aus welt.de, 9. 1. 2019
Immer mehr Kinder landen in der Obhut des Staates
Es ist der drastischste Eingriff des Staates in eine Familie: die
Inobhutnahme eines Kindes. Wie lange das geschieht, hängt auch davon ab,
in welchem Bundesland das Kind lebt. Die FDP fordert einen
einheitlichen Qualitätskodex für Jugendämter.
Von Sabine Menkens
Wenn
Eltern ihre Kinder misshandeln oder vernachlässigen, wenn es
Beziehungsprobleme gibt oder die Eltern wegen Krankheit oder einer
psychischen Störung mit der Erziehung überfordert sind, dann treten in
Deutschland die Jugendämter
auf den Plan. Immer häufiger greifen sie dabei zur Ultima Ratio – und
nehmen das Kind vorübergehend aus der Familie heraus. Kontinuierlich
sind die Inobhutnahmen in den vergangenen Jahren gestiegen.
Ein großer Teil davon entfällt zwar auf die Gruppe der alleinreisenden minderjährigen Flüchtlinge.
Doch selbst wenn man diese Gruppe herausrechnet, stieg die Zahl der
Inobhutnahmen zwischen den Jahren 2010 und 2017 von 33.521 auf 38.891
KindeWie lange diese Kinder in Heimen oder Pflegefamilien
leben und ob sie überhaupt zu ihren Eltern zurückkehren können, hängt
auch von dem Bundesland ab, in dem sie leben. Das ergab die Antwort der
Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion, die WELT
exklusiv vorliegt.
Im
Bundesdurchschnitt konnten 41 Prozent der Kinder und Jugendlichen nach
einer vorübergehenden Inobhutnahme wieder zu ihren
Erziehungsberechtigten zurückkehren. Diese Quote variiert jedoch
erheblich: Während in den Stadtstaaten Hamburg (27 Prozent) und Berlin
(30 Prozent) nicht einmal ein Drittel der Kinder innerhalb desselben
Jahres wieder in ihre Familie zurückkehren konnte, waren es in Bayern
und Mecklenburg-Vorpommern immerhin 46 Prozent.
Auch
hinsichtlich der Dauer der Fremdbetreuung würden „erhebliche regionale
Unterschiede“ beobachtet, heißt es in der Antwort der Bundesregierung.
Die Dauer von Inobhutnahmen ohne die Fälle aufgrund einer unbegleiteten
Einreise sei zwischen den Jahren 2010 und 2016 bundesweit von
durchschnittlich 24,8 Tagen auf durchschnittlich 35,7 Tage gestiegen.
Dabei werde der Durchschnittswert allerdings „stark durch Einzelfälle
mit besonders langer Dauer beeinflusst“.
Zudem hänge die Dauer der
Inobhutnahme mit dem Alter der betroffenen Minderjährigen zusammen: „Je
jünger, desto länger dauern im Durchschnitt die Inobhutnahmen.“ Zur
Erklärung der gestiegenen Dauer lägen allerdings „keine ausreichenden
Forschungserkenntnisse vor“.
Hauptgründe für die Herausnahme aus
der Familie waren der Statistik zufolge Überforderung der Eltern,
Vernachlässigung, Beziehungsprobleme und Kindesmisshandlungen,
zudem Suchtprobleme und Straffälligkeit der betroffenen Kinder. In
einem kleineren Teil der Fälle sind auch sexueller Missbrauch und die
Trennung oder Scheidung der Eltern Grund für die Inobhutnahme von
Kindern.
Ingesamt
gaben die Jugendämter im Jahr 2017 über 143.000 sogenannte
Gefährdungseinschätzungen ab. In 48.578 Fällen konnte allerdings weder
eine Kindeswohlgefährdung noch ein Hilfe- oder Unterstützungsbedarf
festgestellt werden.
Für
den allgemeinen Anstieg der Inobhutnahmen führt die Bundesregierung in
einer weiteren Anfrage der FDP-Fraktion aus dem November 2018 folgende
Gründe an: die „Bedeutungszunahme von Aufgaben im Kinderschutz“ und eine
„erhöhte Sensibilität für Gefährdungen, eine verbesserte Kommunikation
zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen sowie die Weiterentwicklung von
entsprechenden Verfahren in Jugendämtern“. Eine eindeutige Bewertung
der Gründe sei auf Grundlage des derzeitigen Forschungsstandes jedoch
nicht möglich.
„In der Kinder- und Jugendhilfe fehlt es an einer
übergeordneten Instanz, die Jugendämter berät und ihnen zur Seite
steht“, kritisierte der bayerische FDP-Vorsitzende und
Bundestagsabgeordnete Daniel Föst. „Jugendämter machen in der Regel
einen sehr guten Job, aber die Standards zwischen den einzelnen
Bundesländern sind sehr unterschiedlich.“ Zudem gebe es keine
flächendeckende wissenschaftliche Erhebung zu Inobhutnahmen in
Deutschland.
„Die
Inobhutnahme eines Kindes zu seinem Wohl ist der drastischste Eingriff
des Staates in eine Familie. Es wäre deshalb wichtig, dass sich alle
Jugendämter an einem einheitlichen Verhaltens- und Qualitätskodex
orientieren."
„Brauchen dringend mehr Transparenz“
Die
FDP fordere deshalb ein „zentrales, unabhängiges Kompetenzzentrum, das
Richtlinien definiert und als Kooperationspartner der Jugendämter zur
Verfügung steht“. Bund und Länder hätten derzeit kaum Einblick in die
Strukturen und Prozesse vor Ort. „Wir brauchen hier dringend mehr
Transparenz und einheitliche Berichtswege“, so Föst. „Die Politik darf
nicht immer erst dann handeln, wenn erneut ein tragischer Fall
öffentlich bekannt wird.“
Union und SPD hatten in ihrem
Koalitionsvertrag vereinbart, die Kinder- und Jugendhilfe auf Basis des
in der vergangenen Legislaturperiode beschlossenen Kinder- und
Jugendstärkungsgesetzes weiterzuentwickeln. Dazu hat das Familienministerium im November einen Dialogprozess mit Akteuren aus Wissenschaft und Praxis in Gang gesetzt.
„Der
Prozess sieht vor, auch Erfahrungen von Beteiligten und Betroffenen mit
der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Familiengerichtsbarkeit zu
sammeln und und systematisch auszuwerten“, heißt es in der Antwort der
Bundesregierung auf die erste Anfrage der Liberalen. Die Erkenntnisse
sollen dann in den Gesetzgebungsprozess einfließen.
Nota. - Fremdunterbringung vermeiden war noch in den 90er Jahren von allen Glaubenssätzen der Kinder- und Jugendhilfe der unumstößlichste. An "Alternativen zur Heimerziehung" wurde allerorten gedocktert, stets nach den Motti familienähnlich und small is beautiful. Das war ein fruchtbares Feld für Experimente aller Art und ein Königsweg zur Öffnung für private Iniatiativ.
Nötig gewesen wäre aber nicht ein tausenfältiges Anpassen im Detail, sondern eine Umordnung en gros. Doch das konnte den Jugendbehörden nicht passen und den Privaten, die an ihrem Tropf hingen, schon gar nicht.
Das Ergebnis: An Fremdunterbringung vermeiden ist heute schon wieder nicht mehr zu denken.
Dass dem wohlmeinenden Reformer aus der ehemals liberalen FDP nicht besseres einfällt als ein zentrales Zentrum für Kompetenz und Richtlinien, sagt alles über den Geist der Zeit (und den Untergang einer Partei).
JE