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Montag, 28. April 2014

Kästchendenken und Tonnenideologie.


"Mit dem Kopf kommen Sie nicht durch die Wand. Man muss auch Kompromisse machen!" - das haben sie mir alle gesagt, als ich seinerzeit meinte, nun sei lange genug geredet worden, praktische Erfolge in der Umorientierung der Sozialarbeit "vom Fall zum Feld" werde man vergeblich von denen erwarten, die bislang aus der Verbindung von Kästchendenken und Tonnenideologie ihren Vorteil gezogen haben. Man müsse den Stier bei den Hörnern packen und mit der Umordnung praktisch beginnen - heute.

Mit dem Kopf kommt man nicht durch die Wand, sie haben Recht behalten und das Nötige dazu nicht unterlassen. Dass man aber auch nur einen Schritt vorankommt, indem man schon vorab "Kompromisse macht", das glaube ich heute weniger denn je. 

Richtiger gesagt, ich weiß heute bestimmter denn je, dass das nur in Kriecherei enden kann.


aus Sozial Extra 7-8/1993
Eine Steinzeit-Technologie?
Die Sozialarbeit vor ihrer Dritten industriellen Revolution

Kästchendenken… 

In der industriellen Fertigung ist es seit Jahren eine Binsenweisheit: Von ei­nem bestimmten Stand der
technologischen Entwicklung an schlägt die Arbeitstei­lung um aus einem Antrieb in ein Hemmnis der Produktivität. In dem nach seinem ersten Theoretiker, dem amerikanischen Ingenieur F. W. Taylor benannten System der mechanisierten Fabrik galt es, alle Arbeitsgänge in kleine, einfache Sequenzen zu zergliedern und auf routinierte Spezialisten zu verteilen. Für die Abstimmung der atomisierten Teilarbeiten aufeinander sorgte die höhereIntelligenz der Geschäftsleitung. Aus den Montagehallen Henry Fords nahm Taylors System seinen Siegeszug durch die Welt.

Doch eines Tags war der Punkt erreicht, wo die Zeitersparnis, die man durch gezielte Perfektionierung voneinander isolierter Arbeitsgänge erreichen konnte, wieder wett-gemacht wurde durch die sinkende Anteilnahme des Arbeiters an seinem Werk: Die Diskussion um die Humanisierung der Arbeitswelt zielte auf Seiten der Industrie von Anbeginn auf Steigerung der Produktivität durch erneuerte Arbeitsfreude. Von einem bestimmten Grad der Qualifikation an ist es nämlich, menschlich gesprochen, unver-meidlich, daß die Arbeitskräfte auch gewisse kulturelle Ansprüche an ihre Tätigkeit entwickeln. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. 

…und Tonnenideologie.

Der parzellierten Organisationsform des Arbeitsvorgangs entsprach freilich eine bestimmte Art des Produkts: Das Taylor-System gehört zu einer Massenproduktion, die auf eine gewisse Anzahl verhältnismäßig einfacher Durchschnittsbedürfnisse berechnet ist; wobei die Qualität dann standardisiert werden kann. Kästchendenken und Tonnenideologie liegen nah beieinander – wenn nämlich ein Experte der indifferenten Masse ‘Bevölkerung’ nach Maßgabe seiner Kapazitäten ‘Bedürfnisse’ zurechnet, die er dann planmäßig “abdeckt”. Da der Experte den Markt immer nur über den Daumen anpeilen kann, werden in diesem industriellen System tote Kosten in Gestalt von brachliegenden Ressourcen und Produktion auf Halde nicht ausbleiben.

In einer Gesellschaft, die durch Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung gekennzeichnet ist, nimmt diese Vergeudung überhand, denn die Nachfrage individualisiert sich mit den Lebensstilen. Namentlich Hersteller sehr teurer Produkte – Autos z. B. – müssen Formen industrieller Fertigung entwickeln, die unmittelbar auf spezifische Nachfragen reagieren können, wenn (und  wo) sie ’sich zeigen’ – um nicht einen Teil der Ressourcen auf Verdacht in Vorratslagern brachlegen zu müssen. 

the Human factor 

Das macht die Wiedereinführung der menschlichen Intelligenz in den Produktionsvorgang erforderlich.

In der Taylor-Fabrik war die produktive Einbildungskraft des lebendigen Arbeitsvermögens lediglich eine virtuelle Fehlerquelle, die möglichst auszuschalten war: Auf perfekt routinierte  Handlungsabläufe reduziert, war die Arbeitskraft zu einem Subsystem der Maschine geworden. Nun sollen die brachliegenden humanen Reserven mobilisiert werden ; der mitdenkende Arbeiter, dessen Entscheidungskompetenz gefordert ist, soll den Produktionsap­parat flexibler machen.

Nach einem mißlungenem Anlauf in Schweden (Volvo) in den siebziger Jahren hatte das neue System in den Achtzigern in Japan (Toyota) seinen Durchbruch und ist, über Amerika, inzwischen auch in die deutsche Automobilindustrie eingekehrt.

‘Funktionsintegration’ durch Gruppenarbeit heißt das neue Stichwort, statt Spezialistentum ist Polyvalenz gefordert: Der eine soll an die Stelle des andern treten können. Wobei ‘Rotation’ nicht etwa das Ende der Arbeitsteilung bedeutet, sondern deren Höhepunkt: Eine umfassend qualifizierte Equipe verteilt die Aufgaben in eigner Verantwortung jedesmal neu, pragmatisch und je nach Lage der Dinge. Und ebenso pragmatisch kooperieren die Equipen auch horizontal miteinander, ohne zeitraubenden Instanzenweg. Die Informationen fließen direkt, ohne unnötige Redundanz, ‘Rauschen’ und Übertragungsverluste. ‘Flache Hierarchien’ – und am besten gar keine – sind Folge und Bedingung einer solchen Arbeitsorganisation.

Doch was in der industriellen Fertigung, wo man es mit toten Stoffen zu tun hat, schon selbstverständlich ist, ist es ausgerechnet in der Sozialarbeit, alias Helfende Beratung, wo man doch mit lebenden Menschen zu tun hat, noch lange nicht. – Paradox?

Daß die spezialisierten Dienste, daß die ‘zuständigen’ Ämter und Abteilungen ei­fersüchtig über ihre geschützten Jagdgründe wachen und darüber, daß ja kein Loch in die Wände ihrer fachlichen Schubläden gebohrt wird – ist es absurd? Lauscht man den Klängen aus den Brüos der Jugendbehörden, so “muß das so sein”. Es sei nämlich die natürliche Folge des KJHG, welches in soundsoviel Paragraphen soundsoviel Bedarfe definiert, indem es soundsoviele Leistungen aufzählt, die ihnen entsprechen – und vor allem soundsoviel Töpfe schafft, aus denen das Geld kommt. Folgt aus dieser gesetzlichen Prämisse der Jugendhilfe ihre Parzellierung in ebensoviele spezialisierte ‘Dienste’ mit sachlicher Notwendigkeit

Landnahme 

Mitnichten. Zuerst waren nämlich die vielen Dienste da, nicht die gesetzlichen Definitionen. Unterm Dach eines längst obsoleten JWG war ein institutioneller Wildwuchs ins Kraut geschossen, der keiner irgend professionellen Idee gehorchte, sondern lediglich dem Gesetz des geringsten Widerstands: Wo immer der wuchernde Berufsstand der Helfenden Berater eine “Lücke” im System der (bezeichnenderweise so genannten) “psychosozialen Versorgung” erspähte, da sickerten sie ein, “deckten” sie “ab” und verteidigten die neugewonnene Parzelle mit Klauen und Nägeln gegen eine nimmermüde Konkurrenz.[1] Das Kästchendenken ist ein Produkt des Aneignungsprozesses. Die Paragraphen des KJHG sanktionierten dann nur noch den Status quo von 1990; sie beschreiben einen (dagewesenen) Zustand, aber begründen tun sie nichts. 

Die junge Standesgeschichte der Sozialarbeit/Sozialpädagogik ist die Geschichte einer Landnahme, und die äußert sich treffend in einer herrschaftlichen Metaphorik. Ihre Kampflosung heißt “Defizit”.

Das ist eine verschämte Sekundärbildung zu ‘Defekt’, von lat. deficere, und beide bedeuten, daß “etwas fehlt”. Doch daß etwas fehlt, kann nur der aussagen, der weiß, was ‘eigentlich’ alles da sein müßte; einer, der es besser weiß (und besser kann) als andere. Das Eroberungs- und Besitzstandswahrungs-Motiv der Professionellen reproduziert täglich neu eine hoheitlich-normative Fachlogik der Sozialen Arbeit, die “eigentlich” längst erledigt war. Was Ausnahme ist und was Regel, wer kann es noch sagen? Es ist gar keine Frage der richtigen Lehre mehr, sondern eine praktische Evidenz: Selbst wenn sie es wollte, die Sozialarbeit kann gar nicht mehr normativ sein – weil die verbindlichen Normen fehlen. Nichts ist mehr selbstverständlich.  Was der Einzelne soll, ist problematisch geworden. Und wird erstmal das Sollen zweifelhaft, ist bald auch das… Sein nicht mehr ganz faßbar. 

sich-selbst heraus-finden 

Es muß nun jeder sehen, wo er bleibt. Die gesellschaftlichen Institutionen ent­lasten ihn weiterhin – beim Gehen, aber nicht mehr von der Wahl seines Weges. Wohin er soll, muß jeder selbst herausfinden. Dabei ist die Lage, in der er steckt, unübersichtlicher denn je. Mit den ehrwürdigen Ordnungen sind auch die Orientierungsmarken geschwunden. Anything goes – woran soll man sich da noch halten? Was wichtig ist und was nebensächlich, verschwimmt in Gleich-Gültigkeit. Die Situation, in der sich einer befindet, mag ihm da leicht als ein Knoten vorkommen, in den er so fest verstrickt ist, daß er sich nicht mehr von Andern unterscheiden kann.

Daß einer allein nicht mehr zurechtkommt, ist in einer solchen Welt kein Defizit mehr, sondern gehört selber zur Norm. Helfende Beratung ist eine reguläre Dienstleistung geworden, die jeder früher oder später mal in Anspruch nimmt – in diesem Lebensbereich oder in einem andern. Rechtsberatung, Steuerberatung, Schönheitsberatung, Gesundheitsberatung, Anlageberatung – und Beratung in Fragen der privaten Lebensführung. 

Damit ist der gesellschaftliche Platz der Sozialarbeit radikal neu definiert. Nicht mehr Fürsorge, Anleitung und Versorgung im defizitären Ausnahmefall; nicht Wiederanpassung an eine materiale Norm: So und so sollst du es machen. Sondern helfende Beratung als reguläre Dienstleistung, denn die Norm ist heute nur noch formal: daß sich jeder selbst zurechtfindet.

Die “schweren” Fälle unterscheiden sich in solcher Perspektive von den banalen nur noch graduell, nicht kategorial. Die Übergänge sind gleitend, klassifikatorische Rubriken verlieren ihren praktischen Sinn, denn jeder ‘Fall’ ist nunmehr singulär: Welches sein rechter Weg ist, kann keiner wissen als der Ratsuchende selbst. Er muß sich-selbst heraus-finden aus dem mehr oder minder festen Knoten, in dem er steckt. Wo er lang soll, kann kein Wegweiser ihm zeigen, er muß finden, indem er geht. Auch das schönste Ziel frommt nicht einem Jeden. “Eines schickt sich nicht für alle, schaue jeder, wie er’s treibe. Schaue jeder, wo er bleibe – und wer steht, daß er nicht falle”: Denn nicht jeder ist dem Weg gewachsen, der zu seinem Ziel führt.

Der helfende Berater hat vor allem einen Vorteil: Er steckt nicht selber in dem Knoten drin, sondern kann ihn von außen betrachten. Er hat Abstand und Übersicht. Seine Fachausbildung hat seinen Blick geschärft und er nimmt Möglichkeiten wahr, die dem Ratsuchenden verborgen sind wie der Wald von Bäumen. Er kann ihm Ausgänge zeigen und ihm Mut machen, daß er finden wird, wenn er sucht. Sich selbst herausfinden in dem Doppelsinn, daß er einen Ausweg sieht – und daß er unterwegs sich selbst antrifft als einen, der seinem Knoten zwar ‘angehört’, der aber auch herauskann: weil er will.

Diagnostische Begriffe, die dazu dienen, Populationen nach Fallmerkmalen zu sortieren, haben keinen praktischen Zweck mehr. Die Streitfrage, wie weit sie theoretisch gerechtfertigt sind, erledigt sich damit. Selbst in der Medizin ist ja der Begriff der Gesundheit (alias Normalität) nur negativ gefaßt als Abwesenheit von Krankheit: wenn die Funktionen der physischen Organisation ungestört verlaufen. Plausibel ist er auch dem Nichtfachmann, als Leben ohne Beschwerden. Im Bereich des psychischen Befindens fehlen solche Selbstverständlichkeiten. In der bürgerlichen Welt ist das Leben zu einer Aufgabe geworden; also beschwerlich seinem Wesen nach (nicht nur, aber immer auch). Worin die Aufgabe besteht – was er ’soll’ -, muß indessen jeder selbst herausfinden, siehe oben. 

Diagnosen? 

Diagnostische Kategorien haben da nur noch heuristischen, erkenntnisleitenden, doch keinen konstitutiven, erkenntnisstiftenden Wert. Sie sind ein Hilfsmittel, ein Geländer, an dem sich der Betrachter ins Durcheinander der individuellen Problemlagen vorantastet. Steht er erst mittendrin, kann er loslassen und mit seinen eigenen Augen sehen. Auf wahre Begriffe kommt es ihm nicht an, nur auf gangbare Wege. Er denkt pragmatisch, nicht doktrinal, und von seinen Deutungen weiß er: Alles kann auch anders sein.

Das sind Binsenweisheiten, die kaum noch wer ausdrücklich bestreitet.
Warum sie also wiederholen?

Weil der diagnostische Sprach- und Denkduktus unter den Praktikern der Sozialarbeit einfach nicht totzukriegen ist. Denn die Wörter, die über die Sozialarbeit gesagt werden mögen, sind willfährig und Schall und Rauch, wenn die sachlichen Voraussetzungen ihrer täglichen Praxis ihnen nicht entsprechen. Für die Praktiker sind ihre sachlichen Voraussetzungen die Institutionen, die sie beschäftigen: die Plethora der um ihren Marktanteil konkurrierenden ‘Dienste’. Wenn aber der Ausgangspunkt der professionellen Reflexion der einzelne ‘Dienst’ und seine spezifische Leistung ist, dann verschwimmen die ratsuchenden Individuen Perspektivisch zum Abstraktum ‘Klientel’, das anhand allgemeiner Merkmale erst noch bestimmten Gesetzen (Begriffen, Typen, ‘Störungen’…) als deren jeweilige ‘Fälle’ zugeordnet werden muß. Die grammatische Unsitte, die weibliche clientela zum unpersönlichen Neutrum ‘das Klientel’ umzutaufen, entlarvt die ganze Logik, die den fachlichen Bestimmungsgrund der Sozialarbeit in der Selbstdefinition der Dienste ansetzt, statt im persönlichen Problem des jeweiligen Nutzers. Der diagnostische Denkstil ist unausrottbar, weil er dazu dient, den konkurrierenden Diensten die Kundschaft zuzuweisen – nicht zu viel und nicht zu wenig… ‘Das Klientel’ ist ein Kuchen, den es aufzuteilen gilt, und darum kann er nie groß genug sein. 

Generalistik 

Eine Sozialarbeit, die Berater und nicht mehr Wegweiser sein will, hat es nicht mit Fällen, sondern mit Personen zu tun. Wenn der Berater an dem einen etwas findet, was ihm bei einem andern auch schon auffiel, mag ihm das zur Orientie­rung dienen. Es charakterisiert dann sein eignes Nachdenken; doch nicht den Ratsuchenden. Denn der ist nicht für ihn, sondern er für jenen da. Bestimmungsgrund der Beratung sind nicht der Ratgeber und seine Begriffe, sondern der Ratsuchende und sein Problem, und die sind singulär. Sozialarbeit ist eine zusätzliche Ressource, die den Menschen bei der Bewältigung ihrer Lebensaufgaben zur Verfügung steht. Art und Weise der Hilfe wird bestimmt durch den Gebrauch, den der Ratsuchende von ihr.

Die Aufgaben des Sozialarbeiters präsentieren sich dadurch unspezifischer. Er weiß jetzt nicht mehr im Vorhinein, was da auf ihn zukommt. Er weiß nichtmal, ob er ihm gewachsen sein wird. Er steht in einem ‘Feld’ und wartet auf die Nachfrage – die ’sich zeigen’ muß, ehe er sie erkennen kann. Und dann muß er sich ihr stellen; das heißt: sich auf sie einstellen. Also statt das ‘Feld’ nach allgemeinen Begriffen zu sortieren und aufs besondere Profil der jeweiligen Dienste zu verteilen, “läßt er sie alle kommen” und berät sie so lange, wie er kann. Wenn er dann auch nicht mehr weiter weiß, läßt er sich selbst beraten, oder er rät. Schlimmstenfalls läßt er einen andern ran, vielleicht sogar einen Spezialisten.

Die Sozialarbeiter müssen wieder zu waghalsigen Generalisten werden, wie sie es in den Anfängen ihres Berufs waren. [2] Als umfassend qualifizierte Professionelle können sie das Spezialistentum überwinden und ihre Arbeitsteilung auf eine höhere Stufe stellen – als wechselnde Aufgabenverteilung von Fall zu Fall innerhalb einer eigenverantwortlichen Equipe. Daß das “nicht geht”, ist freilich ein verbreitetes Vorurteil – und beruht auf der eigenartigen Vorstellung, bei der Sozialarbeit käme es auf technische Präzision an und nicht auf produktive Einbildungskraft.

unscharfe Logik 

Doch auch hier zeigt sich das naturwissenschaftliche Denken der zeitgenössischen Technik humaner als die Schubkasten-Logik behördlicher Beziehungsarbeiter. Die elektronische Datenverarbeitung, Prototyp von Präzision und Perfektion, erweist sich nämlich als schwerfällig und… ungenau bei der Darstellung komplexer Sachverhalte. Ihre Sprache kennt nur ja und nein, richtig oder falsch, und ihr ‘Denken’ ist eine lineare Verkettung binärer Sätze.

Damit läßt sich aber nur die Realität im Labor oder einem andern künstlichen System adäquat beschreiben. In der restlichen – physikalischen bis betriebswirtschaftlichen – Wirklichkeit sind die Ereignisse immer komplex, d. h. vielfältig bedingt. Schon für die Steuerung von Maschinensystemen im produktiven Bereich ist die scharfe Ja-Nein-Logik zu ‘genau’ und schematisch; nicht zu reden von unternehmerischen Entscheidungen. Komplexität verlangt nach Vereinfachung – jedenfalls, wenn gehandelt werden soll. Nicht auf die treue Verrechnung aller Details kommt es an, sondern auf Einstellung, Zentrierung und Umstrukturierung des Wahrnehmungsapparats.

 Die Beschreibung ganzer Gestalten erfordert analogisch-qualifizierende, nicht digital-zählende Zeichensysteme. Unterm Namen Fuzzy Logic wird neuerdings die natürliche Sprache mit ihren wertenden, aber vagen Alltagsbedeutungen in die Computertechnik eingeführt, und die ersten fuzzy-technischen Waschmaschinen, Staubsauger und Backöfen kommen gerade auf den Markt, die ihre Aufgaben selbst wahrnehmen und sich in Kenntnis ihrer Möglichkeiten je darauf umstellen können.

Und was heute schon den Staubsaugern zugemutet wird, soll für eine Equipe intelligenter Menschen eine Nummer zu groß sein? Das  wird im Ernst keiner behaupten. Dennoch: “Es geht nicht.” Warum nicht? Weil es den Beamten in ihren Schubläden nicht gefällt?

das praktische Beispiel. 

Ja, so könnte es sein. Es ist jedenfalls der Eindruck, der bei der Betrachtung des höchst aufhaltsamen Aufstiegs des Modells Kinderhaus von der Idee zur Wirklichkeit entsteht. Vor knapp drei Jahren erstmals in der Öffentlichkeit ent­wickelt, war es von Anbeginn als Exempel für die Sozialarbeit neuen Stils konzipiert; gleichzeitig und in Einem: soziokulturelle Tagesstätte für ältere Kinder in den städtischen Wohnvierteln; informelle Anlaufstelle für ratsuchende Kinder und ihre Familien; gesellige Wohnstatt für jene, die – aus dem einen oder andern Grund – nicht im Haushalt ihrer Eltern wohnen können oder wollen. Ein integratives Angebot (diesmal paßt das Wort), wo die Schubladenwände zwischen ‘weicher’ und ‘harter’ Jugendhilfe – zwischen ‘Förderung’/Prävention und ‘Hilfe zur Erziehung’/Intervention – ebenso gefallen ist wie die zwischen ’stationär’ und ‘ambulant’.

Nach drei Jahren und viel Mühsal ist im Berliner Arbeiterbezirk Friedrichshain jetzt, als Grundstein zu einem Verbund gleichartiger Einrichtungen im ganzen Berliner Raum, das erste Kinderhaus eröffnet worden.  Eine Scheidung  zwischen ‘offenem’ (Club-) und ‘geschlossenem’ (Heim-) Bereich findet nicht statt. Jeder Bewohner kann seinen Freund mit nach oben bringen (denn er hat hier sein eigenes Zimmer und kann die Tür hinter sich zumachen), während Tagesräume und Werkstätten den Kindern der Nachbarschaft offenstehen. Ebenso sind die hier beschäftigten Sozialpädagogen gleichermaßen “für alles zuständig”, eine Auftei­lung der Verantwortung geschieht nicht. Was von innen wie ein Haushalt mit vielen Kindern und mit offenen Türen aussieht, präsentiert sich von außen, d.h. vom ‘Feld’ aus gesehen, als Treffpunkt und Drehscheibe der Kindergesellschaft im Quartier – und das ist die Perspektive, auf die es fachlich ankommt.

Freilich kein Angebot an alle Welt, sondern für eine bestimmte Stufe auf dem Lebensweg: die ehedem so genannten Flegeljahre, heute von der Berliner Behörde “Lücke-Alter” getauft, weil sie nicht weiß, was sie damit machen soll. Doch nicht die Professio-nellen weisen hier einem Klienten seinen Stand zu, sondern er selbst weist sich als dazugehörig aus – indem er ‘das Angebot annimmt’. Da es aber der Lebensabschnitt ist, der sich durch das ‘Drama von Trennung und Versöhnung’ (H. Stierlin) auszeichnet, bleibt es nicht aus, daß eine Menge Krisenfälle darunter sind; und daß hier und da helfende Beratung in engerem Sinn angezeigt ist. Indes wird sich der Bedarf umso freier zu erkennen geben, je weniger die Professionellen danach spähen: der diagnostische Blick schreckt ab.

Oftmals kann die einstweilige Abstandnahme zwischen Eltern und Kindern den familiären Knoten soweit lockern, daß sie durchatmen und sich eigene Lösungen einfallen lassen; das Kind wohnt eine Weile im Kinderhaus und kehrt dann von allein zu den Eltern zurück. Gelegentlich wird ein professioneller Vermittler nötig. Familientherapie und Systemberatung setzen aber nicht immer eine Trennung voraus. Wer was ‘braucht’, kann keiner im voraus wissen – man wird es ausprobieren müssen. 

das Imperium schlägt zurück 

Daß Einrichtungen dieser Art zweckmäßig und, da sie kostspielige herkömmliche   (”therapeutische”) Kinderheime und Notdienste überflüssig machen, auch fiskalisch sinnvoll sind, wer wollte es leugnen. Nein, fachlich gibt es keinen Einwand gegen das Kinderhaus-Modell. Dennoch, “es geht nicht”. Weil nämlich diese Einrichtung nicht dem Schubladensystemder Berliner Senatsjugendverwaltung entspricht. Welcher Abteilung sollen sie es zuordnen? Aus welchem Topf es finanzieren? Schließlich werden hier Leistungen erbracht, die unter – sage und schreibe – ein ganzes Dutzend Paragraphen des KJHG fallen! Weil hier zuviel geleistet wird, können sie “nicht damit umgehen”. Denn wer meinte, wo viele Verwaltungsressorts für dasselbe innovative Projekt zuständig sind, da wetteifern sie alle darum, die Federführung zu übernehmen, der – weiß nicht, wo wir leben. Der Vorgang wird  von  einem  Schreibtisch auf den andern verschoben, monatelang; und monatelang hing das Kinderhaus Friedrichshain finanziell in der Schwebe, nicht aus Geldmangel, sondern aus Entscheidungsschwäche.

Würde es nicht von einem privaten Unternehmer geführt, der zu pokern wagt – es hätte unter solchen Umständen nie entstehen können.[3] 

lean production 

Der Behörde ist es unheimlich, denn es ist der Prototyp einer neuen Generation von sozialen Gemeinschaftseinrichtungen. Das gilt auf der Objektebene – was dort wie gemacht wird – ebenso wie auf der Beziehungsebene – die institutionellen Bedingungen, unter denen es gemacht wird. Es unterscheidet sich von Omas fürsorglichen Diensten und Abteilungen ebenso wie… lean production von Taylors System. Da ist zuerst das Prinzip variabler Arbeitsteilung in einer eigenverant- wortlichen Gruppe. Zudem der Grundsatz der ‘Inselfertigung’ – nämlich daß die Arbeitsgruppe von der Bedarfsanalyse über die Produktentwicklung und die Fertigung bis hin zur Vermarktung für den ganzen Arbeitsprozeß selbst zuständig ist. Die unmittelbare Nähe zum Ort der Nachfrage – just in place – erlaubt ein adäquates Angebot im rechten Moment – just in time.

‘Kurze Wege’ für die Ratsu­chenden – das bedeutet die Auflösung jener Kathedralen der Sozialarbeit, die der Stolz mancher westdeutschen Kommune sind, wo alle ‘Dienste’ aufeinander hocken und wo für alles vorgesorgt ist; und ihre Verteilung auf polyvalente Stützpunkte in den Wohnvierteln. Menschliche Größenordnungen bedeuten ‘niedrige Schwellen’: downsizing im Jargon der Betriebswissenschaft. Downcosting ist eine – erwünschte – direkte Folge: sofern nämlich jetzt die Informationen unmittelbar an den gelangen, der sie gebrauchen kann, statt sich in einem Wasserkopf zu stauen, wo alle Signale zu einem diffusen Rauschen interferieren, so daß tote Kosten wie Fehlvermittlungen, Wartezeiten und Kontaktbrüche an der Tagesordnung sind. Die Informationskanäle, die zur Vernetzung der Stützpunkte untereinander erforderlich sind, werden aus deren internem Kommunikationsfluß ausgegliedert – outsourcing – und einem auf logistische und administrative Belange beschränkten Dienstleistungszentrum zugeordnet. Buchhaltung und Terminplanung z. B. werden im Kinderhaus-Verbund elektronisch verbunden sein.

Was in Landesbehörden für helfende Beratung als “nicht machbar” und als Kopfgeburt realitätsferner Ideologen gilt, ist in der Industrie längst Geschäftsalltag. Richtig ist allerdings, daß Geld dort wirklich eine Rolle spielt – weil es das eigene ist. Da sind Unternehmer tätig, und die sind unabhängig. Dem aber mißtraut die Behörde erst recht. 

Umordnung der Sozialarbeit 

Demgegenüber erweist sich unser System der Sozialen Arbeit in neun Zehnteln seiner Bestandteile als eine Technologie des industriellen Steinzeitalters. Unterdessen ist sie aber zu einem Industriezweig geworden, der hunderttausenden ein Aus-, d. h. Einkommen gibt; aus öffentlichen Mitteln. Da geht es nicht länger an, daß sie gedanklich bei ihren Nachbarfächern zur Untermiete wohnt. Die Zeit für eine kohärente Selbstreflexion ist überreif. Statt auf Pump weiter zu wursteln, schuldet sie der Öffentlichkeit eine umfassende Ortsbestimmung im gesellschaftlichen Gefüge.

In der Moderne verlieren die überlieferten, gemeinschaftsförmigen Sozialisations-Strukturen ihre Bedeutung an kommerzielle und öffentliche Vermittlungs-Agenturen. Sozialarbeit wird zu einem Mitbewerber in der großen Dienstleistungsbranche der Berater. Als Anbieter auf dem Markt wird sie zu einem Organ der zivilen Gesellschaft.

Der Widerspruch zwischen ihrem privaten, beratenden Auftrag und ihrer institutionellen Verfaßtheit im Öffentlichen Dienst tritt erst jetzt ganz zutage. Wie der hoheitliche Charakter der behördlichen Sozialarbeit ihre helfende Absicht immer wieder dementiert – und umgekehrt -, und so weder der eine noch die andre wirklich zum Tragen kommt, ist längst dargestellt worden.[4] Fataler in ihren praktischen Konsequenzen ist die institutionelle Bindung der Sozialarbeit in hierarchische Verwaltungsapparate womöglich, indem sie ein nie versiegender Quell für Kästchendenken, Definitionsdünkel und spezialistische Machbarkeitsträume ist. Helfende Beratung ist, wenn sie zustande kommt, personale Begegnung; als solche ist sie unwiederholbar und läßt sich schlech-terdings nicht zu ‘Vorgängen’ objektivieren. Objektivieren aber muß die staatliche Hoheit, so wahr sie die Allgemeinheit vertritt. Die Sozialarbeit vertritt immer die Einzelnen. Sie ist nicht politisch, sondern zivil.

An ihre durchgängige Umordnung zur allgemeinen Dienstleistung, zu einer öffentlichen Ressource bei der privaten Lebensbewältigung, ist nicht zu denken, solange sie nicht aus ihrer organischen Verstrickung in die öffentliche Verwaltung befreit ist. Den Weg dahin haben wir gezeigt:[5] die Überführung der gesamten ‘klinischen’ Sozialarbeit aus den Verwaltungen heraus in privatrechtliche Trägerschaft – Vereine oder Gesellschaften -, die von den Gebietskörperschaften selber zu gründen wären; und deren öffentliche Verfassung in obligatorischen Berufskammern   -   damit die Behörde nicht Sozialarbeiter, und die Sozialarbeit nicht Behörde spielen muß. 

[für die Veröffentlichung in Sozial Extra redigiert von Wolfgang Hinte]

 
[1]Ein letztes Aufbegehren des Kümmer-Prinzips in der Sozialarbeit war der missionarisch-agitatorische Gestus der 68er: Sogenannte Randgruppen sollten emanzipiert werden. Aber in der individualisierten Risikogesellschaft läßt sich jede willkürlich herausgegriffene Menschenmenge ‘irgendwie’ als Randgruppe definieren. Der emanzipatorische Anspruch entpuppt sich so als Vehikel der Landnahme.

[2]Über die Art seiner wissenschaftlichen Ausbildung ließe sich vieles sagen. Positives Wissen, das er nur zu lernen bräuchte, gibt es für ihn kaum. Eher geht es darum, sein Mißtrauen und seine Urteilskraft zu wappnen gegen die Selbstverständlichkeiten, die ihm sein Berufsleben leichtmachen wollen.

[3] …und hat - damit die Fachwelt wieder in Ordnung kommt – ja auch nicht lange bestanden. [Nachtrag 2006]


[5]siehe ebd. – Die Kammer schafft öffentliche Kontrolle, zugleich qualifiziert sie sie fachlich: Das ist neu und kann nicht schaden. Die Vergabe von Steuergeldern ist aber ein hoheitlicher Akt, und Sache der Behörde. Die Kammer kann ihr, wennschon keine objektiven, doch immerhin fachliche Vergabekriterien an die Hand reichen. Denn heute gilt dort doch immernoch: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, und: Wer hat, dem wird gegeben…

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