Sisyphus
Die Medien werden immer voller davon: Das deutsche System der Jugendhilfe wird den Anforderungen nicht gerecht, sogar Heimplätze fehlten mittlerweile:
"Oft suchen Mitarbeiterinnen händeringend nach Notschlafplätzen, telefonieren tagelang ganze Listen ab, um irgendwo in Berlin eine Unterkunft für ein Kind zu finden, was nicht zu Hause bleiben kann, weil es zum Beispiel geschlagen wird. Lemm sieht hier zwei Ansätze: Das Land müsste wieder eigene Heime bauen, aber auch der Bezirk bleibe nicht untätig. Am Buckower Ring 54-56 (wo eine Initiative gern eine Waldkita sähe, siehe hier) und in der Teupitzer Straße 6-8 gebe es konkrete Gespräche mit freien Trägern, um Häuser für die präventive Familienarbeit zu errichten, die auch der Notunterbringung dienen sollen.
Warum der Mangel an Unterkünften die Arbeit derzeit erschwert, lässt sich leicht nachvollziehen. „In Anbetracht der fehlenden stationären Plätze für Kinder innerhalb des Bezirks muss das Jugendamt fortlaufend auf sehr preisintensive Plätze über die Berliner Grenzen hinaus zurückgreifen“, berichtet Lemm. „Dies erschwert die Elternarbeit und bedeutet nicht zuletzt für die Kinder auch den Verlust des sozialen Umfelds.“ Eine neue Kita, eine Schule – das sind neue Belastungen. Eine größere Entfernung zu den Eltern – das ist eine Hürde, wenn die Kinder wieder mit ihren Familien zusammengeführt werden sollen. Stationäre Unterbringungen dauern umso länger, die Aussicht auf Besserung ist umso geringer. Lemm hat noch einiges an Arbeit vor sich." aus Tagessspiegel, 21. 8. 18
Man reibt sich die Augen: Vor einem Vierteljahrhundert galt in den Jugendämtern das Credo Fremdunterbringung vermeiden! unwidersprochen. Jetzt jammern sie über fehlende Heimplätze.
Als hätte man sie nicht bezeiten gewarnt!
Herkules im Augiasstall
Für eine öffentlich-rechtliche Kammer der Sozialarbeit
in Sozial Extra 2/1991
Dass das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz im letzten Frühjahr [1990!]
so sang- und klanglos über die Bühne gehen konnte, war kein Ruhmesblatt
für die ehedem so rührige Zunft der Sozialpädagogen. Ja, allerlei
Flickwerk im Detail – aber eine tragende Idee, eine gesellschaftliche
Perspektive, die hätte mobilisieren können? Fehlanzeige.
Das Ergebnis ist danach. Richtig dagegen sein kann man nicht: Es sind ja wirklich ein paar Fortschritte da und dort. Aber so recht zufrieden ist auch keiner. Das macht: Es wimmelt von Kann- und Sollbestimmungen, in denen die Grundfragen, wie etwa das Verhältnis von Kindes- und Elternrechten, absichtsvoll untergehen.
Zum Glück geben uns die Kann- und Sollvorschriften eine – unverdiente – zweite Chance. Sie machen nämlich die Novellierung der landesrechtlichen Ausführungsgesetze zum bisherigen Jugendwohlfahrtsgesetz unabdingbar: Die Lücken müssen geschlossen werden. Vielleicht könnte ja gerade die Jugend- und Sozialpolitik gewinnen im Prozess der deutschen Vereinigung – und seiner Neubelebung des föderalen Prinzips?!
Die Voraussetzungen sind ja da. Ein Hauch von ‘68 hängt nämlich in der Luft.* Die Profession ist, endlich, der technizistischen Kleinkrämerei überdrüssig. Eine neue Idee müsste her. Aber wer traut sich?
Dabei liegen alle sachlichen Elemente längst auf dem Tisch des Hauses. Es gilt nur noch, sie zusammen zu fassen unter eine ordnende Perspektive. Aber dazu müsste man einen geeigneten Blickpunkt finden; Überblick finden über das Chaos der tausendfältig spezialisierten Dienste. Gibt es im Reich der Jugendhilfe ein Institut, an dem man exemplarisch die Grundfrage der öffentlichen Sozialarbeit zur Darstellung bringen kann?
Das gibt es: Es ist das Kinderheim – weil nämlich „das Heim“, oder vielmehr der Weg, wie man dort reinkommt, als Paradigma der gesamten Jugendhilfe gelten kann. Denn während ursprünglich „das Heim“ Kern- und Herzstück der Sozialpädagogik war, so ist es heute deren partie honteuse (dt. Schamteil); und beides ist gleichermaßen charakteristisch.
„Heimunterbringungsverfahren“
Dass „das Heim“ heute mehr den je als Notmaßnahme, als rettende „Intervention“ in einem ansonsten rettungslosen „Fall“ erscheint, hat, neben manchen andern, einen wesentlichen Grund im administrativen Verfahren, das zur „Einweisung“ führt. Denn in der Arbeit der Sozialarbeiterinnen bei der Familienfürsorge ist die Heimunterbringung tatsächlich eine äußerste Maßregel: weil sie durch sie nämlich „den Fall abgeben“.
Ist der „Vorgang“ erst einmal in Bewegung gesetzt, hat die Sozialarbeiterin keinen aktiven Einfluss mehr auf seinen Verlauf – ihre professionelle Verantwortung ist ausgesetzt; sie muss den Eindruck gewinnen, dass sie alles getan hat, was in ihren Kräften stand – und dass das eben nicht genug war! Wenn ein Kind „ins Heim muss“, dann hat allem Anschein nach nicht bloße der Klient – das Kind und seine Familie – „versagt“, sondern eben auch… die individuelle Sozialarbeiterin. Kein Wunder, dass sie „das Heim“ als Vorzimmer zur Hölle ansieht, wo es doch ein sicheres Mal ihres Scheitern ist! Das übrigens doppelt und dreifach, wenn die Heimeinweisung ein Befreiungsschlag ist, mit dem sie sich eine besonders ätzende Familie vom Halse schafft: denn jetzt kommt zum Gefühl des Versagens auch noch das Schuldgefühl hinzu.
Das ist die erste Schwelle. Die Anlage der Akte ist die zweite: Eine zusätzliche Barriere ist die „psychosoziale Diagnose“. Denn wenn „das Heim“ als eine „äußerste Notmaßregel“ angesehen wird, dann muss der „Fall“ eben auch als ein „besonders schwerer“ dargestellt werden: einer, der „das Äußerste“ rechtfertigt. Es entsteht eine „Akte“, in der – so oder so – das Kind (und seine Familie) belastet wird – und damit sein ganzer künftiger Lebensweg.
Die Sozialarbeiterin wird in der Regel das Entstehen so eines „Vorgangs“ zu vermeiden suchen. Sie wird also sogar vermeiden, die Möglichkeit eines Heimaufenthalts von Amts wegen überhaupt zur Sprache zu bringen. Der Standesdünkel der Schmalspurpsychiater beim Jugendgesundheitsdienst, die sich ihre ärztliche Machtvollkommenheit nur ungern von der Sozialarbeit einschränken lassen, tut ein Übriges.
Veröffentlichung der Lebensgeschichte – Enteignung des Privaten
Durch
das gegenwärtig geltende, bürokratisch formalisierte
„Heimunterbringungsverfahren“ wird etwas, das eigentlich nur ein
Ereignis in der höchst privaten Lebensgeschichte des Einzelnen ist –
dass er nämlich einstweilen dort wohnt und nicht hier -, aus der Sphäre
des Individuellen und Zufälligen herausgehoben und auf einem
staatlichen, einem öffentlichen Niveau fixiert: Es wird zu einem Faktum
von höherer Geltung.
Dabei werden die Einzelnen – nicht nur das Kind, sondern mittelbar seine ganze Familie – von einem Teil ihrer künftigen Lebensführung enteignet: Denn während es leicht ist, in die „Vorgänge“ der Behörde hinein zu rutschen, ist es schwer, wieder raus zu kommen. So sehr sich die Sozialarbeiterinnen sträuben mögen, eine Heimeinweisung in Gang zu setzen, so sehr widerstrebt es ihnen nämlich auch, sie gegebenenfalls wieder… rückgängig zu machen! Kein Wunder: kämen doch andernfalls Zweifel auf, ob der „Fall“ seinerzeit wirklich so schlimm gewesen war, wie er zwecks Einweisung hatte dargestellt werden müssen…
Und so wird das, was eigentlich ein durchaus umkehrbarer Schlenker auf dem Lebensweg hätte bleiben können, nun tatsächlich zu einer ganzen Lebens-Epoche aufgeplustert, die nicht ohne Erlaubnis der Behörde abgeschlossen werden kann.
Nirgends wird die Crux der „hochschwelligen Angebote“ so deutlich wie hier: Ist die Eingangsschwelle hoch, so ist es in der Regel auch – die Ausgangsschwelle. Es reißt eine Dramatisierung in die sozialarbeiterliche Intervention ein, die sachlich gar nicht erwünscht sein kann – und die nur den „Sachzwängen“ eines bürokratischen Systems geschuldet sind.
Die Behörde als helfender Berater, oder der Bock als Gärtner
Wir sind beim Kernproblem öffentlicher Sozialarbeit angelangt. Kann
einer, der mit den Prärogativen des öffentlichen Hoheitsträgers
ausgestattet ist, auf die Dauer ernsthaft damit rechnen, zu seinem
Klienten ein Verhältnis „helfender Beratung“ aufbauen zu können?
Vorab dies: Der Einwand, der an dieser Stelle unweigerlich fällt – dass nämlich fachliche Qualität dauerhaft eben nur durch öffentliche Kontrolle zu gewährleisten sei –, ist vollkommen richtig. Aber es ist eine – interessierte? – optische Täuschung, dass öffentliche Kontrolle eo ipso nur durch hoheitliches Verwaltungshandeln ausgeübt werden kann.
Und tatsächlich kontrolliert die Behörde die Arbeit der Sozialarbeiter nicht, indem sie deren Arbeitsergebnisse (ex post) bewertet – denn nach welchen Erfolgskriterien wohl auch? -; sondern sie legt die Latte höher durch eine Art präventiver Schikane „ex ante“, in der vagen Hoffnung, durch kleinkarierte Pedanterie en gros „Missbrauch“ en détail irgendwie abschrecken zu können. Folgerichtig wittert die Verwaltung bei allem „Niederschwelligen“ sogleich den Anfang von Chaos und Anarchie – von der Verschwendung von Steuergeldern gar nicht zu reden.
Und so liegt denn die „Schwelle“ vor den Heimen – rein und raus – so hoch, dass von einem… „Angebot“ ehrlicherweise gar nicht mehr die Rede sein kann: Wenn ein Kind „ins Heim muss“, wird es von allen Beteiligten – Kind, Familie, Familienfürsorge – als ein Schicksalsschlag erlebt; wie eine Falle, die zuschnappt: als Endstation.
Punktueller Eingriff oder systemische Wechselwirkung
Der Hintergrund ist die unterschwellig fortdauernde Vorstellung von der Sozialarbeit als einer Art fürsorglichen Gnadenakts eines vormundschaftlichen Staats im individuellen Notfall: der Begriff der Intervention ist nur eine verschämte Latinisierung der alten Horch-und-Guck-Mentalität. So als ob einer, der es besser weiß – und besser kann -, sich in väterlicher Sorge seinem dummen und widerborstigen Kind „zuwendet“ – um es möglichst zu „behandeln“. Arzt, Pfaffe, Polizist: das sind die idealtypischen Charaktermasken von Opas, d. h. Omas Sozialarbeit gewesen.
Tatsächlich ist unterdessen das System der Sozialen Arbeit zu einer allgemeinen Bedingung des Heranwachsens geworden: so wie Schule, Kindergarten, Bafög, Elternfreibeträge… In unserer Gesellschaft ist Jugend-Sozialarbeit eine reguläre öffentliche Dienstleistung.
Der Grund liegt auf der Hand: Die öffentliche Sozialarbeit hat im wachsenden Maße jene Funktionen der sozialen „Sicherung“ wahrzunehmen, die einst die Familien ausübten und die mittlerweile vorherrschenden Torso-Familien nicht mehr ausüben können. Dieser Funktionsverlust der (klein)bürgerlichen Kleinfamilie ist nicht etwa eine bloße Summe von soundso viel je individuellem „Versagen“, sondern ein säkularer zivilisatorischer Prozess, den man vielleicht beklagen, aber nicht ignorieren kann.
Abstrakt gesprochen, handelt es sich um zwei Seiten desselben historischen Ereignisses: der zunehmenden Vergesellschaftung aller Lebensprozesse. Erstens folgt der (technischen) Vergesellschaftung der materiellen Produktion durch die große Industrie jetzt die Vergesellschaftung der Produktion und Reproduktion des lebendigen Arbeitsvermögens selbst; und durch die Mobilisierung des bürgerlichen Reichtums im Aktienkapital wird die Familie zweitens auch im Bürgertum obsolet: nämlich als Erbengemeinschaft. Sie ist nun nicht mehr der unverzichtbare Rahmen, in dem der Reichtum akkumuliert wird. Als société anonyme trägt das Kapital keinen Namen mehr.
Und darum ist die sogenannte „Jugendhilfe“ auch kein Stück Wohlfahrtspflege, sondern ein Teil der Gesellschaftspolitik.
Aber Verwaltung und Sozialarbeit haben notwendig eine je verschiedene Optik; wohlbemerkt nicht eine richtige und eine falsche, sondern, von wegen der unterschiedlichen Aufträge eben eine… verschiedene.
Kinderhaus Little space, Friedrichshain
Hoheitliches (Verwaltungs-) Handeln ist notwendig linear. Die eine Seite, das hoheitliche Subjekt, handelt – und „wirkt“ auf die andre Seite, die zivile Gesellschaft, ein, als auf ein ihr gegenüber passives „Material“. Die Aktion ist einseitig.
Und im demokratischen Rechtsstaat muss das auch so sein, dort nämlich, wo (idealiter) „der Staat“ – als „das Allgemeine“ – die Vielen gegen die Einzelnen repräsentiert. Ließe der Hoheitsträger die Rückmeldungen, die sein Handeln aus der zivilen Gesellschaft jeweils erfährt, einfach auf sich „wirken“, dann müsste er immer und immer wieder sagen: „Ach, jetzt hab ich’s mir anders überlegt“, und dann wäre die Rechtssicherheit, und mit ihr die Einklagbarkeit allen hoheitlichen Handelns, zum Teufel.
Soziale Arbeit hingegen ist wesentlich Wechselwirkung, Interaktion vieler Kommunikanten: Sie ist vor allem Kommunikations-Zusammenhang. Sie findet nicht linear statt, sondern systemisch, als Wirken in einem Feld von vielen Wirkenden. Der Sozialarbeiter zielt mit seinem Handeln auf die Rückkoppelung mit seinen Klienten geradezu ab, um sein eigenes Handeln wiederum darauf einzustellen, und so fort; das ist sogar der ganze Zweck und Inhalt seiner Arbeit. Er zielt nicht, wie die „Maßnahmen“ des einzelnen Beamten, auf dieses oder jenes Resultat; sondern diesen Prozess selbst in Gang setzen, in Gang halten und auf seine „Richtung“ Einfluss nehmen – das ist seine Arbeit.
Und weil er in einem Feld arbeitet, wo außer ihm noch eine Menge andrer Kräfte wirken, kann er sich auch nicht einbilden, die „Richtung“ allein festzulegen: Seine Arbeit ist nie ‘ganz oder gar nicht’, sondern immer nur ‘mehr oder weniger’. Darum ist sein Erfolg naturgemäß auch nicht messbar: jedenfalls nicht am „einzelnen Fall“, und nie zum gegebenen Zeitpunkt. Sein Erfolg ist immer ein Mehr oder Weniger im Querschnitt und im Längsschnitt.
Und darum ist Sozialarbeit auch gar nicht zu bewerten nach der Leistung dieses oder jenes (einzelnen) Sozialarbeiters hier und jetzt, sondern an der Leistungskraft des Systems der Sozialarbeit im Großen und Ganzen.
Eine öffentliche Dienstleistung in einem System gesellschaftlicher Selbstregulierung
Sozialarbeit und Verwaltung folgen zwei grundsätzlich verschiedenen und grundsätzlich unvereinbaren Logiken. Werden sie vermengt, kann weder die eine noch die andere ihre Aufgaben wirksam wahrnehmen. Im Ergebnis: Die verwaltungsmäßige Sozialarbeit ist ziemlich ineffektiv, und zugleich vergeudet sie eine Menge Steuergelder…
Die Aufgabe liegt auf der Hand: Sozialarbeit und Verwaltung entmischen. Also z.B. die Familienfürsorge nicht bloß aus den Rathäusern, sondern aus dem öffentlichen Dienst überhaupt herausholen. Bleibt nur die Frage: wie dann die professionelle Qualität der Sozialarbeit garantieren?
Sobald
sie einmal der staatlichen Aufsicht entronnen sind – wird sich das
machtbewusste und besitzfrohe Völkchen der Sozialarbeiter nicht über die
gesamte Oberfläche der Gesellschaft ergießen, in alle ihre Poren
eindringen und das Land als eine allgemeine psychosoziale
Gesundheitspolizei einer zudringliche Standesherrschaft unterwerfen?
Sicher ist: Öffentliche Kontrolle ist unverzichtbar, und wirksamer als heute kann sie auch ruhig sein. Aber öffentlich heißt eben nicht gleich staatlich.
Der erste Teil der Aufgabe: die „klinische“ Sozialarbeit, also alles, was „helfende Beratung“ ist, von den – wenigen – wirklich hoheitlichen Funktionen der Familienfürsorge trennen und aus den Ämtern heraus verlagern in die Wohnviertel hinein, etwa in Form von Zweier- oder Vierergruppen von Streetworkern. Zu diesem Zweck könnten zum Beispiel die Gebietsvertretungskörperschaften privatrechtliche Vereine gründen, die die bisherigen „klinischen“ Aufgaben der Familienfürsorge fortführen, aber ansonsten ein Freier Träger unter anderen wären.
Aber sicher, das gibt Probleme mit dem Dienstrecht. Aber unlösbar sind sie nicht. Schließlich gibt es Beispiele im In- und Ausland. Und es geht selbstverständlich nur auf der Basis von Freiwilligkeit: na, umso besser.
Der zweite Teil der Aufgabe ist – zumindest im Prinzip – viel schwieriger. Die öffentliche Kontrolle soll fachlich qualifiziert sein und nicht bürokratisch formalisiert. Wer aber ist fachlich qualifiziert zur Kontrolle, wenn nicht… die Fachwelt selbst? Dazu muss sie freilich ihre feudale Fragmentierung überwinden – und sich selbst zur Öffentlichkeit bilden. Es kann sich also nur um eine berufsständische Selbstkontrolle handeln. Und die kann nur effektiv sein, wenn sie obligatorisch ist: Das verlangt Zwangsmitgliedschaft aller, die öffentliche Zuwendungen in Anspruch nehmen wollen, in einer repräsentativen Standesvertretung. Also eine öffentlich-rechtliche Kammer.
Ärzte, Anwälte, selbst Industrie und Handel haben solche Kammern. Allerdings – und das ist ein wesentlicher Unterschied – kassieren sie bei ihren Kunden, direkt oder (per Krankenschein) indirekt. Qualitätsmerkmal ist die Zufriedenheit der Nachfrager, sie reguliert früher oder später das Angebot. Aber die Sozialarbeit lebt naturgemäß – sonst hieße sie nicht „sozial“ – von der Staatsknete. Sicher darf die Standesvertretung nicht selber die Vergabe öffentlicher Mittel präjudizieren können – sonst wären, beim bekannten Appetit der „Betroffenen“, die Kassen bald leer.
Aber es bedarf einer gegenseitigen institutionellen Repräsentation von staatlicher Hoheit und fachlicher Kompetenz. Und tatsächlich gibt es ein solches gegenseitiges Vertretungsorgan, in dem die Soziale Arbeit als Berufsstand öffentlich-rechtlich anerkannt ist: nämlich die bisherigen Jugendwohlfahrtsausschüsse, in denen den Freien Trägern eine bestimmte Quote gesetzlich garantiert ist.
Nun wäre ein weiterer Schritt fällig. Während nämlich bislang die Vertreter der freien Sozialarbeit (einvernehmlich) von der staatlichen Seite – den Vertretungskörperschaften – ausgewählt werden, müsste die Standesorganisation der Sozialarbeiter – nennen wir sie mal Jugendhilfetag – dann ihr Vertreter selber wählen können. Dazu müsste sie aber erstmal in sich selber repräsentativ verfasst sein – und das heißt paritätisch (was die Fünferbande der großen Wohlfahrtskonzerne nicht gerne hören wird). Über die genaue Definition der rechtlichen und fiskalischen Kompetenzen dieses neuen Kinder- und Jugendhilfeausschusses lassen sich später noch genug Haare spalten.
An dieser Stelle ist nur eins festzuhalten: Die Berufsvertretung der der Sozialarbeiter hat nicht selber in die Kasse zu greifen, sondern sie hat vielmehr der Politik die fachlichen Parameter zu liefern, nach denen jene „verteilt“. Der Unterschied zu heute wäre beträchtlich: Die Parameter sind dann sachlich qualifiziert, weil und insofern sie aus einer repräsentativen Quelle stammen.
Ein tiefer Schnitt
Soll das System der Jugend-Sozialarbeit nicht an Herzverfettung kollabieren, dann muss die Spirale von Spezialisierung und Bürokratisierung jetzt zerbrochen werden. In die soziale Arbeit müssen Unternehmungsgeist und Eigenverantwortung einkehren. Quacksalberei am Detail hilft nichts. Es muss ein tiefer Schnitt getan, es muss das Ruder herumgeworfen, es muss – neu angefangen werden.
Es ist absurd, dass ein Kind und seine Familie einem „helfenden Berater“ Zutritt zu ihrem Privatleben gewähren sollen, der zuvor der Hoheit und ihrem Fiskus seine besondere Treue gelobt hat. Und es ist absurd, dass ein Beruf, der wie kein anderer vom persönlichen Einsatz lebt, ausgerechnet in einem Apparat ausgeübt wird, dessen Raison d’être dies ist, dass er individuelle Entscheidungen zu unpersönlichen „Vorgängen“ versachlicht und objektiviert.
Über die Einzelheiten zu streiten wird noch reichlich Gelegenheit sein. Das Kammer-Modell hat sicher auch seine Tücken; und ob die Jugendwohlfahrtsausschüsse überhaupt wiederbelebungsfähig sind, mag bezweifelt werden. Aber an der Richtung kann es keinen Zweifel mehr geben. Der hier vorgetragene Plan hat den unbequemen Vorzug, gänzlich machbar zu sein – und sogar schon auf der bloßen Länderebene.
Wer diesen Weg nicht gehen will, muss sagen, welchen sonst – oder sich aus der Sache raushalten. Denn bloßes Drumrumreden geht nun jedenfalls nicht mehr.
*) Hing damals wirklich in der Luft. Aber das war in Ostdeutschland. Danach kam die Wiedervereinigung, die hätte "alles möglich" werden lassen können. Das ließ meinen damaligen Vorschlag realistisch erscheinen. [Dez. 2013]
Wenn daran etwas veraltet ist, betrifft es nur beiläufige Einzelheiten. In der Sache ist es so aktuell wie am ersten Tag - vor einem Vierteljahrhundert.
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