; denn im Alltag der Jugendverwaltungen sind die
neuen Prinzipien auch heute noch nicht überall angekommen: Es ist nicht länger
die ordnungspolitische Selbstermächtigung einer väterlichen Obrigkeit über
die Bürger, die die Sozialarbeit begründet, sondern der Anspruch der Individuen
gegen den Staat. Dass in der Konsequenz dem 'Klienten' buchstäblich ein Wahlrecht
zwischen den rechtlich möglichen Leistung zusteht, ist weit davon entfernt, zu
den Selbstverständlichkeiten in deutschen Jugendamtsstuben zu zählen.
Kein Wunder, die Mittel sind seit 1990
knapper geworden, die Neigung der Ämter geht dahin, wo immer möglich noch hinter
die Innovationen des KJHG zurück zu fallen.
Die professionelle Einsicht rät dagegen,
(unter anderm) gerade weil die Mittel knapper sind, über das KJHG hinaus
zu gehen, und zwar systematisch. Die Begründung der Sozialarbeit als
einer dem Bürger zustehenden Leistung lag ganz im Geist des Jahres 1968. Doch
in dieser Logik bleibt sie auf den Einzelfall fixiert. Das Gesetz
definiert eine Reihe von Bedarfssituationen, die jeweils einen individuellen Anspruch
begründen. Und es definiert einige - freilich im Sinne des Gesetzgebers nicht
erschöpfende! - Leistungen. Der Anspruchsberechtigte hat nicht nur eine
Mitsprache, sondern - im Fall von Kostenneutralität - selbst ein Wahlrecht
hinsichtlich der zu gewährenden Leistung. Der Vorbehalt der Kostenneutralität
ist im Alltag keine so gravierende Einschränkung, wie es scheinen mag: Der
Behördenmitarbeiter gibt nicht sein eigenes Geld aus, sondern das von Vater
Staat. Einen Riesenunterschied macht es allerdings aus, mit welcher 'Maßnahme'
er sich mehr Mühe auflädt - und sei er nur mit dem nächsten
Vorgesetzten.
Und das ist der springende Punkt: Einzelne
Beamte müssen einzelne 'Maßnahmen' bewilligen. Nämlich nachdem ein
begründeter 'Anspruch' angemeldet wurde. Im Vorfeld dafür zu sorgen, dass
'Ansprüche', wenn irgend möglich, gar nicht erst auftreten - dafür sind keine
Mittel mehr übrig. Denn in realistischer Vorahnung der auch im nächsten Jahr
wieder anfallenden Ansprüche, und noch dazu bei freier Wahl der Berechtigten,
müssen pauschal reichlich Leistungen "vorgehalten" werden, so dass
kein Berechtigter abgewiesen wird und bei Gericht klagen muss und kann. - Das
kostet grad genug.
Eine Umstellung des gesamten Systems der
individuellen Ansprüche auf die präventive
Logik der Feldarbeit und die Rückführuung der Fallmaßnahmen auf eine subsidiäre Rolle würde es nötig machen, über mehrere Jahre die für
Jugendsozialarbeit vorgesehen Mittel zu verdoppeln
– um parallel einerseits für alle eventuell gemeldeten Ansprüche die gebotenen ‚Leistungen‘
(einschl. Wahlmöglichkeit) „vorzuhalten“, und auf der andern Seite eine
umfassenden feldorientierte, auf der Stärkung der Ressourcen in den Sozialräumen
gerichtete Arbeit in den Gemeinwesen aufzubauen. Letztere würde ganz gewiss
einige Jahre brauchen, um quantifizierbare Ergebnisse zu zeitigen, schon weil die
Sozialarbeiter selbst sich in die neue Arbeitsweise erst einleben müssen. Da
kann man einem Stadtkämmerer tausendmal sagen: Im Lauf der nächsten ein, zwei
Jahrzehnte holst du alle Mehrausgaben wieder raus, denn präventive Sozialraumorientierung
kommt den Steuerzahler auf die Dauer unvergleichlich viel billiger als – ebenso
ineffektive wie personalintensive - nachträgliche Reparaturarbeit; und die
werden wir auf ein subsidiäres Minimum beschränken. Er wird sagen: Die nächsten Jahrzehnte
kann ich nicht budgetieren. Im kommenden Rechnungsjahr muss ich meinen Haushalt
ausgleichen. Tragt eure Ideen in der Hochschule vor; oder bei meiner Partei. In
ein, zwei Jahrzehnten reden wir dann weiter…
Das ist prima vista ein unlösbares Dilemma.
Der Gedanke, in den vorhandenen Jugendhilfebudgets
eine pragmatische Umschichtung vorzunehmen, indem auf der einen Seite Mittel
für die vorzuhaltenden Einzelmaßnahmen eingespart und auf der andern Seite der
präventiven Feldarbeit zugeschoben würden, nämlich im Rahmen der kleinteilig übersehbaren
Möglichkeiten, war da ja nicht illegitim. Die Jugendämter selbst können das
nicht machen – fiskalisch dürfen sie nicht und praktisch haben sie selber nicht
genügend Einblick in die je lokale Situation. Daher der Gedanke, die
Entscheidung an die einzelnen Träger zu delegieren, denen man für ihre
Tätigkeit pro Jahr eine Pauschalsumme gewährt, die sie in ihrer täglichen
Arbeit dann nach eigenem professionellen Urteil so hin- und herschieben, wie es
zweckmäßig erscheint.
Dass die Jugendämter sich dann am
Jahresanfang diejenigen Träger ausgucken müssen (und dürfen), denen sie diese
Verantwortung übertragen wollen, und alle andern im ‚Feld‘ tätigen Träger in
die Röhre sehen, ist eine hässliche Konsequenz des Ganzen.
Es ist keine Frage der Begriffe, keine Frage
der Logik, keine Frage der Theorie. Es ist eine ganz einfache pragmatische
Frage: Hält einer, der in der Jugendsozialarbeit eine gewisse praktische
Erfahrung angesammelt hat, die deutschen Jugendämter organisatorisch, personell
und intellektuell für fähig, eine solche Auswahl professionell verantwortlich
zu treffen?
Der Hauptpropagandist der Sozialraumbudgets
sagt: „Ich mache mit ihnen Lehrgänge.“
Jeder andere wird sagen: In dem ganzen
bürokratischen Gestrüpp, das in Deutschland um die Jugendhilfe rankt, sind es
gerade die lokalen Jugendämter, die sich als das Überflüssigste bewährt
haben. Sie verwalten Akten, und das braucht keiner. Ausgerechnet denen die hoheitliche
Souveränität darüber zuzuschieben, wer im Feld Sozialarbeit betreiben darf und
wer nicht, heißt den Bock zum Gärtner machen.
Meine Blogs
Dienstag, 8. Juli 2014
Montag, 7. Juli 2014
Die Kindergesellschaft - Generalprävention im 'Feld'.
Mut zur Lücke
Gedanken zu einem Schülerclub in „Berlin, Ecke Bundesplatz“
von Jochen Ebmeier
von Jochen Ebmeier
Erich Kästner
Fachliche Gespräche zum Thema „Lückekinder“ werden gelegentlich so geführt, als handle es sich darum, dass frühere Verwaltungen versäumt hätten, eine bestimmte Altersgruppe beizeiten mit einem geeigneten Angebot zu versorgen; diesem Versäumnis habe die gegenwärtige Verwaltung durch die Ausweitung der Nachmittags- betreuung in den Grundschulen nunmehr Abhilfe geschaffen.
Fachliche Gespräche zum Thema „Lückekinder“ werden gelegentlich so geführt, als handle es sich darum, dass frühere Verwaltungen versäumt hätten, eine bestimmte Altersgruppe beizeiten mit einem geeigneten Angebot zu versorgen; diesem Versäumnis habe die gegenwärtige Verwaltung durch die Ausweitung der Nachmittags- betreuung in den Grundschulen nunmehr Abhilfe geschaffen.
Indessen musste die Senatsverwaltung unlängst feststellen, dass die Nachmittagsangebote der Grundschulen deutlich weniger angenommen werden, als auf Grund voran- gegangener Erhebungen erwartet wurde.[1] Allenthalben ist zu hören, die zusätzliche Betreuung fände insbesondere ab Klasse 5 wenig Zuspruch. Es scheint an der Zeit, das Thema „Lücke“ neu zu diskutieren. Die im Gang befindliche Umorientierung der Sozialarbeit weg von den Maßnahmen im individuellen Fall hin zu einem systemischen Blick auf die Sozialräume bietet dafür hinreichend Anlass.
Defizite und Ressource
Die sozialräumliche Neuorientierung der sozialen Arbeit entspringt einem tief greifenden Umbruch in ihrer Aufgabenstellung. Im Zeichen von Differenzierung-Individualisierung-Pluralisierung kann die Sozialarbeit nicht mehr als normativer Ordnungsfaktor gelten. Sie muss sich als reguläres Dienstleistungsangebot neu definieren. Ihr spezifischer Charakter ist helfende Beratung. Keine Lebensweise ist heute an und für sich richtiger als eine andere. Die Unterscheidung von Notfall und Normalfall gewinnt zusehends wertenden Charakter und lässt sich kaum noch objektivieren. Die Sozialarbeit muss sich von doktrinalen Fragestellungen frei machen und zu einer streng pragmatischen Sichtweise entschließen. Sie bewerkstelligt keine Lösungen, sondern sucht nach Bedingungen, die günstiger sind als andere. Ihr Kriterium ist nicht mehr ‚normal oder unnormal’, sondern nur noch ‚mehr oder weniger’.
Ihre Aufgaben werden dadurch unspezifischer. Der einzelne Sozialarbeiter muss nun, als Fachmann für Alles, ‚mehr können’ als die Spezialisten von gestern, denn er wird sich von Fall zu Fall umstellen müssen. Ebenso unspezifisch müssen die Institutionen der sozialen Arbeit werden. Sind die Maßstäbe für normal und unnormal einmal verloren, werden auch die Differentialdiagnosen über ‚Störungsart’ und ‚Abweichungsgrad’ hinfällig. Die Einrichtungen können sich nicht mehr selber typologisieren und klassifizieren, indem sie ihre Klientel nach ‚Merkmalen’ sortieren; sondern die Nutzer selbst definieren den Charakter des Angebots durch die Art und Weise, wie sie davon Gebrauch machen. Das heißt: Welches die ‚geeignete Behandlung’ ist, muss sich im Prozess helfender Beratung selbst erweisen können. Das reduziert die Fehlgriffe und ist vom menschlichen wie vom fiskalischen Standpunkt aus sparsamer.
Namentlich die Unterscheidung zwischen ‚weicher’ Jugendhilfe (Prävention, ‚Förderung’) und ‚harter’ Jugendhilfe (Intervention, ‚Hilfe zur Erziehung’) muss überwunden werden durchallgemeine, d.h. umfassende Angebote, die grundsätzlich allen möglichen Nutzern und Bedarfslagen offen stehen. ‚Hohe Schwellen’, die das Eingeständnis eigner Schadhaftigkeit zur Bedingung für die Gewährung von Hilfe machen, schrecken ab und müssen zur (je zu begründenden) Ausnahme werden: Hilfe ist umso wirksamer, je zeitiger sie in Anspruch genommen wird. Aus haushälterischer Sicht müssen niedrige Schwellen und kurze Wege zur Regel der neuen Sozialarbeit werden.
Wer helfende Beratung in Anspruch nimmt, definiert sich nicht ipso facto als defizitär. Das moderne Leben hat bis in die privatesten Winkel seine Selbstverständlichkeit verloren und fordert immer wieder scharfe Wendungen. Krisen sind nicht Symptome von Devianz, sondern Bestandteil des Normalen. Nicht der Ratsuchende ist problematisch, sondern der, der keine Hilfe mehr zu finden hofft. Ihm muss die soziale Arbeit sich anbieten, indem sie im sozialen Feld Zeichen setzt.[2]
Mit andern Worten, Sozialarbeit ist nunmehr in erster Linie präventiv. Denn sie zielt nicht mehr zuerst nach den Defiziten im einzelnen ‚Fall’, um sie durch ihre Leistungen zu kompensieren, sondern sie sucht im sozialen Raum nach den dort – noch?! – vorhandenen Ressourcen, um sie zu aktivieren und zu stabilisieren. Denn nicht die Kraft und Bereitschaft der Menschen, sich selbst und einander zu helfen, sind durch Individualisierung-Differenzierung-Pluralisierung verloren gegangen; sondern die Auflösung der traditionellen Bindungen familialer, kommunitärer und konfessioneller Art haben die Individuen vereinzelt, so dass sie in der Neuen Unübersichtlichkeit des Alltagslebens die verstreut da- und brachliegenden Hilfsquellen nicht mehr wahrnehmen. Die Sozialarbeit ersetzt nicht die traditionellen Bindungen durch ihre Maßnahmen, sondern sie erschließt Kräfte, die im Modernisierungsprozess nicht versiegt, sondern lediglich verwaist sind. Sie ist präventiv, indem sie das soziale Feld stabilisiert und auf seine Stärken baut – und nicht erst ‚interveniert’, wenn Einzelne auffällig wurden, und ihre Schwächen bedient. Ihre Leitideen heißen nicht länger Defizit und Leistung, sondern Ressource und Vermittlung.
„Vom Fall zum Feld: Der moderne Sozialarbeiter ist zuerst Vermittler von ‚Beziehungen’, also Unterstützungs- und Dialogmanager. Soziale Arbeit zielt zuerst auf die Ressourcen im Feld (Netzwerke), danach vermittelt sie im gegebenen Fall die Individuen mit den dort vorhandenen Helfern, und erst in dritter Instanz bemüht sie professionelle Hilfe (Experten) für den Einzelfall.“ (W. Hinte)[3]
Informell und unspezifisch
Kompensatorische Intervention im je spezifischen Fall kalkuliert linear und punktuell und mit Ursachen und Wirkungen. Die moderne Sozialarbeit blickt systemisch und tastet sich durch Bedingungen und Wahrscheinlichkeiten. Der Kunst steht sie näher als dem Verwaltungsvorgang. Weil sie ihrem Wesen nach informell ist, lässt sie sich nicht formalisieren. So wenig man ihre Praxis in Formeln voraus berechnen kann, so wenig lassen sich ihre Resultate messen und quantifizieren. Aber weil sie aus öffentlichen Mitteln bezahlt wird, muss sie ihre Leistungen kontrollieren, d.h. bewerten lassen. Doch das kann nur qualitativ geschehen. Und weil sie nicht punktuell vorgeht, sind immer ganze Situationen zu beurteilen – im Quer- und Längsschnitt, und das braucht seine Zeit.
Vom Sozialarbeiter verlangt das… nein, nicht ein neues, aber ein geschärftes Profil. Mehr denn je ist Intuition eher am Platze als Kalkül, das Erfassen ganzer Gestalten eher als das geschickte Kombinieren einzelner Elemente. Je unspezifischer die Praxis des Sozialarbeiters wird, umso belastender wird für ihn das Fehlen objektivierbarer Maßstäbe. Und umso nötiger werden strenge Verfahrensregeln; nicht sowohl positive – etwa, um seiner Arbeit den Erfolg zu garantieren -, als vielmehr negative: als Mittel der Selbstkontrolle (wobei auch hier gelegentlich eine Ausnahme die Regeln bestätigen muss). Kurz gesagt, die neue Form der Sozialarbeit stellt höhere Forderungen an die Professionellen, nicht geringere. Aber sie sind unbestimmter, haben mit Kunst mehr zu tun als mit Technik, und es ist nicht einmal sicher, ob es professionelle Eigenschaften sind, um die es geht, oder um persönliche.[4]
„Lücke“
Wenn dies alles für die Sozialarbeit im Allgemeinen gilt, gibt es keinen Grund, weshalb es nicht mehr gelten sollte, sobald sie es mit Kindern zu tun bekommt. Dennoch wird stillschweigend vorausgesetzt, dass der Ausgangspunkt der Sozialpädagogik nicht die ‚Situation’ der Kinder ist, sondern weiterhin die ‚Maßnahme’ des Professionellen – was dadurch verdeckt ist, dass die Maßnahme heute wie bei Aldi als „Angebot“ ausgepreist wird.
Es war nicht ein Versäumnis früherer Verwaltungen, die die Altersgruppe von zehn bis vierzehn Jahre als etwas Besonderes, nämlich als „Lücke“ ausgezeichnet hat. Sondern das ist ein ganz besonderes Alter, und dem haben frühere Verwaltungen in lebensweiser Selbst-beschränkung Tribut gezollt: Es ist ein Alter, in dem man nicht betreut und schon gar nicht „maßgenommen“ sein will. Denn es ist die größte Krise im Leben eines jeden, es ist der Abschied von der Kindheit. Auch in physiologischer Hinsicht, als Pubertät, aber nicht nur, nicht einmal vor allem. Es ist eine Krise des ganzen Menschen. Bis dahin verstand sich die Welt von selbst. Alles, was war, war so und nicht anders. Und plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, oder sieht es nur so aus?
„Der entscheidende Grundzug des Pubertätsalters besteht darin, dass es fast jeden Menschen zum Dichter macht“, indem er „die ganze Welt der Erscheinungen“ nicht für bare Münze, sondern bloß „symbolisch nimmt“ (E. Friedell).[5] Die Selbstverständlichkeiten sind dahin und alles gerät in Zweifel, nicht nur alles Andere, sondern auch das Selbst. Es ist der kritische Zustand par excellence, eine „zweite Geburt“ (E. Erikson). Nach außen gibt es sich durch Frechheit, Spottsucht und Mutwillen zu erkennen, und wurde vormals als Flegeljahre[6] geschmäht und als Lausbubenalter oder Robinsonzeit verklärt. In unseren auf korrekten und sparsamen Umgang bedachten Zeiten sieht man sie als Vorstufe zur Jugendkriminalität an und will ihnen mit Verhütungsmitteln begegnen. Dabei sind es wie eh die produktivsten Jahre, von deren Ertrag man ein Leben lang zehrt.
Sozialisation
Welches ihr Ertrag ist, hängt davon ab, wie die Krise überstanden wurde. Die wichtigste, weil nächstliegende ‚äußere’’ Ressource eines Jeden bei Bewältigung der Lebensaufgaben sind seine alltäglichen Zusammenhänge mit Anderen. Die sind eng oder weit, viele oder wenige, tief oder flach; aber nicht gut oder schlecht. Unter gewissen Umständen wirken sie freilich – auf andere – eher konstruktiv, unter anderen eher destruktiv.
Aufgabe der Jugendhilfe ist es, die Bedingungen so zu arrangieren, dass die lebensweltlich gegebenen Zusammenhänge zwischen jungen Menschen eher die Chance haben, konstruktiv zu wirken, als destruktiv. Dass Kinderbanden S-Bahnzüge demolieren, kommt vor. Wenn es aber in ihrer Lebenswelt Besseres zu erleben gibt als das, ist es weniger wahrscheinlich…
In diesem Alter verfügen wir im Wesentlichen über drei ‚äußere Ressourcen’, drei Typen von Zusammenhängen mit Andern: Die eigne Familie daheim, die Schule hinter ihren Mauern, und die Kindergesellschaft – kid society – draußen auf Straßen und Plätzen. In der Familie sind die Zusammenhänge natürlich und heimlich, in der Schule sind sie künstlich institutionalisiert und verregelt. Und statt eines unerschöpflichen Kraftquells sind beide heut öfter Sturmzonen und Minenfelder. Die Kindergesellschaft dagegen ist ebenso natürlicher wie öffentlicher Zusammenhang.
Im bestimmten Gegensatz, doch insofern immer in Wechselbeziehung zur privaten Häuslichkeit und der öffentlichen Institution, ist sie auf dieser Lebensstufe vorrangige Sozialisationsinstanz. Sie ist selber eine lebensweltliche, nicht-professionelle Form der ‚Jugendhilfe’ und Einrichtung der Generalprävention, die der Steuerzahler gratis kriegt.
„Die Sozialisierung des Kindes wird im Wesentlichen in der Kindergruppe vollzogen. Es gibt eine Kinderkultur, die unter Umgehung der Erwachsenen von den älteren auf die jüngeren Kinder übertragen wird. In der Kindergruppe wächst das Kind in die Gemeinschaft, und es erlebt durch den Erwerb von sozialem und technischem Geschick eine Art von sozialem Aufstieg, der sich mit dem Ansteigen seiner Rangposition verbindet. Die Älteren dominieren in freundlicher Weise über die Jüngeren. In der Kindergruppe können die Kinder ihren Spielpartner wählen. Sie können sich mit Gleichgeschlechtlichen zusammenfinden, Anders- geschlechtliche aufsuchen oder exklusive Freundeszirkel bilden. Schließlich kann das Kind auch alleine spielen, wenn ihm danach zumute ist.“ (Eibl-Eibesfeld)[7] Das traf auch auf unsern Kulturbereich zu und änderte sich „erst mit der Ausbildung der anonymen Massengesellschaft und mit der im technischen Zeitalter fortschreitenden Zerstörung der Siedlungen durch den Verkehr. Kinder können sich nicht mehr so frei sozial und im Raume entfalten wie einst.“
Nicht zu vergessen der Einbruch des Pädagogenstandes! Die berufsmäßigen Sozialisationstechniker sehen in den eigenen Gesellungsformen der Kinder ihren natürlichen Feind und beteiligen sich, neben dem Straßenverkehr und der fortschreitenten Verwertung von Räumen und Zeit, an ihrer Brachlegung.
In Kindergärten und Horten wird der urwüchsige Zusammenhang der Altersgruppen in Jahrgangsklassen aufgesplittert. „Mit dem Wegfallen der älteren, vorpubertären Kinder verlieren die Kleinen ihre anregendsten Spiel- und Sozialisationspartner außerhalb der Kleinfamilie. Außerdem geht darüber auch die Kinderkultur zugrunde, denn diese wird nicht von Erwachsenen tradiert.“[8] Um ihr Erbe wetteifern Schule und Kommerz, und eine entscheidende Bildungsinstanz geht verloren.
Präventiv
Wo sie nicht schon zum Erliegen kam, ist die Kindergesellschaft bis heute eine der wichtigsten Ressourcen für das Heranwachsen in den Städten. In Amerika hat die kid society in der empirischen Sozialforschung wie in der Umgangssprache Anerkennung gefunden. Hingegen deutet der in Deutschland gebräuchliche Begriff ‚soziale Kinderwelt’ (L. Krappmann)[9] zwar auf die relative Autonomie und Geschlossenheit dieser Sozialbildung hin; aber nicht auf das Medium, das vorrangig seinen Zusammenhang stiftet.
Es handelt sich um eine Gesellschaft nicht nur in dem Sinn, dass sie ein ‚Netzwerk von Netzwerken’ darstellt, sondern mit der spezifischen Bedeutung, dass ihr eine Öffentlichkeit zu Grunde liegt.
Es ist eine rudimentäre, parzellierte Öffentlichkeit, in der Sensationen und Legenden leichter kursieren als Tatsachenmeldungen. Das liegt am großen Anteil, den die Phantasie an ihrem Zustandekommen hat. Die vorrangige Rolle, die in der Ausbildung der Kindergesellschaft der Einbildungskraft zukommt, markiert den Unterschied zur erwachsenen ‚wirklichen Welt’ von Vorteil und Wettbewerb, von deren Wertordnung sie noch kaum affiziert ist. Das macht aber nicht ihre Schwäche, sondern ihre Stärke aus.[10] Keiner wird bezweifeln, dass die Wertordnung der Kindergesellschaft, wenn sie sich frei entfalten könnte, große Ähnlichkeit mit den ritterlichen Tugenden von Parzival und der Tafelrunde hätte. „Treu sind sie und verlässlich, wie zu keiner Zeit ihres späteren Lebens wieder. Kein Feigling zu sein, ist ihr höchstes Ziel. Denn jeder will etwas gelten, gerade weil die Erwachsenen sie nicht für voll nehmen.“ (H. H. Muchow)[11]
Doch die öffentlichen Zusammenhänge brauchen, um sich zu finden, Platz. Den haben sie nicht mehr. Lausbubenalter und Flegeljahre sind in unsern Stadtlandschaften zusehends in zwielichtige Ecken abgedrängt, zerfasert, beengt, verkrüppelt. Die eigne Sozialität der Kinder kann ihre Energien nicht länger konstruktiv im ‚Abenteuer’ freisetzen. Sie findet keine Spiel-Räume mehr und muss sich destruktiv Bahnen brechen: Was einst nur Dummejungenstreiche waren, wird heut schon als „Gewaltbereitschaft“ beschrieen; und früher oder später erfüllen die Prophezeiungen dann sich selbst.
Nämlich immer dort, wo es sich um die verstümmelten Rudimente der Kindergesellschaft in jenen Vierteln handelt, in denen sie überdurchschnittlichen Belastungen ausgesetzt ist. Dazu gehören inzwischen auch ethnische und sprachliche Grenzen, doch auch in den sozial noch stabilen Stadtvierteln geht der Kindergesellschaft, angesichts zusehends von Erwachsenen verwerteter Räume und Zeit, ihr Regulationsmedium verloren: Öffentlichkeit; denn die braucht Plätze, wo man sich trifft. In der erwachsnen, ‚richtigen’ Gesellschaft – das zwanzigste Jahrhundert hat es hinreichend bewiesen – ist der zuverlässigste Regulator, um dissoziale Kräfte zu neutralisieren, Öffentlichkeit. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass dies für die Kindergesellschaft weniger gälte. Bevor die Sozialpädagogik sich en détail den ‚Einzelfällen’ zuwendet, hat sie eine kulturpolitische Aufgabe en gros: der Kindergesellschaft Raum lassen. Sie ist präventiv in einem eminenten Sinn.
Bildung
Die Pädagogisierung des Kindes war eine Seitenansicht der Bürokratisierung der Welt, die Max Weber für die unvermeidliche Folge der Rationalisierung moderner Gesellschaften hielt, und vor drei, vier Jahren galt allenthalben die ‚Entpädagogisierung der Kindheit’ als eine vordringliche Kulturaufgabe. Seit PISA heißt es: Kehrt, Marsch! Eine Frenesie der Verschulung geht durchs Land, wobei gerade PISA dafür keinerlei Anhaltspunkt gab, sondern eher fürs Gegenteil.[12]
Bildung besteht nicht aus Informationen, die auf Dateien fix und fertig gespeichert und in Ordnern wohlsortiert für den Abruf bereitliegen. Bildung ist ein lebendiges Vermögen. Sein Ursprung ist die Einbildungskraft. Seine gestalterische Energie ist die Fähigkeit zum wertenden Urteil. Einbildungskraft kann man niemandem „beibringen“. Allenfalls kann man sie „hervorrufen“ und herauslocken, wo sie brachgelegen hat. Urteilskraft dagegen kann man üben, indem man sie ausübt – am mannigfaltigen Material, das unsere Kultur bereithält. Der Stoff der Bildung ist kein Pensum, das abzuarbeiten ist, sondern ein Reichtum, der danach schreit, genommen zu werden; nicht mit Fleiß, sondern in Muße.
Das ist der „Bildungswert der Freizeit“, von dem Roman Herzog spricht,[13] ganz im Sinne seines Nachfolgers: „Bildung ist die Verwandlung der Welt in das Ich.“ Soll sie etwas taugen, muss sie „den ganzen Menschen erfassen“. Dafür jedoch „fehlt die Muße, die man braucht, um Grenzen zu überschreiten“.[14] Bildung beginnt, bevor es etwas zu „lernen“ gibt, mit dem Erleben. Keine noch so verständige Betreuung kann den Erlebniswert der Freizeit ersetzen. Die ‚Verwandlung der Welt in das Ich’ fängt an bei der freien Aneignung von Raum und Zeit; im ungebundenen Spiel.
Die Vermengung von Schule und Freizeit ist weder dem Unterricht förderlich, noch dem Spiel. Sicher kann arbeiten Spaß machen. Aber Arbeit hat einen vorgegebenen Zweck, und wenn sie den verfehlt, ist sie unnütz vertan. Das Spiel hat nur sich selbst zum Zweck, der immer erst gesucht werden muss; es kann misslingen. Ob oder ob nicht, ist eine Frage sowohl der Einbildungskraft als des wertenden Urteils, und darum bildet das Spielen. Seine höhere Form ist die Kunst, und die hat mit Wissenschaft mehr zu tun als (etwa) die Mathematik.[15]
Was ist beabsichtigt?
Weil die Sozialarbeit mehr Kunst ist als Technik, lassen sich ihre ‚Einrichtungen’ nicht aus Begriffen konstruieren und in Einzelfunktionen zerlegen, sondern nur in qualitativen Bildern veranschaulichen. In Begriffen lassen sich lediglich die Aufgaben umreißen, die sie erfüllen sollen.
Wünschenswert wäre also: ein ‚Ort’ im sozialen Raum, der der Kindergesellschaft einen Platz schafft, wo sie ihre verstreuten sozialen Netzwerke zur Öffentlichkeit ‚vernetzen’ kann; eher eine ‚Instanz’ im Viertel, die durch ihr Zuhandensein ‚wirkt’, als ein ‚Dienst’, der spezifische ‚Leistungen’ erbringt.
'Ort’ ist dabei wörtlich zu nehmen: Wände und Türen, die man öffnen und schließen kann. An diesem Ort soll insbesondere Öffentlichkeit entstehen können; er muss also in einer anderen Weise „offen“ sein als die herkömmlichen Häuser der Offenen Tür, wo die Sorge um die professionelle Qualität im Innern der Offenheit nach außen stets in die Quere kommt. Theoretisch darum, weil Sozialarbeit, solange sie nicht als Vermittlungsagentur, sondern als Leistungsdienst aufgefasst wird, notwendig als Beziehungsarbeit erscheint, und unter dem ständigen Postulat steht, sie müsse „die Betreuung intensivieren“ – wozu man Stetigkeit bräuchte.
Und praktisch ist es für die Professionellen sehr unbefriedigend, jeden Tag mit andern Kindern wieder von neuem anzufangen. Daher die Vorliebe für Regelmäßigkeit und Feste Gruppen, die durch ihre „sinnvolle Freizeitbeschäftigung“ oder durch ihre „Bezugsperson“ definiert werden (Neigungs-, Projekt- und sonstwelche Gruppen). Das läuft darauf hinaus, anstelle der eigenen Sozialbildungen der Kinder neue, bessere, pädagogisch korrekte Sozialbildungen setzen zu wollen. Und folglich mussten die Professionellen bislang die Kindergesellschaft als ihren natürlichen Feind auffassen und als Nährboden der Dissozialität anschwärzen.
Wird, umgekehrt, die Kindergesellschaft als der Leistungsempfänger betrachtet, und wird Öffentlichkeit als deren auszeichnendes Merkmal (an)erkannt, kehrt sich die Optik um. ‚Regelmäßig’ sind die Kinderfreundschaften (und sind dabei lebensgeschichtlich noch viel mehr als eine bloße Sozialisationsetappe); zur Kindergesellschaft bilden sie sich nur von Fall zu Fall, bei Gelegenheit – sei’s, weil sich die Gelegenheit ergibt, sei’s weil es die Gelegenheit erfordert. Die Frage ist nicht, wie ‚regelmäßig’ die Gelegenheiten sich ergeben, sondern wie wahrscheinlich es ist. In der sozialräumlichen Auffassung der Sozialarbeit wird nicht auf Wenn-dann-Kausalitäten gerechnet, sondern wird gefragt, was mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Die Offenheit des „Clubs“ bietet eine günstige Bedingung dafür, dass gewisse Dinge sich ereignen können, die anderswo nur ungünstige Bedingungen finden. Aber nichts spricht auch dagegen, dass die Professionellen ihrerseits günstige Gelegenheiten herbeiführen, wenn sich’s ergibt…
Dieser Ort wäre in erster Linie Treffpunkt, sodann Schutzraum, und schließlich – im übertragenen wie im wörtlichen Sinn – eine Wärmstube. Er ‚wirkt’ bereits durch die Gewissheit, dass es ihn gibt und man ihn nutzen könnte. Aber dieses Wissen geht verloren, wenn er nicht immer wieder mal tatsächlich genutzt wird. Allerdings handelt es sich dabei um ein qualitatives Verhältnis – das sich nicht einfach an der Zahl der täglichen Besucher messen lässt, aber daran noch eher als an der jeweiligen Aufenthaltsdauer.
Erfüllen die Räume die Erwartung, die an sie gestellt werden, dann erhalten die dort tätigen Professionellen einen Einblick in und einen Überblick über das tägliche Leben der Kindergesellschaft in ihrem Viertel. Insofern üben sie – und das ist der professionell heikelste Punkt – eine Art von ‚Aufsicht’ aus.
Dass die bloße Anwesenheit von Erwachsenen die verschwiegene Exklusivität der Kindergesellschaft preisgibt, bleibt den Kindern ja nicht verborgen. Die Frage ist nur, wie sie es aufnehmen. Gewinnen sie den Eindruck, sie sollten ausgespäht werden, ist das Projekt gescheitert. Dass die anwesenden Erwachsenen allerhand zu Ohren und zu Augen bekommen, schadet nicht, solange sie „nix weitersagen“. Das Vertrauen auf die Loyalität der Professionellen ist das Geschäftskapital eines solchen Clubs.
Allerdings schließt das Vertrauen auf ihre Loyalität unter Umständen gerade die Erwartung ein, dass sie das eine oder andere weitersagen - aber in der gehörigen Dosierung und an die richtige Adresse. Und das bedeutet wiederum auch ein Vertrauen in die Urteilskraft der handelnden Personen, dem sie sich jeden Tag neu gewachsen zeigen müssen (und zwar in jeder erdenklichen Hinsicht). Dazu gehört namentlich die Kunst, sich die unvermeidlichen Anmutungen von dritter Seite vom Leib zu halten, ohne dass böses Blut aufkommt. Und die Kinder sollen sich darauf verlassen können, dass jemand da ist, der im äußersten Fall die Notbremse zieht. Insofern wäre ‚Aufsicht’ zu verstehen als eine Art Garant und Rückversicherung.
Einer Anmutung von außen, die unweigerlich kommen wird, kann sich der „Club“ freilich nicht verschließen, weil sie nicht unbillig ist:
Die „Lücke“ ist ja dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur die Kinder selbst, sondern ebenso ihre Eltern meinen, dass sie für eine umfassende ‚Betreuung’ schon „zu groß“ sind – zugleich aber noch nicht groß genug, um sie vollends sich selber zu überlassen. Wenn’s die Kinder auch nicht gerne zugeben: In Wahrheit wünschen sich auch sie, dass sie im Ernstfall einen haben, an den sie sich halten können. Insofern ist der Übergang zu einer spezifischen ‚Leistung’ hier fließend. Allerdings geht das professionelle Kalkül dahin, die Kinder würden kraft der Gewissheit, dass „im Notfall einer da ist“, umso seltener in Notfälle geraten und umso öfter den Mut finden, sich selber zu helfen. Insofern wäre der „Club“ auch ein Ort, wo Einzelne Rat und Hilfe finden können. Es braucht Taktgefühl und Kunstsinn, Rat und Hilfe nicht in „Betreuung“ ausufern zu lassen und so den offenen Charakter des Clubs aufs Spiel zu setzen.
Die erste, vorrangige Aufgabe – weil sie die Bedingung für alles Weitere schafft – bleibt es, die Räume verfügbar zu halten. Das ist nicht zu unterschätzen und erfordert seinen ganzen Mann; allerdings auch nur diesen einen; mehr wäre nicht genug. Es geht sowohl um den Erhalt der sachlichen Ausstattung als um das tägliche Austarieren von Offenheit und innerer Lebensfülle. Beides verlangt persönliche Autorität, und beide Aufgaben müssen vom „Clubwart“ glaubhaft personifiziert werden. Daher sollte diese Verantwortung nicht geteilt werden. Das ginge, wo Kinder lediglich „sinnvoll beschäftigt“ werden sollen; aber nicht, wo der ‚ganze Mann’ gefordert ist.
Das ist das Standbein. Zugleich sollte der „Club“ als Spielbein eine „ausgreifende“ oder (wie es missverständlich genannt wird) „aufsuchende“ sozialarbeiterliche Aktivität gegenüber der lokalen Kindergesellschaft ins Auge fassen – was landläufig (nicht weniger unscharf, aber immerhin verständlicher) als Streetwork bekannt ist.
Wobei die Unterscheidung von Stand- und Spielbein keine Rangordnung bezeichnet oder etwa den Anteil an der Arbeitszeit; sondern lediglich deutlich macht, dass letzteres ersteres zu seiner sachlichen Voraussetzung hat, aber nicht umgekehrt. Wie eine solche ‚ausgreifende’ Tätigkeit im Einzelnen aussehen könnte, muss erst – das sei gleich eingangs freimütig bekannt – herausgefunden werden. Das Vorhandensein eines festen Stützpunkts als „Basislager“ ist dafür aber eine Voraussetzung.
Die beiden Tätigkeiten hängen sachlich miteinander zusammen, sollten aber nicht vermengt werden. Sie sollten personal betrennt sein. Zwar nicht so, dass „Tätigkeitsmerkmale“ definiert und danach eine ‚Stelle’ zugeschnitten würde; sondern die erste Verantwortung für das eine wird diesem, für das andre dem andern Sozialarbeiter anvertraut. Pedanterie um ‚Zuständigkeiten’ ist nicht am Platz, es wird im Alltag allerhand Überschneidungen geben. Umso zweckmäßiger, wenn jeder von beiden weiß, was zu allererst von ihm erwartet wird.
Der Club wäre „sozialraumorientiert“ freilich nicht einfach in dem Sinne, dass er im Sozialraum eine ausgewählte Klientel bedient; sondern er richtet sich darüber hinaus an den Sozialraum als Ganzen. Sein Thema ist das Verhältnis zwischen den Generationen, und auch dies nicht nur im Sinne eines ersprießlichen Zusammenlebens, sondern in Hinblick auf das demographische Gleichgewicht.
Das ist die ‚systemische’ Seite. Es gibt aber auch eine krude praktische. Es ist die Regel, dass die „Elternbeteiligung“ abrupt nachlässt, sobald die Kinder die Kita verlassen haben, aber spätestens nach der zweiten, dritten Klasse. Insbesondere die Väter sieht man höchstens noch beim Fußballtraining…
Hier wird von ihnen nicht „Beteiligung“ (etwa an Sitzungen) erwartet, sondern ein nützlicher Handschlag mal hier, mal da in der Werkstatt und am Computer. Wobei zehn, die monatlich eine Stunde mitmachen, in systemischer Hinsicht besser sind als einer, der zehn Stunden investiert (obwohl jener in sachlicher Hinsicht effektiver sein mag).
Wo?
Im Altbezirk Wilmersdorf bzw. dem Ortsteil ‚City’ ist die Gegend zwischen Bundesplatz und der alten Dorfaue für die Erprobung einer präventiven, systemisch konzipierten und feldbezogenen Sozialarbeit in der Altersgruppe der Zehn- bis Vierzehnjährigen am ehesten geeignet – und sie kann sie am besten gebrauchen. Sie weist unter allen Verkehrszellen im Bezirk bzw. Ortsteil den höchsten Anteil an Kindern in diesem Alter auf, sowie auch der nachwachsenden Jahrgänge, und es gibt eine sichtbare Kinderkultur, die von der Topographie begünstigt wird. Doch zum andern weist das Gebiet die schwächste Sozialstruktur im Altbezirk auf und ist von weiterem Niedergang bedroht.
Verkehrszelle 0442/Hildegardstraße
Quelle: Stadtatlas
Das Quartier wird gebildet von den Blöcken in der Verkehrszelle 0442/Hildegardstraße westlich der Bundesallee sowie in der angrenzenden Verkehrszelle 0441/Rudolstädter Str. bis zur Mecklenburgischen Straße. Soweit ältere Kinder in Betracht sind, müssen in einem weiteren Sinn auch der Ostteil der Verkehrszelle 0442 sowie der Südteil der Verkehrszelle 0411/Rathaus dazu gerechnet werden. (Vz. 0441 und 0411 haben nur ein Drittel der Bevölkerung wie Vz. 0442, weil sie nur zum Teil eine geschlossene Bebauung aufweisen – nämlich dort, wo sie in Vz. 0442 übergehen.
Anteil von Kindern an der Gesamtbevölkerung
Hildegardstr. Rudolstädter Rathaus Altbezirk Ortsteil
6 – 14 Jahre
|
6,4 %
|
7 %
|
7 %
|
6,5 %
|
6 %
|
Bis 5 Jahre
|
4,9 %
|
4,4 %
|
4,5 %
|
3,9 %
|
4,1 %
|
Die Tabelle zeigt: Der Anteil der älteren Kinder im „Lücke“-Alter wird in den kommenden Jahren in der Verkehrszelle Hildegardstraße gegenüber dem restlichen Wilmersdorf noch zunehmen; sofern nämlich deren Familien dort wohnen bleiben und nicht dem Beispiel vieler anderen folgen und ins Umland wegziehen.
Die Kinderkultur findet ihren natürlichen Dreh- und Angelpunkt in dem Teil des Volksparks, der den ehemaligen Wilmersdorfer See bedeckt: zwischen Bundesallee und Uhlandstraße, wo sich (an der Verlängerung der Livländischen) eine große Spiellandschaft (mit Basketballplatz) sowie die zwei Fußballplätze des 1. FC Wilmersdorf befinden, dessen Trainingsarbeit täglich einige hundert Kinder und Jugendliche ins Viertel zieht.
Im Park sieht man Kindergruppen in wechselnder Zusammensetzung bei unterschiedlichsten – formellen und formlosen – Spielen, und auch in den benachbarten Straßen kann man Kinder zwischen parkenden Autos Versteck spielen sehen. (Ethnische Spannungen konnte ich nicht beobachten.) Die Konzentration einer kindlichen Population schlägt sich in einer auffälligen Dichte von Betreuungseinrichtungen nieder. Allein zwischen Mainzer und Hildegardstraße zähle ich ein rundes Dutzend.
Insofern sind hier im Feld jene Ressourcen vorhanden, an die angeknüpft werden kann und die zu konsolidieren sind.
Nach dem Sozialstrukturatlas von Berlin liegt die Vz. Hildegardstraße, wie der OT Wilmersdorf, in der „vierten Schicht“ – von sieben, und somit im Durchschnitt; allerdings, mit Rang 148, an dessen unterem Ende! Noch tiefer rangiert die unmittelbar angrenzende Vz. Rathaus, die mit Rang 177 sogar schon der „fünften Schicht“ angehört. (Auch die Vz. 0421/ Schaperstraße rangiert mit Platz 150 noch hinter Vz. Hildegardstraße; das liegt zweifellos an ihrer Überalterung, die allen als Warnung dienen muss.) In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Sozialstruktur in der Vz. Hildegardstraße durchgängig verschlechtert; auch das zwar nur „im Durchschnitt“, aber deshalb muss man sich ja nicht daran gewöhnen.
Es gibt also Grund, einer weitern Verschlechterung jetzt entgegen zu treten. Eine entscheidende Etappe im sozialen Niedergang eines Viertels ist der Moment, wo junge Familien wegziehen, weil sie die Gegend für ihre größer werdenden Kinder nicht mehr zuträglich finden. Einen solchen Moment gilt es zu vermeiden. (Verbreitet findet man im Viertel bereits Leerstand nicht nur beim Gewerbe-, sondern auch beim Wohnraum.)
Wie?
Die Weimarische Straße ist eine ruhige Wohnlage mitten im beschriebenen Quartier, drei Minuten Fußweg vom Volkspark entfernt. Haus Nr. 5 liegt gegenüber vom Marie-Curie-Gymnasium und grenzt hinten an die Gebäude der Birger-Forell-Grundschule. Es ist ein altes bürgerliches Wohnhaus mit Vorgarten und einer gegliederten Fassade sowie zwei Hofgärten. Verfügbar ist ein Laden mit ca. 85 qm und drei Zimmern mit Küche und WC. Der Zugang ist von der Straße durch den Vorgarten.
Denkbar ist eine Reparaturwerkstatt für Fahrräder und Skateboards usw., evtl. auch für Holzarbeiten. Ein zweites, ruhig gelegenes Zimmer bietet sich für Schularbeiten und als Computerraum an. Das Reparieren von Fahrrädern sowie Schularbeiten, Suchen im Internet usw. sind typischerweise Tätigkeiten, bei denen man ab und zu Hilfe braucht; und wo einer, der’s kann, einem andern zeigen kann, wie’s geht – und dass er’s kann. Sie bieten Gelegenheit zur Gesellung, aber brauchen Ruhe und Abschirmung (und Platz). Schließlich bieten sie dem Neuen einen guten Vorwand, Anschluss zu suchen, ohne sich sogleich binden zu müssen.
Der hintere, etwas abgelegene Bereich (mit der Küche) ist für gesellige Begegnungen aller Art geeignet und sollte auf keine spezifische Nutzung festgelegt sein. Er könnte auch bei Gelegenheit für formellere Treffen, wie z. B. an Geburtstagen, zur Zeugnisvergabe, Ferienanfang und –ende usw. freigemacht werden. Ich nenne ihn vorläufig „Clubraum“. Dort könnten Bücher (Jugendromane!), Ton- und Bildträger ausliegen und Tauschbörsen stattfinden. Diesem Bereich, als dem Herzstück des Unternehmens, gilt die besondere Aufmerksamkeit des „Clubwarts“, weil hier die stärkste Spannung zwischen ‚Offenheit’ und ‚sinnvoller Nutzung’ zu erwarten ist. Es sollten beizeiten einige ältere Kinder an seiner Verwaltung beteiligt werden.
Übrigens - an die vorhandenen Gruppenbildungen der Kinder anknüpfen bedeutet nicht, dass die Professionellen nichts Eigenes vorschlagen dürften. Es spricht nichts dagegen, dass ein Erwachsener Kinder für etwas interessiert, das ihn selber begeistert – unter dieser Voraussetzung: dass es ihn begeistert und er es nicht aus professionellem Kalkül gewählt hat. (Dieser Unterschied entgeht Kindern selten.)
Die Räume sollten nach Ende des üblichen Schultages bis etwa 19 Uhr offen stehen. In den Abendstunden sollten sie von erwachsenen Nachbarn genutzt werden können.
...
im März 2006
PS. Aus diesem Vorhaben ist – Du ahnst es schon, lieber Leser – nichts geworden. Die zuständigen Beamten im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf fanden, sie brauchen sowas nicht, sie hätten schon alles…
PS. Aus diesem Vorhaben ist – Du ahnst es schon, lieber Leser – nichts geworden. Die zuständigen Beamten im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf fanden, sie brauchen sowas nicht, sie hätten schon alles…
1 siehe Berliner Morgenpost von 2. 2. 2006
[2] s. J. Ebmeier, „Vom Ordnungsdienst zur Vermittlungsagentur“ in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 4/1994
[3] siehe Wolfgang Hinte, Gutachterliche Stellungnahme zum Kinderhaus in Berlin-Friedrichshain (unver-öffentlicht; 1992)
[4] s. J. Ebmeier, „Ein gewagtes Unternehmen“ in: Soziale Arbeit, 12/1993
[5] Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, München 1947, Bd. I, S. 85
[6] siehe Hans Heinrich Muchow, Flegeljahre, Ravensburg 1963
[7] Irenäus Eibl-Eibesfeld, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1995, S. 815f.
[8] ebd.
[9] Lothar Krappmann, „Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen“ in: Hurrelmann/Ulrich, Neues Hand-buch der Sozialforschung, Weinheim 41991; S. 355ff.
[10] s. J. Ebmeier, „Philister über dir!“ in: Neue Sammlung 1/1992
[11] Muchow, S.23
[12] s. J. Ebmeier, „Nach PISA – Parteienkampf und Paradigmenwechsel“ in PädForum 4/2002; sowie: Wiss. Beirat für Familienfragen, „Bildung fängt in der Familie an“, ebd.
[13] Roman Herzog, Wie der Ruck gelingt; München 2005
[14] Johannes Rau, Den ganzen Menschen bilden – Wider den Nützlichkeitswahn; Weinheim 2004; S. 78 ff.
[15] vgl. zu diesem Abschnitt J. Ebmeier, „Von der Künstlichkeit des Kindes und der Kindlichkeit der Kunst“ in: Pädagogische Rundschau 5/2000
[2] s. J. Ebmeier, „Vom Ordnungsdienst zur Vermittlungsagentur“ in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 4/1994
[3] siehe Wolfgang Hinte, Gutachterliche Stellungnahme zum Kinderhaus in Berlin-Friedrichshain (unver-öffentlicht; 1992)
[4] s. J. Ebmeier, „Ein gewagtes Unternehmen“ in: Soziale Arbeit, 12/1993
[5] Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, München 1947, Bd. I, S. 85
[6] siehe Hans Heinrich Muchow, Flegeljahre, Ravensburg 1963
[7] Irenäus Eibl-Eibesfeld, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1995, S. 815f.
[8] ebd.
[9] Lothar Krappmann, „Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen“ in: Hurrelmann/Ulrich, Neues Hand-buch der Sozialforschung, Weinheim 41991; S. 355ff.
[10] s. J. Ebmeier, „Philister über dir!“ in: Neue Sammlung 1/1992
[11] Muchow, S.23
[12] s. J. Ebmeier, „Nach PISA – Parteienkampf und Paradigmenwechsel“ in PädForum 4/2002; sowie: Wiss. Beirat für Familienfragen, „Bildung fängt in der Familie an“, ebd.
[13] Roman Herzog, Wie der Ruck gelingt; München 2005
[14] Johannes Rau, Den ganzen Menschen bilden – Wider den Nützlichkeitswahn; Weinheim 2004; S. 78 ff.
[15] vgl. zu diesem Abschnitt J. Ebmeier, „Von der Künstlichkeit des Kindes und der Kindlichkeit der Kunst“ in: Pädagogische Rundschau 5/2000
Abonnieren
Posts (Atom)