Mut zur Lücke
Gedanken zu einem Schülerclub in „Berlin, Ecke Bundesplatz“
von Jochen Ebmeier
Kindsein heißt Gut und Böse unterscheiden
können, ohne
nachdenken zu müssen.
Erich Kästner
Fachliche
Gespräche zum Thema „Lückekinder“ werden gelegentlich so geführt, als
handle es sich darum, dass frühere Verwaltungen versäumt hätten, eine
bestimmte Altersgruppe beizeiten mit einem geeigneten Angebot zu
versorgen; diesem Versäumnis habe die gegenwärtige Verwaltung durch die
Ausweitung der Nachmittags- betreuung in den Grundschulen nunmehr Abhilfe
geschaffen.
Indessen
musste die Senatsverwaltung unlängst feststellen, dass die
Nachmittagsangebote der Grundschulen deutlich weniger angenommen werden,
als auf Grund voran- gegangener Erhebungen erwartet wurde.[1] Allenthalben
ist zu hören, die zusätzliche Betreuung fände insbesondere ab Klasse 5
wenig Zuspruch. Es scheint an der Zeit, das Thema „Lücke“ neu zu
diskutieren. Die im Gang befindliche Umorientierung der Sozialarbeit weg
von den Maßnahmen im individuellen Fall hin zu einem systemischen Blick
auf die Sozialräume bietet dafür hinreichend Anlass.
Defizite und Ressource
Die
sozialräumliche Neuorientierung der sozialen Arbeit entspringt einem
tief greifenden Umbruch in ihrer Aufgabenstellung. Im Zeichen von
Differenzierung-Individualisierung-Pluralisierung kann die Sozialarbeit
nicht mehr als normativer Ordnungsfaktor gelten. Sie muss sich als
reguläres Dienstleistungsangebot neu definieren. Ihr spezifischer
Charakter ist helfende Beratung. Keine Lebensweise ist heute an und für
sich richtiger als eine andere. Die Unterscheidung von Notfall und
Normalfall gewinnt zusehends wertenden Charakter und lässt sich kaum
noch objektivieren. Die Sozialarbeit muss sich von doktrinalen
Fragestellungen frei machen und zu einer streng pragmatischen Sichtweise
entschließen. Sie bewerkstelligt keine Lösungen, sondern sucht nach
Bedingungen, die günstiger sind als andere. Ihr Kriterium ist nicht mehr
‚normal oder unnormal’, sondern nur noch ‚mehr oder weniger’.
Ihre
Aufgaben werden dadurch unspezifischer. Der einzelne Sozialarbeiter
muss nun, als Fachmann für Alles, ‚mehr können’ als die Spezialisten von
gestern, denn er wird sich von Fall zu Fall umstellen müssen. Ebenso
unspezifisch müssen die Institutionen der sozialen Arbeit werden. Sind
die Maßstäbe für normal und unnormal einmal verloren, werden auch die
Differentialdiagnosen über ‚Störungsart’ und ‚Abweichungsgrad’
hinfällig. Die Einrichtungen können sich nicht mehr selber
typologisieren und klassifizieren, indem sie ihre Klientel nach
‚Merkmalen’ sortieren; sondern die Nutzer selbst definieren den
Charakter des Angebots durch die Art und Weise, wie sie davon Gebrauch
machen. Das heißt: Welches die ‚geeignete Behandlung’ ist, muss sich im
Prozess helfender Beratung selbst erweisen können. Das reduziert die
Fehlgriffe und ist vom menschlichen wie vom fiskalischen Standpunkt aus
sparsamer.
Namentlich
die Unterscheidung zwischen ‚weicher’ Jugendhilfe (Prävention,
‚Förderung’) und ‚harter’ Jugendhilfe (Intervention, ‚Hilfe zur
Erziehung’) muss überwunden werden durchallgemeine,
d.h. umfassende Angebote, die grundsätzlich allen möglichen Nutzern und
Bedarfslagen offen stehen. ‚Hohe Schwellen’, die das Eingeständnis
eigner Schadhaftigkeit zur Bedingung für die Gewährung von Hilfe machen,
schrecken ab und müssen zur (je zu begründenden) Ausnahme werden: Hilfe
ist umso wirksamer, je zeitiger sie in Anspruch genommen wird. Aus
haushälterischer Sicht müssen niedrige Schwellen und kurze Wege zur
Regel der neuen Sozialarbeit werden.
Wer
helfende Beratung in Anspruch nimmt, definiert sich nicht ipso facto
als defizitär. Das moderne Leben hat bis in die privatesten Winkel seine
Selbstverständlichkeit verloren und fordert immer wieder scharfe
Wendungen. Krisen sind nicht Symptome von Devianz, sondern Bestandteil
des Normalen. Nicht der Ratsuchende ist problematisch, sondern der, der
keine Hilfe mehr zu finden hofft. Ihm muss die soziale Arbeit sich
anbieten, indem sie im sozialen Feld Zeichen setzt.[2]
Mit andern Worten, Sozialarbeit ist nunmehr in erster Linie präventiv.
Denn sie zielt nicht mehr zuerst nach den Defiziten im einzelnen
‚Fall’, um sie durch ihre Leistungen zu kompensieren, sondern sie sucht
im sozialen Raum nach den dort – noch?! – vorhandenen Ressourcen, um sie
zu aktivieren und zu stabilisieren. Denn nicht die Kraft
und Bereitschaft der Menschen, sich selbst und einander zu helfen, sind
durch Individualisierung-Differenzierung-Pluralisierung verloren
gegangen; sondern die Auflösung der traditionellen Bindungen familialer,
kommunitärer und konfessioneller Art haben die Individuen vereinzelt,
so dass sie in der Neuen Unübersichtlichkeit des Alltagslebens die
verstreut da- und brachliegenden Hilfsquellen nicht mehr wahrnehmen. Die
Sozialarbeit ersetzt nicht die traditionellen Bindungen durch ihre
Maßnahmen, sondern sie erschließt Kräfte, die im Modernisierungsprozess
nicht versiegt, sondern lediglich verwaist sind. Sie ist präventiv,
indem sie das soziale Feld stabilisiert und auf seine Stärken baut – und
nicht erst ‚interveniert’, wenn Einzelne auffällig wurden, und ihre
Schwächen bedient. Ihre Leitideen heißen nicht länger Defizit und Leistung, sondern Ressource und Vermittlung.
„Vom
Fall zum Feld: Der moderne Sozialarbeiter ist zuerst Vermittler von
‚Beziehungen’, also Unterstützungs- und Dialogmanager. Soziale Arbeit
zielt zuerst auf die Ressourcen im Feld (Netzwerke), danach vermittelt
sie im gegebenen Fall die Individuen mit den dort vorhandenen Helfern,
und erst in dritter Instanz bemüht sie professionelle Hilfe (Experten)
für den Einzelfall.“ (W. Hinte)[3]
Informell und unspezifisch
Kompensatorische Intervention im je spezifischen
Fall kalkuliert linear und punktuell und mit Ursachen und Wirkungen.
Die moderne Sozialarbeit blickt systemisch und tastet sich durch
Bedingungen und Wahrscheinlichkeiten. Der Kunst steht sie näher als dem
Verwaltungsvorgang. Weil sie ihrem Wesen nach informell ist,
lässt sie sich nicht formalisieren. So wenig man ihre Praxis in Formeln
voraus berechnen kann, so wenig lassen sich ihre Resultate messen und
quantifizieren. Aber weil sie aus öffentlichen Mitteln bezahlt wird,
muss sie ihre Leistungen kontrollieren, d.h. bewerten lassen. Doch das
kann nur qualitativ geschehen. Und weil sie nicht punktuell vorgeht, sind immer ganze Situationen zu beurteilen – im Quer- und Längsschnitt, und das braucht seine Zeit.
Vom
Sozialarbeiter verlangt das… nein, nicht ein neues, aber ein
geschärftes Profil. Mehr denn je ist Intuition eher am Platze als
Kalkül, das Erfassen ganzer Gestalten eher als das geschickte
Kombinieren einzelner Elemente. Je unspezifischer die Praxis des
Sozialarbeiters wird, umso belastender wird für ihn das Fehlen
objektivierbarer Maßstäbe. Und umso nötiger werden strenge
Verfahrensregeln; nicht sowohl positive – etwa, um seiner Arbeit den
Erfolg zu garantieren -, als vielmehr negative: als Mittel der
Selbstkontrolle (wobei auch hier gelegentlich eine Ausnahme die Regeln
bestätigen muss). Kurz gesagt, die neue Form der Sozialarbeit stellt
höhere Forderungen an die Professionellen, nicht geringere. Aber sie
sind unbestimmter, haben mit Kunst mehr zu tun als mit Technik, und es
ist nicht einmal sicher, ob es professionelle Eigenschaften sind, um die
es geht, oder um persönliche.[4]
„Lücke“
Wenn dies alles für die Sozialarbeit im Allgemeinen gilt, gibt es keinen Grund, weshalb es nicht mehr gelten sollte, sobald
sie es mit Kindern zu tun bekommt. Dennoch wird stillschweigend
vorausgesetzt, dass der Ausgangspunkt der Sozialpädagogik nicht die
‚Situation’ der Kinder ist, sondern weiterhin die ‚Maßnahme’ des
Professionellen – was dadurch verdeckt ist, dass die Maßnahme heute wie
bei Aldi als „Angebot“ ausgepreist wird.
Es
war nicht ein Versäumnis früherer Verwaltungen, die die Altersgruppe
von zehn bis vierzehn Jahre als etwas Besonderes, nämlich als „Lücke“
ausgezeichnet hat. Sondern das ist ein ganz besonderes Alter, und dem
haben frühere Verwaltungen in lebensweiser Selbst-beschränkung Tribut
gezollt: Es ist ein Alter, in dem man nicht betreut und schon gar nicht
„maßgenommen“ sein will. Denn es ist die größte Krise
im Leben eines jeden, es ist der Abschied von der Kindheit. Auch in
physiologischer Hinsicht, als Pubertät, aber nicht nur, nicht einmal vor
allem. Es ist eine Krise des ganzen Menschen. Bis dahin verstand sich
die Welt von selbst. Alles, was war, war so und nicht anders. Und
plötzlich steht alles in Frage. Ist alles so, oder sieht es nur so aus?
„Der entscheidende Grundzug des Pubertätsalters besteht darin, dass es fast
jeden Menschen zum Dichter macht“, indem er „die ganze Welt der
Erscheinungen“ nicht für bare Münze, sondern bloß „symbolisch nimmt“ (E. Friedell).[5]
Die Selbstverständlichkeiten sind dahin und alles gerät in Zweifel,
nicht nur alles Andere, sondern auch das Selbst. Es ist der kritische
Zustand par excellence, eine „zweite Geburt“ (E. Erikson). Nach außen gibt es sich durch Frechheit, Spottsucht und Mutwillen zu erkennen, und wurde vormals als Flegeljahre[6]
geschmäht und als Lausbubenalter oder Robinsonzeit verklärt. In unseren
auf korrekten und sparsamen Umgang bedachten Zeiten sieht man sie als
Vorstufe zur Jugendkriminalität an und will ihnen mit Verhütungsmitteln
begegnen. Dabei sind es wie eh die produktivsten Jahre, von deren Ertrag
man ein Leben lang zehrt.
Sozialisation
Welches ihr Ertrag ist, hängt davon ab, wie die Krise überstanden wurde.
Die wichtigste, weil nächstliegende ‚äußere’’ Ressource eines Jeden bei
Bewältigung der Lebensaufgaben sind seine alltäglichen Zusammenhänge
mit Anderen. Die sind eng oder weit, viele oder wenige, tief oder flach;
aber nicht gut oder schlecht. Unter gewissen Umständen wirken sie
freilich – auf andere – eher konstruktiv, unter anderen eher destruktiv.
Aufgabe
der Jugendhilfe ist es, die Bedingungen so zu arrangieren, dass die
lebensweltlich gegebenen Zusammenhänge zwischen jungen Menschen eher die
Chance haben, konstruktiv zu wirken, als destruktiv. Dass Kinderbanden
S-Bahnzüge demolieren, kommt vor. Wenn es aber in ihrer Lebenswelt
Besseres zu erleben gibt als das, ist es weniger wahrscheinlich…
In
diesem Alter verfügen wir im Wesentlichen über drei ‚äußere
Ressourcen’, drei Typen von Zusammenhängen mit Andern: Die eigne
Familie daheim, die Schule hinter ihren Mauern, und die
Kindergesellschaft – kid society
– draußen auf Straßen und Plätzen. In der Familie sind die
Zusammenhänge natürlich und heimlich, in der Schule sind sie künstlich
institutionalisiert und verregelt. Und statt eines unerschöpflichen
Kraftquells sind beide heut öfter Sturmzonen und Minenfelder. Die
Kindergesellschaft dagegen ist ebenso natürlicher wie öffentlicher
Zusammenhang.
Im bestimmten Gegensatz, doch insofern immer in
Wechselbeziehung zur privaten Häuslichkeit und der öffentlichen
Institution, ist sie auf dieser Lebensstufe vorrangige
Sozialisationsinstanz. Sie ist selber eine lebensweltliche,
nicht-professionelle Form der ‚Jugendhilfe’ und Einrichtung der
Generalprävention, die der Steuerzahler gratis kriegt.
„Die
Sozialisierung des Kindes wird im Wesentlichen in der Kindergruppe
vollzogen. Es gibt eine Kinderkultur, die unter Umgehung der Erwachsenen
von den älteren auf die jüngeren Kinder übertragen wird. In der
Kindergruppe wächst das Kind in die Gemeinschaft, und es erlebt durch
den Erwerb von sozialem und technischem Geschick eine Art von sozialem
Aufstieg, der sich mit dem Ansteigen seiner Rangposition verbindet. Die
Älteren dominieren in freundlicher Weise über die Jüngeren. In der
Kindergruppe können die Kinder ihren Spielpartner wählen. Sie können
sich mit Gleichgeschlechtlichen zusammenfinden, Anders- geschlechtliche
aufsuchen oder exklusive Freundeszirkel bilden. Schließlich kann das
Kind auch alleine spielen, wenn ihm danach zumute ist.“ (Eibl-Eibesfeld)[7]
Das traf auch auf unsern Kulturbereich zu und änderte sich „erst mit
der Ausbildung der anonymen Massengesellschaft und mit der im
technischen Zeitalter fortschreitenden Zerstörung der Siedlungen durch
den Verkehr. Kinder können sich nicht mehr so frei sozial und im Raume
entfalten wie einst.“
Nicht
zu vergessen der Einbruch des Pädagogenstandes! Die berufsmäßigen
Sozialisationstechniker sehen in den eigenen Gesellungsformen der Kinder
ihren natürlichen Feind und beteiligen sich, neben dem Straßenverkehr
und der fortschreitenten Verwertung von Räumen und Zeit, an ihrer
Brachlegung.
In Kindergärten und Horten wird der urwüchsige Zusammenhang
der Altersgruppen in Jahrgangsklassen aufgesplittert. „Mit dem
Wegfallen der älteren, vorpubertären Kinder verlieren die Kleinen ihre
anregendsten Spiel- und Sozialisationspartner außerhalb der
Kleinfamilie. Außerdem geht darüber auch die Kinderkultur zugrunde, denn
diese wird nicht von Erwachsenen tradiert.“[8] Um ihr Erbe wetteifern Schule und Kommerz, und eine entscheidende Bildungsinstanz geht verloren.
Präventiv
Wo
sie nicht schon zum Erliegen kam, ist die Kindergesellschaft bis heute
eine der wichtigsten Ressourcen für das Heranwachsen in den Städten. In Amerika hat die kid society
in der empirischen Sozialforschung wie in der Umgangssprache
Anerkennung gefunden. Hingegen deutet der in Deutschland gebräuchliche
Begriff ‚soziale Kinderwelt’ (L. Krappmann)[9] zwar auf die relative Autonomie und
Geschlossenheit dieser Sozialbildung hin; aber nicht auf das Medium,
das vorrangig seinen Zusammenhang stiftet.
Es handelt sich um eine Gesellschaft nicht nur in dem Sinn, dass sie ein ‚Netzwerk von Netzwerken’ darstellt, sondern mit der spezifischen Bedeutung, dass ihr eine Öffentlichkeit zu Grunde liegt.
Es ist eine rudimentäre, parzellierte Öffentlichkeit,
in der Sensationen und Legenden leichter kursieren als
Tatsachenmeldungen. Das liegt am großen Anteil, den die Phantasie an
ihrem Zustandekommen hat. Die vorrangige Rolle, die in der Ausbildung
der Kindergesellschaft der Einbildungskraft zukommt, markiert den
Unterschied zur erwachsenen ‚wirklichen Welt’ von Vorteil und
Wettbewerb, von deren Wertordnung sie noch kaum affiziert ist. Das macht
aber nicht ihre Schwäche, sondern ihre Stärke aus.[10]
Keiner wird bezweifeln, dass die Wertordnung der Kindergesellschaft,
wenn sie sich frei entfalten könnte, große Ähnlichkeit mit den
ritterlichen Tugenden von Parzival und der Tafelrunde hätte. „Treu sind
sie und verlässlich, wie zu keiner Zeit ihres späteren Lebens wieder.
Kein Feigling zu sein, ist ihr höchstes Ziel. Denn jeder will etwas
gelten, gerade weil die Erwachsenen sie nicht für voll nehmen.“ (H. H. Muchow)[11]
Doch die öffentlichen Zusammenhänge brauchen, um sich zu finden, Platz. Den haben sie nicht mehr. Lausbubenalter
und Flegeljahre sind in unsern Stadtlandschaften zusehends in
zwielichtige Ecken abgedrängt, zerfasert, beengt, verkrüppelt. Die eigne
Sozialität der Kinder kann ihre Energien nicht länger konstruktiv im
‚Abenteuer’ freisetzen. Sie findet keine Spiel-Räume
mehr und muss sich destruktiv Bahnen brechen: Was einst nur
Dummejungenstreiche waren, wird heut schon als „Gewaltbereitschaft“
beschrieen; und früher oder später erfüllen die Prophezeiungen dann sich
selbst.
Nämlich immer dort, wo es sich um die verstümmelten Rudimente der Kindergesellschaft in jenen Vierteln handelt, in denen sie
überdurchschnittlichen Belastungen ausgesetzt ist. Dazu gehören
inzwischen auch ethnische und sprachliche Grenzen, doch auch in den
sozial noch stabilen Stadtvierteln geht der
Kindergesellschaft, angesichts zusehends von Erwachsenen verwerteter
Räume und Zeit, ihr Regulationsmedium verloren: Öffentlichkeit; denn die
braucht Plätze, wo man sich trifft. In der erwachsnen, ‚richtigen’
Gesellschaft – das zwanzigste Jahrhundert hat es hinreichend bewiesen – ist der zuverlässigste Regulator, um
dissoziale Kräfte zu neutralisieren, Öffentlichkeit. Es gibt keinen
Grund zu der Annahme, dass dies für die Kindergesellschaft weniger gälte. Bevor die Sozialpädagogik sich en détail den ‚Einzelfällen’ zuwendet, hat sie eine kulturpolitische Aufgabe en gros: der Kindergesellschaft Raum lassen. Sie ist präventiv in einem eminenten Sinn.
Bildung
Die
Pädagogisierung des Kindes war eine Seitenansicht der Bürokratisierung
der Welt, die Max Weber für die unvermeidliche Folge der
Rationalisierung moderner Gesellschaften hielt, und vor drei, vier
Jahren galt allenthalben die ‚Entpädagogisierung der Kindheit’ als eine
vordringliche Kulturaufgabe. Seit PISA heißt es: Kehrt, Marsch! Eine
Frenesie der Verschulung geht durchs Land, wobei gerade PISA dafür
keinerlei Anhaltspunkt gab, sondern eher fürs Gegenteil.[12]
Bildung
besteht nicht aus Informationen, die auf Dateien fix und fertig
gespeichert und in Ordnern wohlsortiert für den Abruf bereitliegen. Bildung
ist ein lebendiges Vermögen. Sein Ursprung ist die Einbildungskraft.
Seine gestalterische Energie ist die Fähigkeit zum wertenden Urteil.
Einbildungskraft kann man niemandem „beibringen“. Allenfalls kann man
sie „hervorrufen“ und herauslocken, wo sie brachgelegen hat.
Urteilskraft dagegen kann man üben, indem man sie ausübt
– am mannigfaltigen Material, das unsere Kultur bereithält. Der Stoff
der Bildung ist kein Pensum, das abzuarbeiten ist, sondern ein Reichtum,
der danach schreit, genommen zu werden; nicht mit Fleiß, sondern in
Muße.
Das ist der „Bildungswert der Freizeit“, von dem Roman Herzog spricht,[13]
ganz im Sinne seines Nachfolgers: „Bildung ist die Verwandlung der Welt
in das Ich.“ Soll sie etwas taugen, muss sie „den ganzen Menschen
erfassen“. Dafür jedoch „fehlt die Muße, die man braucht, um Grenzen zu
überschreiten“.[14] Bildung beginnt, bevor es etwas zu „lernen“ gibt, mit dem Erleben.
Keine noch so verständige Betreuung kann den Erlebniswert der Freizeit
ersetzen. Die ‚Verwandlung der Welt in das Ich’ fängt an bei der freien
Aneignung von Raum und Zeit; im ungebundenen Spiel.
Die
Vermengung von Schule und Freizeit ist weder dem Unterricht förderlich,
noch dem Spiel. Sicher kann arbeiten Spaß machen. Aber Arbeit hat einen
vorgegebenen Zweck, und wenn sie den verfehlt, ist sie unnütz vertan.
Das Spiel hat nur sich selbst zum Zweck, der immer erst gesucht werden
muss; es kann misslingen. Ob oder ob nicht, ist eine Frage sowohl der
Einbildungskraft als des wertenden Urteils, und darum bildet das Spielen. Seine höhere Form ist die Kunst, und die hat mit Wissenschaft mehr zu tun als (etwa) die Mathematik.[15]
Was ist beabsichtigt?
Weil die Sozialarbeit mehr Kunst ist als Technik, lassen sich ihre ‚Einrichtungen’ nicht
aus Begriffen konstruieren und in Einzelfunktionen zerlegen, sondern
nur in qualitativen Bildern veranschaulichen. In Begriffen lassen sich
lediglich die Aufgaben umreißen, die sie erfüllen sollen.
Wünschenswert wäre also: ein ‚Ort’ im sozialen Raum, der
der Kindergesellschaft einen Platz schafft, wo sie ihre verstreuten
sozialen Netzwerke zur Öffentlichkeit ‚vernetzen’ kann; eher eine
‚Instanz’ im Viertel, die durch ihr Zuhandensein ‚wirkt’, als ein ‚Dienst’, der spezifische ‚Leistungen’ erbringt.
'Ort’
ist dabei wörtlich zu nehmen: Wände und Türen, die man öffnen und
schließen kann. An diesem Ort soll insbesondere Öffentlichkeit entstehen
können; er muss also in einer anderen Weise
„offen“ sein als die herkömmlichen Häuser der Offenen Tür, wo die Sorge
um die professionelle Qualität im Innern der Offenheit nach außen stets
in die Quere kommt. Theoretisch darum, weil Sozialarbeit, solange sie
nicht als Vermittlungsagentur,
sondern als Leistungsdienst aufgefasst
wird, notwendig als Beziehungsarbeit erscheint, und unter dem
ständigen Postulat steht, sie müsse „die Betreuung intensivieren“ – wozu
man Stetigkeit bräuchte.
Und
praktisch ist es für die Professionellen sehr unbefriedigend, jeden Tag
mit andern Kindern wieder von neuem anzufangen. Daher die Vorliebe für
Regelmäßigkeit und Feste Gruppen, die durch ihre „sinnvolle
Freizeitbeschäftigung“ oder durch ihre „Bezugsperson“ definiert werden
(Neigungs-, Projekt- und sonstwelche Gruppen). Das läuft darauf hinaus, anstelle der eigenen Sozialbildungen der Kinder neue, bessere, pädagogisch korrekte Sozialbildungen setzen zu wollen. Und
folglich mussten die Professionellen bislang die Kindergesellschaft als
ihren natürlichen Feind auffassen und als Nährboden der Dissozialität
anschwärzen.
Wird,
umgekehrt, die Kindergesellschaft als der Leistungsempfänger
betrachtet, und wird Öffentlichkeit als deren auszeichnendes Merkmal
(an)erkannt, kehrt sich die Optik um. ‚Regelmäßig’ sind die
Kinderfreundschaften (und sind dabei lebensgeschichtlich noch viel mehr als eine bloße Sozialisationsetappe); zur Kindergesellschaft bilden sie
sich nur von Fall zu Fall, bei Gelegenheit – sei’s, weil sich die
Gelegenheit ergibt, sei’s weil es die Gelegenheit erfordert. Die Frage
ist nicht, wie ‚regelmäßig’ die Gelegenheiten sich ergeben, sondern wie wahrscheinlich es ist. In der sozialräumlichen Auffassung der Sozialarbeit wird nicht auf Wenn-dann-Kausalitäten gerechnet, sondern wird gefragt, was mehr oder weniger wahrscheinlich ist.
Die Offenheit des „Clubs“ bietet eine günstige Bedingung dafür, dass
gewisse Dinge sich ereignen können, die anderswo nur ungünstige
Bedingungen finden. Aber nichts spricht auch dagegen, dass die
Professionellen ihrerseits günstige Gelegenheiten herbeiführen, wenn
sich’s ergibt…
Dieser
Ort wäre in erster Linie Treffpunkt, sodann Schutzraum, und schließlich
– im übertragenen wie im wörtlichen Sinn – eine Wärmstube. Er ‚wirkt’
bereits durch die Gewissheit, dass es ihn gibt und man ihn nutzen könnte.
Aber dieses Wissen geht verloren, wenn er nicht immer wieder mal
tatsächlich genutzt wird. Allerdings handelt es sich dabei um ein
qualitatives Verhältnis – das sich nicht einfach an der Zahl der
täglichen Besucher messen lässt, aber daran noch eher als an der
jeweiligen Aufenthaltsdauer.
Erfüllen
die Räume die Erwartung, die an sie gestellt werden, dann erhalten die
dort tätigen Professionellen einen Einblick in und einen Überblick über
das tägliche Leben der Kindergesellschaft in ihrem Viertel. Insofern üben sie – und das ist der professionell heikelste Punkt – eine Art von ‚Aufsicht’ aus.
Dass die bloße Anwesenheit
von Erwachsenen die verschwiegene Exklusivität der Kindergesellschaft
preisgibt, bleibt den Kindern ja nicht verborgen. Die Frage ist nur, wie
sie es aufnehmen. Gewinnen sie den Eindruck, sie sollten ausgespäht werden,
ist das Projekt gescheitert. Dass die anwesenden Erwachsenen allerhand
zu Ohren und zu Augen bekommen, schadet nicht, solange sie „nix
weitersagen“. Das Vertrauen auf die Loyalität der Professionellen ist
das Geschäftskapital eines solchen Clubs.
Allerdings schließt das Vertrauen auf ihre Loyalität unter Umständen gerade die Erwartung ein, dass
sie das eine oder andere weitersagen - aber in der gehörigen Dosierung
und an die richtige Adresse. Und das bedeutet wiederum auch ein
Vertrauen in die Urteilskraft
der handelnden Personen, dem sie sich jeden Tag neu gewachsen zeigen
müssen (und zwar in jeder erdenklichen Hinsicht). Dazu gehört namentlich
die Kunst, sich die unvermeidlichen Anmutungen von dritter Seite vom
Leib zu halten, ohne dass böses Blut aufkommt. Und die Kinder sollen
sich darauf verlassen können, dass jemand da ist, der im äußersten Fall
die Notbremse zieht. Insofern wäre ‚Aufsicht’ zu verstehen als eine Art
Garant und Rückversicherung.
Einer
Anmutung von außen, die unweigerlich kommen wird, kann sich der „Club“
freilich nicht verschließen, weil sie nicht unbillig ist:
Die
„Lücke“ ist ja dadurch gekennzeichnet, dass nicht nur die Kinder
selbst, sondern ebenso ihre Eltern meinen, dass sie für eine umfassende
‚Betreuung’ schon „zu groß“ sind – zugleich aber noch nicht
groß genug, um sie vollends sich selber zu überlassen. Wenn’s die
Kinder auch nicht gerne zugeben: In Wahrheit wünschen sich auch sie,
dass sie im Ernstfall einen haben, an den sie sich halten können.
Insofern ist der Übergang zu einer spezifischen ‚Leistung’ hier
fließend. Allerdings geht das professionelle Kalkül dahin, die Kinder
würden kraft der Gewissheit, dass „im Notfall einer da ist“, umso
seltener in Notfälle geraten und umso öfter den Mut finden, sich selber
zu helfen. Insofern wäre der „Club“ auch ein Ort, wo Einzelne Rat und
Hilfe finden können. Es braucht Taktgefühl und Kunstsinn, Rat und Hilfe
nicht in „Betreuung“ ausufern zu lassen und so den offenen Charakter des Clubs aufs Spiel zu setzen.
Die erste, vorrangige Aufgabe – weil sie die Bedingung für alles Weitere schafft – bleibt es, die Räume verfügbar zu
halten. Das ist nicht zu unterschätzen und erfordert seinen ganzen
Mann; allerdings auch nur diesen einen; mehr wäre nicht genug. Es geht
sowohl um den Erhalt der sachlichen Ausstattung als um das tägliche Austarieren von Offenheit und
innerer Lebensfülle. Beides verlangt persönliche Autorität, und beide
Aufgaben müssen vom „Clubwart“ glaubhaft personifiziert werden. Daher
sollte diese Verantwortung nicht geteilt werden. Das ginge, wo Kinder lediglich „sinnvoll beschäftigt“ werden sollen; aber nicht, wo der ‚ganze Mann’ gefordert ist.
Das ist das Standbein. Zugleich sollte der „Club“ als Spielbein eine
„ausgreifende“ oder (wie es missverständlich genannt wird)
„aufsuchende“ sozialarbeiterliche Aktivität gegenüber der lokalen
Kindergesellschaft ins Auge fassen – was landläufig (nicht weniger
unscharf, aber immerhin verständlicher) als Streetwork bekannt ist.
Wobei
die Unterscheidung von Stand- und Spielbein keine Rangordnung
bezeichnet oder etwa den Anteil an der Arbeitszeit; sondern lediglich
deutlich macht, dass letzteres ersteres zu seiner sachlichen
Voraussetzung hat, aber nicht umgekehrt. Wie eine solche ‚ausgreifende’
Tätigkeit im Einzelnen aussehen könnte, muss erst – das sei gleich
eingangs freimütig bekannt – herausgefunden werden. Das Vorhandensein
eines festen Stützpunkts als „Basislager“ ist dafür aber eine
Voraussetzung.
Die
beiden Tätigkeiten hängen sachlich miteinander zusammen, sollten aber
nicht vermengt werden. Sie sollten personal betrennt sein. Zwar nicht
so, dass „Tätigkeitsmerkmale“ definiert und danach eine ‚Stelle’
zugeschnitten würde; sondern die erste Verantwortung für das eine wird
diesem, für das andre dem andern Sozialarbeiter anvertraut. Pedanterie um ‚Zuständigkeiten’ ist nicht am Platz, es
wird im Alltag allerhand Überschneidungen geben. Umso zweckmäßiger,
wenn jeder von beiden weiß, was zu allererst von ihm erwartet wird.
Der Club wäre „sozialraumorientiert“ freilich nicht einfach in dem Sinne, dass er im Sozialraum eine ausgewählte Klientel bedient; sondern er richtet sich darüber hinaus an den Sozialraum als Ganzen. Sein
Thema ist das Verhältnis zwischen den Generationen, und auch dies nicht
nur im Sinne eines ersprießlichen Zusammenlebens, sondern in Hinblick
auf das demographische Gleichgewicht.
Das
ist die ‚systemische’ Seite. Es gibt aber auch eine krude praktische.
Es ist die Regel, dass die „Elternbeteiligung“ abrupt nachlässt, sobald
die Kinder die Kita verlassen haben, aber spätestens nach der zweiten,
dritten Klasse. Insbesondere die Väter sieht man höchstens noch beim
Fußballtraining…
Hier wird von ihnen nicht „Beteiligung“ (etwa an Sitzungen) erwartet, sondern
ein nützlicher Handschlag mal hier, mal da in der Werkstatt und am
Computer. Wobei zehn, die monatlich eine Stunde mitmachen, in
systemischer Hinsicht besser sind als einer, der zehn Stunden investiert
(obwohl jener in sachlicher Hinsicht effektiver sein mag).
Wo?
Im
Altbezirk Wilmersdorf bzw. dem Ortsteil ‚City’ ist die Gegend zwischen
Bundesplatz und der alten Dorfaue für die Erprobung einer präventiven,
systemisch konzipierten und feldbezogenen Sozialarbeit in der
Altersgruppe der Zehn- bis Vierzehnjährigen am ehesten geeignet – und
sie kann sie am besten gebrauchen. Sie weist unter allen Verkehrszellen im
Bezirk bzw. Ortsteil den höchsten Anteil an Kindern in diesem Alter
auf, sowie auch der nachwachsenden Jahrgänge, und es gibt eine sichtbare
Kinderkultur, die von der Topographie begünstigt wird. Doch zum andern
weist das Gebiet die schwächste Sozialstruktur im Altbezirk auf und ist
von weiterem Niedergang bedroht.
Verkehrszelle 0442/Hildegardstraße
Quelle: Stadtatlas
Das
Quartier wird gebildet von den Blöcken in der Verkehrszelle
0442/Hildegardstraße westlich der Bundesallee sowie in der angrenzenden
Verkehrszelle 0441/Rudolstädter Str. bis zur Mecklenburgischen Straße.
Soweit ältere Kinder in Betracht sind, müssen in einem weiteren Sinn
auch der Ostteil der Verkehrszelle 0442 sowie der Südteil der
Verkehrszelle 0411/Rathaus dazu gerechnet werden. (Vz. 0441 und 0411
haben nur ein Drittel der Bevölkerung wie Vz. 0442, weil sie nur zum
Teil eine geschlossene Bebauung aufweisen – nämlich dort, wo sie in Vz.
0442 übergehen.
Anteil von Kindern an der Gesamtbevölkerung
Hildegardstr.
Rudolstädter Rathaus
Altbezirk Ortsteil
6 – 14 Jahre
|
6,4 %
|
7 %
|
7 %
|
6,5 %
|
6 %
|
Bis 5 Jahre
|
4,9 %
|
4,4 %
|
4,5 %
|
3,9 %
|
4,1 %
|
Quelle: Statistisches Landesamt, Stichtag 31. 12. 2005
Die Tabelle zeigt: Der
Anteil der älteren Kinder im „Lücke“-Alter wird in den kommenden Jahren
in der Verkehrszelle Hildegardstraße gegenüber dem restlichen
Wilmersdorf noch zunehmen; sofern nämlich deren Familien dort wohnen
bleiben und nicht dem Beispiel vieler anderen folgen und ins Umland
wegziehen.
Die Kinderkultur findet ihren natürlichen Dreh- und Angelpunkt in dem Teil des Volksparks,
der den ehemaligen Wilmersdorfer See bedeckt: zwischen Bundesallee und
Uhlandstraße, wo sich (an der Verlängerung der Livländischen) eine große
Spiellandschaft (mit Basketballplatz) sowie die zwei Fußballplätze des
1. FC Wilmersdorf befinden, dessen Trainingsarbeit täglich einige
hundert Kinder und Jugendliche ins Viertel zieht.
Im Park sieht man Kindergruppen in wechselnder Zusammensetzung bei unterschiedlichsten – formellen und formlosen
– Spielen, und auch in den benachbarten Straßen kann man Kinder
zwischen parkenden Autos Versteck spielen sehen. (Ethnische Spannungen
konnte ich nicht beobachten.) Die Konzentration einer kindlichen
Population schlägt sich in einer auffälligen Dichte von
Betreuungseinrichtungen nieder. Allein zwischen Mainzer und
Hildegardstraße zähle ich ein rundes Dutzend.
Insofern sind hier im Feld jene Ressourcen vorhanden, an die angeknüpft werden kann und die zu konsolidieren sind.
Nach dem Sozialstrukturatlas
von Berlin liegt die Vz. Hildegardstraße, wie der OT Wilmersdorf, in
der „vierten Schicht“ – von sieben, und somit im Durchschnitt; allerdings,
mit Rang 148, an dessen unterem Ende! Noch tiefer rangiert die
unmittelbar angrenzende Vz. Rathaus, die mit Rang 177 sogar schon der
„fünften Schicht“ angehört. (Auch die Vz. 0421/ Schaperstraße rangiert
mit Platz 150 noch hinter Vz. Hildegardstraße; das liegt zweifellos an
ihrer Überalterung, die allen als Warnung dienen muss.) In den
vergangenen fünf Jahren hat sich die Sozialstruktur in der Vz.
Hildegardstraße durchgängig verschlechtert; auch das zwar nur „im
Durchschnitt“, aber deshalb muss man sich ja nicht daran gewöhnen.
Es gibt also Grund, einer weitern Verschlechterung jetzt
entgegen zu treten. Eine entscheidende Etappe im sozialen Niedergang
eines Viertels ist der Moment, wo junge Familien wegziehen, weil sie die
Gegend für ihre größer werdenden Kinder nicht mehr zuträglich finden.
Einen solchen Moment gilt es zu vermeiden. (Verbreitet findet man im
Viertel bereits Leerstand nicht nur beim Gewerbe-, sondern auch beim
Wohnraum.)
Wie?
Die Weimarische Straße
ist eine ruhige Wohnlage mitten im beschriebenen Quartier, drei Minuten
Fußweg vom Volkspark entfernt. Haus Nr. 5 liegt gegenüber vom
Marie-Curie-Gymnasium und grenzt hinten an die Gebäude der
Birger-Forell-Grundschule. Es ist ein altes bürgerliches Wohnhaus mit
Vorgarten und einer gegliederten Fassade sowie zwei Hofgärten. Verfügbar
ist ein Laden mit ca. 85 qm und drei Zimmern mit Küche und WC. Der
Zugang ist von der Straße durch den Vorgarten.
Denkbar
ist eine Reparaturwerkstatt für Fahrräder und Skateboards usw., evtl.
auch für Holzarbeiten. Ein zweites, ruhig gelegenes Zimmer bietet sich
für Schularbeiten und als Computerraum an. Das Reparieren von Fahrrädern
sowie Schularbeiten, Suchen im Internet usw. sind typischerweise
Tätigkeiten, bei denen man ab und zu Hilfe braucht; und wo
einer, der’s kann, einem andern zeigen kann, wie’s geht – und dass er’s
kann. Sie bieten Gelegenheit zur Gesellung, aber brauchen Ruhe und
Abschirmung (und Platz). Schließlich bieten sie dem Neuen einen guten
Vorwand, Anschluss zu suchen, ohne sich sogleich binden zu müssen.
Der
hintere, etwas abgelegene Bereich (mit der Küche) ist für gesellige
Begegnungen aller Art geeignet und sollte auf keine spezifische Nutzung
festgelegt sein. Er könnte auch bei Gelegenheit für formellere Treffen,
wie z. B. an Geburtstagen, zur Zeugnisvergabe, Ferienanfang und –ende
usw. freigemacht werden. Ich nenne ihn vorläufig
„Clubraum“. Dort könnten Bücher (Jugendromane!), Ton- und Bildträger
ausliegen und Tauschbörsen stattfinden. Diesem Bereich, als dem
Herzstück des Unternehmens, gilt die besondere Aufmerksamkeit des
„Clubwarts“, weil hier die stärkste Spannung zwischen ‚Offenheit’ und
‚sinnvoller Nutzung’ zu erwarten ist. Es sollten beizeiten einige ältere
Kinder an seiner Verwaltung beteiligt werden.
Übrigens
- an
die vorhandenen Gruppenbildungen der Kinder anknüpfen bedeutet nicht,
dass die Professionellen nichts Eigenes vorschlagen dürften. Es spricht
nichts dagegen, dass ein Erwachsener Kinder für etwas interessiert, das
ihn selber begeistert – unter dieser Voraussetzung: dass es ihn
begeistert und er es nicht aus professionellem Kalkül gewählt hat.
(Dieser Unterschied entgeht Kindern selten.)
Die
Räume sollten nach Ende des üblichen Schultages bis etwa 19 Uhr offen
stehen. In den Abendstunden sollten sie von erwachsenen Nachbarn genutzt
werden können.
...
im März 2006
PS.
Aus diesem Vorhaben ist – Du ahnst es schon, lieber Leser – nichts
geworden. Die zuständigen Beamten im Jugendamt
Charlottenburg-Wilmersdorf fanden, sie brauchen sowas nicht, sie hätten
schon alles…
1 siehe Berliner Morgenpost von 2. 2. 2006
[2] s. J. Ebmeier, „Vom Ordnungsdienst zur Vermittlungsagentur“ in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 4/1994
[3] siehe Wolfgang Hinte, Gutachterliche Stellungnahme zum Kinderhaus in Berlin-Friedrichshain (unver-öffentlicht; 1992)
[4] s. J. Ebmeier, „Ein gewagtes Unternehmen“ in: Soziale Arbeit, 12/1993
[5] Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, München 1947, Bd. I, S. 85
[6] siehe Hans Heinrich Muchow, Flegeljahre, Ravensburg 1963
[7] Irenäus Eibl-Eibesfeld, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1995, S. 815f.
[8] ebd.
[9] Lothar Krappmann, „Sozialisation in der Gruppe der Gleichaltrigen“ in: Hurrelmann/Ulrich, Neues Hand-buch der Sozialforschung, Weinheim 41991; S. 355ff.
[10] s. J. Ebmeier, „Philister über dir!“ in: Neue Sammlung 1/1992
[11] Muchow, S.23
[12] s. J. Ebmeier, „Nach PISA – Parteienkampf und Paradigmenwechsel“ in PädForum 4/2002; sowie: Wiss. Beirat für Familienfragen, „Bildung fängt in der Familie an“, ebd.
[13] Roman Herzog, Wie der Ruck gelingt; München 2005
[14] Johannes Rau, Den ganzen Menschen bilden – Wider den Nützlichkeitswahn; Weinheim 2004; S. 78 ff.
[15] vgl. zu diesem Abschnitt J. Ebmeier, „Von der Künstlichkeit des Kindes und der Kindlichkeit der Kunst“ in: Pädagogische Rundschau 5/2000