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Freitag, 5. Februar 2016

Wildwuchs in der Jugendhilfe: Zum Beispiel Wien.

aus Die Presse, Wien, 5. 2. 2016

Kindergruppen: Wie der „Wildwuchs“ entstand
Die Stadt Wien brauchte plötzlich deutlich mehr Betreuungsplätze. Man setzte auf Private und finanzierte sie üppig. Regeln gab es nur vage. Nun kämpft man mit Skandalen und mangelhaft ausgebildetem Personal.

Von Julia Neuhauser

Wien. Die Negativschlagzeilen reißen nicht ab: Zuerst sorgte ein Bericht für Aufsehen, der muslimischen Kinderbetreuungseinrichtungen vorwarf, Parallelgesellschaften aufzubauen. Dann geriet ein Wiener Kindergartennetzwerk, das Förderungen in Millionenhöhe erschlichen haben soll, ins Visier der Polizei. Und zu guter Letzt gab es Aufregung um einen Stadtrechnungshof-Bericht, der fehlende Kontrolle beklagte. Allesamt Einzelfälle? Oder Symptome eines kranken Systems?

1 Die Stadt war auf private Anbieter angewiesen. Der „Wildwuchs“ der Kindergruppen begann.

Die Zeit drängte. Das verpflichtende Kindergartenjahr war politisch paktiert und sollte im Herbst 2009 starten. Doch es fehlten die entsprechenden Plätze. Die Stadt war auf private Anbieter angewiesen. Es begann unter anderem der Ausbau der Kindergruppen – für die andere, lockerere Regeln als für Kindergärten galten (siehe Punkt 2). So gab es vor sechs Jahren in Wien 268 Kindergruppen. Heute sind es 620. 7400 Kinder, rund neun Prozent, besuchen also eine solche. 

Die Kindergruppen sind einst in den 1970er-Jahren entstanden. Als „hippiemäßige“ Bewegung, in denen Eltern, die ihre Kinder nicht dem staatlichen System überlassen wollten, kochten und putzten, werden sie beschrieben. Diese elternverwalteten Gruppen dürften mittlerweile in der Minderheit sein, die meisten sind selbstverwaltet. Rund 450 der Kindergruppen sollen islamisch sein, so steht es zumindest im umstrittenen Projektbericht des Religionspädagogen Ednan Aslan (Uni Wien). Die Stadt erhebt dazu keine Zahlen. Es werden Vereine gelistet, aber weder der religiöse Hintergrund noch die Staatsbürgerschaft wird erhoben. 

Im elementarpädagogischen Bereich werden die Entwicklungen der vergangenen Jahre jedenfalls kritisch gesehen: „Die Branche leidet schon lang unter einem Wildwuchs an Kindergruppen“, sagt Heidemarie Lex-Nalis von der Plattform Educare zur „Presse“.

2 Eingesetzte Betreuer haben „Miniausbildung“. Statt 90 Einheiten gibt es künftig 400.

Anders als in Kindergärten muss in Kindergruppen kein ausgebildeter Pädagoge anwesend sein. Es genügt, wenn Betreuer eingesetzt werden. Wobei sich ihre Aufgabe eigentlich nicht unterscheidet. Mit einer Ausnahme: In einer Kindergruppe dürfen maximal 14 Kinder und damit deutlich weniger als in Kindergartengruppen betreut werden. Die Ausbildung ist dennoch eine völlig andere. Es ist weder ein Eignungstest noch eine Abschlussprüfung vorgeschrieben. Betreuer müssen lediglich einen Kurs im Ausmaß von mindestens 90 Unterrichtseinheiten absolvieren. Nach 15 Einheiten Pädagogik, 15 Einheiten Entwicklungspsychologie und ein paar anderen Fächern (übrigens sind das allesamt nur Richtwerte) kann man als Betreuer arbeiten. Das Ganze ist also in wenigen Wochen zu schaffen. 

„Das ist eine Miniausbildung“, sagt Eva-Maria Rauchensteiner, die mit der „Bildungspraxis“ selbst ein Institut für Aus- und Weiterbildung leitet und die Ausbildung auf 300 Stunden ausgedehnt hat. Hier will die Stadt nun für Änderungen sorgen. Noch vor dem Sommer soll die Ausbildung auf 400 Stunden erhöht werden. Eine schriftliche Seminararbeit und eine kommissionelle mündliche Prüfung werden Pflicht. Dabei gibt es aber einen Haken: Die Neuregelung wird nicht rückwirkend gelten und gilt nur für Betreuer, die künftig mit der Ausbildung beginnen.

3 „Schwarze Schafe“ unter den privaten Ausbildnern.

Die Ausbildungsinstitute sind private Institute. Welche Ausbildner sie einsetzen, bleibt ihnen überlassen. Sie müssen sich lediglich an die vage gehaltenen Vorgaben der Stadt halten. Und so hört man, wenn man sich in der Branche umhört, Geschichten von „schwarzen Schafen“ und Kindergruppenbetreuern, die weder gelernt haben, einen Essensplan für die Kinder zu erstellen noch ein Kind zu wickeln. In der zuständigen MA 11, Amt für Jugend und Familie, weiß man über „stundenmäßig divergierende“ Ausbildungen Bescheid. Ausschlaggebend sei, dass die Verordnung (u. a. das Ausbildungsmaß von bislang 90 Einheiten, Anm.) eingehalten werde. Die Ausbildungen sind unterschiedlich lang und dementsprechend unterschiedlich teuer. Das dürfte auch beim Ansuchen für Förderung – etwa beim AMS – eine nicht ganz von der Hand zu weisende Rolle spielen. Sind die Fördertöpfe nahezu leer, dürfte billigeren Ausbildungen der Vorzug gegeben werden.

4 Mit üppigen Finanzierungen wurden Personen „mit falscher Motivation“ angelockt.

Apropos Kosten: Die Stadt Wien hat für den Ausbau der Kinderbetreuungsplätze viel Geld in die Hand genommen. Für die Neuerrichtung einer Kindergruppe gab es im besten Fall eine einmalige Anstoßfinanzierung von 32.000 Euro, eine Basisförderung von 250 Euro pro Kind und Monat sowie einen Grundbeitrag und Verwaltungszulagen. „Das hat viele Menschen mit falscher Motivation angelockt“, sagt Rauchensteiner. 

Diese konnte die Stadt in der Vergangenheit offenbar nicht ausfindig machen. Wohl auch deshalb, weil es an der finanziellen und der qualitativen Kontrolle mangelte. So muss die Qualität einer Institution nur ein Mal im Jahr kontrolliert werden. Das versuchen derzeit elf und künftig 13 Kontrolleure zu schaffen.


Nota. - Ach ja, ich weiß, in Deutschland ist vieles anders. Aber nicht alles, und vor allem nicht das Wichtigste: die Dynamik.

Der von so manchen Jugendämtern fröhlich aufgegriffene Vorschlag der Sozialraumbudgets, der den Gedanken der Neuordnung der Sozialarbeit nach Feld-Gesichtspunkten auf lange Zeit nachhaltig kompromittiert haben dürfte, ging ja, das muss man gerechterweise sagen, auf ein ehrenwertes fachliches Motiv zurück: Es war die Sorge um den Erhalt der professionellen Standards zu Zeiten knapper Kassen, und der Hintergrund war eben - der besagte Wildwuchs, der seit Jahrzehnten auch bei uns, sicher viel stärker noch als in Österreich, um sich gegriffen hat. 

Den Anfang machten die Antiautoritären Kinderläden ab Mitte der sechziger Jahre, da war Pioniergeist und Idealismus, und es brauchte einige Zeit und Agitation, bis überhaupt die ersten öffentlichen Groschen locker gemacht werden konnten. Es war immer noch viel Abenteuer dabei, und für Leute, die ne ruhige Kugel schieben wollten, war es nix. - Ich kürze ab: Für die wurde es was in den siebziger Jahren, als die Fördermittel sprudelten, weil Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit in den oberen Etagen der Verwaltung als frischer Wind wahrgenommen wurden und weil... man bemerkte, dass privates Engagement die öffentlichen Haushalte entlasten kann. Und so kam es, dass auch bei uns - will mir da einer ehrlichen Herzens widersprechen? - Leute "mit falscher Motivation" angelockt wurden. Sicher waren die Stellen, solange man sich bei den internen Intrigen auf der richtigen Seite hielt, fast so wie im öffentlichen Dienst und die Kugeln womöglich noch ruhiger, und vor allem: Da war keiner, der einem fachlich auf die Finger sah.

Das ist aber im privaten wie im öffentlichen Bereich das größte Problem. Professionell störend sind die Ämter in der Kinder- und Jugendhilfe nicht, weil sie kontrollieren, sondern weil sie professionell gar nicht kontrollieren können, sondern sich mit pauschaler präventiver Schikane begnügen müssen; und im Einzelfall dann "auch mal ein Auge zudrücken"! Das Problem ist für die Praktiker nicht, wenn es ihnen auch so vorkommen mag, dass es zuviel Kontrolle gäbe, sondern dass es zuwenig fachliche Kontrolle gibt.

Ins Auge springt das, seit die Fördermittel immer spärlicher tröpfeln. Wie im Artikel nur schamhaft angedeutet, setzte innerhalb des Wildwuchses eine Preiskonkurrenz ein, und die Ämter neigten unterm sanften Druck der Stadtkämmerer dazu, die billigsten Angebote vorzuziehen. Dagegen, wurde mir damals versichert, sollten die Sozialraumbudgets ein Bollwerk schaffen. Es sollte die Möglichkeit geschaffen werden, die - oben so genannten - Schwarzen Schafe auszusondern.

Dass das wünschenswert wäre  - wer, der die Branche kennt, würde das bestreiten? Dass dafür die Jugendämter die am besten geeignete Instanz wäre - wer, der die Branche kennt, kann auf diese Schnapsidee kommen!

* 

Der Wildwuchs hat das öffentliche Standing der Sozialpädagogik bis auf die Knochen ruiniert. Als in den sechziger Jahren die Pioniere daran gingen, dieses Berufsbild überhaupt erst zu schaffen, da war die allgemeine Reaktion von Müller und Meier: Hut ab, die traun sich was. Heute tut ein Sozialpädagoge gut daran, in der Nachbarschaft und im Bekanntenkreis seinen Beruf zu verschweigen, weil sonst alle denken: Tagedieb mit großem Maul.

Das ist wie mit dem schlechten Ruf des Öffentlichen Dienstes: Es ist gar nicht nötig und es ist ja wahrscheinlich gar nicht mal der Fall, dass "alle so sind". Es kommt drauf an, wer in der Behörde oder im Milieu den Ton angibt. Da geht es nicht nur darum, wer öfter und wer seltener, wer lauter oder leiser das Wort ergreift, sondern wie das Umfeld resonniert, und da mag das Ganze wirklich mehr oder ganz was anderes sein als die Summe seiner Teile.

Es hat also ein bisschen was für sich, wenn jeder einzelne - in der Behörde oder im Wildwuchs der Praktiker - sagt: An mir liegt's nicht! Was hab ich nicht alles versucht, aber man läuft ja überall gegen Wattewände. Man kann gar nix machen. - Eine der Leitenden Beamtinnen, die seinerzeit mein Kinderhaus in die Pleite getrieben haben, sagte mir damals: "Herr E., Sie wissen doch, wie das System funktioniert!" Ich habe geantwortet: In all den Jahren ist mir hier auf Ihren Fluren ein System nie begegnet. Ich habe immer nur einzelne Beamte getroffen, die dieses getan und jenes nicht getan haben. Es gibt gar kein System.

Wenn sie nämlich alle sagen: An mir liegt's nicht, dass es so ist, haben sie nur zum Teil Recht. Zum anderen, wichtigeren Teil muss man sagen: Aber an dir liegt's, wenn es nicht anders wird. Wer soll's denn anders machen, wenn nicht du? Wenn alle sagen, an mir liegt's nicht...

Das ist banal, sagen Sie? Wir sind hier in Deutschland, hier ist das nicht banal. Man konnte als Einzelner ja nichts machen, sollte ich allein den Kopf hinhalten? - So weit ins Detail gingen die meisten gar nicht; die sagten schlicht, ich habe nur Befehle ausgeführt.

Mit andern Worten, für Zynismus und Schlendrian gibt es tausend Ausreden und keine Rechtfertigung.
JE